Italien im fünften Jahrhundert

[625] Die Geschichte der Griechen Italiens ist in denselben Bahnen verlaufen wie die Siziliens, mit der sie aufs engste verflochten ist; nur fehlen die großen entscheidenden Kämpfe. Die Etruskergefahr ist durch das Eingreifen von Syrakus endgültig abgewiesen worden. Die Niederlage durch die Iapyger (o. S. 600) war für Tarent zwar ein schwerer Schlag, aber die Existenz der Stadt konnte sie nicht gefährden; wie es scheint, wurde sie einige Jahre später durch einen großen Sieg über die Peuketier und Iapyger ausgeglichen, den Tarent durch ein glänzendes Weihgeschenk nach Delphi verherrlichte742. Seitdem hatten, so schien es, die Griechen Italiens eine ernste Gefahr von auswärts so wenig zu befürchten wie die sizilischen Städte. An der Westküste war Rom mit Kyme und Sizilien nahe befreundet und eine Stütze der hellenischen Politik. An Übergriffe konnte es nicht denken; es mußte froh sein, [625] wenn es die durch Spurius Cassius (Bd. III2 S. 754 begründete Suprematie über Latium einigermaßen behauptete und sich der Angriffe der Etrusker von Veji und der Äquer und Volsker in den Bergen erwehren konnte. Bedenklicher waren die Bewegungen bei den rohen, aber kriegerischen sabellischen Bergstämmen, denen ihre Heimat zu eng wird. Seit der Mitte des Jahrhunderts können wir das Vordringen der Lukaner nach Süden gegen das alte Choner- und Önotrerland verfolgen743; die Griechen selbst hatten ihnen durch die Zerstörung von Siris (u. S. 674, 2) und Sybaris den Weg freigemacht. Etwa um dieselbe Zeit mögen die Angriffe der Sabeller gegen die Etruskerstädte der kampanischen Ebene begonnen haben. In Kyme und Neapel wird man sie zunächst als Bundesgenossen begrüßt haben; wie hätte man vermuten sollen, daß die Barbaren aus den Bergen den kriegsgeübten, stark befestigten Griechenstädten gefährlich werden könnten? Der griechische Handel mit Italien und die Einwirkung der griechischen Kultur mehren sich ständig; und immer bedeutender tritt auch hier die Stellung Athens hervor. Die Erbschaft Phokäas und Milets fällt ihm zu; es beherrscht den Import nach den Etruskerstädten Toskanas wie nach Adria und Spina an der Pomündung; nicht minder dominieren die attischen Vasen in den Gräbern von Kyme und Nola in Kampanien. Dafür fanden die etruskischen Metallarbeiten, Trinkschalen, Trompeten, Hausrat aller Art in Griechenland und speziell in Athen starken Absatz. Wie die griechische Kunst und Literatur auf den etruskischen Adel gewirkt hat, ist früher geschildert. Nicht anders war es in Rom. Als man sich hier im Jahre 444 entschloß, das Landrecht zu kodifizieren und den modernen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten, sandte man eine Kommission nach Griechenland, das dortige Recht zu studieren. Sie hat sich vor allem nach Athen gewandt und zahlreiche Sätze aus dem Solonischen Recht entlehnt744. Außerdem soll sie sich der Hilfe eines vornehmen Verbannten aus Ephesos, Hermodoros, des Freundes [626] des Heraklit (u. S. 857), bedient haben, der sie nach Rom begleitete. Ähnliche Einwirkungen werden in Apulien und bei den sabellischen Stämmen nicht gefehlt haben; erscheinen doch unter den Pythagoreern nicht wenige Lukaner.

Im übrigen ist die Geschichte Großgriechenlands auch im 5. Jahrhundert für uns fast ein leeres Blatt. In friedlichen Verhältnissen, ohne äußeren Feind, mußte in den fruchtbaren Küstenstrichen Unteritaliens Wohlstand und Volkszahl in ähnlicher Weise wachsen wie in Sizilien745 – wenn dies auch dank dem weit ausgedehnteren Kulturland an der Südküste Italien bald überflügelte. Aber überall wurde die gedeihliche Entwicklung durchkreuzt durch innere Kämpfe und durch den ewigen Hader zwischen den Nachbarn. Das Anwachsen der ärmeren Bevölkerung in den Städten hatte schon im 6. Jahrhundert zu demokratischen Erhebungen und zur Tyrannis, und auf der anderen Seite in Kroton zur Organisation der zur Herrschaft berufenen »Besten« in dem Pythagoreerorden geführt, der sich von hier aus in andere Städte, namentlich wie es scheint nach Metapont, vielleicht auch nach Tarent verbreitete. Der Meister selbst soll bald nach dem Fall von Sybaris vor der demokratischen Opposition unter Kylon aus Kroton haben weichen müssen (Bd. III2 S. 761; aber seine Jünger behaupteten sich noch längere Zeit, allerdings unter fortwährenden Kämpfen mit der Gegenpartei. Endlich, wie es scheint gegen die Mitte des 5. Jahrhunderts, kam es zu einem großen Volksaufstand; die Kyloneer steckten das Versammlungshaus der Pythagoreer in Brand. Von den hier Versammelten entkamen nur Lysis und Archippos; alle anderen, etwa vierzig, fanden in den Flammen den Tod. Von Kroton aus ergriff die Bewegung auch die übrigen Städte, vor allem wohl Metapont. »Überall in Großgriechenland«, sagt Polybios, »wurden die Synedrien der Pythagoreer verbrannt; die Folge war, wie natürlich, da die ersten Männer aus jeder Stadt auf so unerwartete Weise umgekommen waren, daß überall die größten Umwälzungen sich vollzogen und die Städte von Mord, Revolution und Unruhen aller Art erfüllt wurden.« Die Reste der Pythagoreer waren meist nach Rhegion geflüchtet und von hier aus in alle Welt [627] zerstreut – mehrere, so Lysis, haben in Theben Aufnahme gefunden. Von dem Verlauf der inneren Kämpfe wissen wir gar nichts. Endlich, nachdem die Stürme ausgetobt hatten, wandte man sich an das Mutterland Achaia, und die achäischen Gesandten haben durch geschickte Vermittlung bessere Zustände geschaffen746. Damals sind auch die Reste der Pythagoreer, etwa sechzig an Zahl, zurückberufen worden und zum Teil aufs neue zu bedeutendem Einfluß gelangt. Der Hauptsitz der Schule ist damals Tarent geworden.

Wieweit Tarent von diesen Erschütterungen ergriffen worden ist, wissen wir nicht. Hier war schon nach der Niederlage durch die Iapyger, in der die Blüte der waffenfähigen Jugend den Tod gefunden hatte, der Zensus beseitigt und die reine Demokratie eingeführt worden. Doch verstanden es bei dem starken Aufschwung, den hier Handel und Wohlstand nahmen, die Reichen, tatsächlich das Regiment zu behaupten und durch systematische Wohltätigkeit sowie durch eine Scheidung der Ämter in erloste Scheinämter und politisch wichtige Wahlämter die Massen in der Hand zu behalten747. So glichen sich die Wirkungen der Niederlage durch die Iapyger bald wieder aus: Tarent wurde die blühendste und volkreichste [628] Stadt und der Haupthandelsplatz Unteritaliens, seine Macht erstreckte sich weithin über die Küsten des Tarentinischen Golfs. – In Rhegion nahmen nach dem Sturz der Tyrannis die Wirren kein Ende. Dagegen behauptete sich in Lokri mit dem Recht des Zaleukos auch die alte Zucht und die aristokratische Staatsordnung748. – Die Kämpfe der Gemeinden miteinander sind zum Teil schon in der sizilischen Geschichte er wähnt worden. Zwischen Lokri und Rhegion war der Haß alt und unbesiegbar. Solange die Tyrannis bestand, war Rhegion der mächtigere Staat (o. S. 590); dann aber wuchs die Bedeutung von Lokri, das sich eng an Syrakus anschloß. Im übrigen suchte die Stadt ihre Herrschaft über Hipponion, Medma, Temesa an der Westküste zu behaupten oder wiederherzustellen. Auch gegen Kroton wird der alte Gegensatz fortbestanden haben. Die Neigung zum Anschluß an Syrakus scheint in der Tyrannenzeit auch in Kroton hervorgetreten zu sein. Wenigstens hören wir, daß der Wettläufer Astylos von Kroton, der in Olympia in den Jahren 488, 484, 480 den Preis gewann, sich bei den beiden letzten Siegen dem Hieron zulieb als Syrakusaner ausrufen ließ; deshalb hätten allerdings die Krotoniaten seine Statue umgestoßen und sein Haus in ein Gefängnis umgewandelt – offenbar als die Stimmung umschlug, vielleicht seitdem Hieron mit Lokri in enge Beziehungen trat749. – Friedlicher mag es im Westen, in Kyme und Neapel, hergegangen sein. Der höchste Ruhm aber fällt der kleinen Stadt Elea (Hyela) zu (Bd. III2 S. 656, wo die Reste der tapferen Phokäer sich nicht nur gegen die überlegenen Kräfte ihrer nördlichen Nachbarstadt Posidonia und gegen die Lukaner siegreich behaupteten, sondern auch ein Gemeinwesen schufen, in dem die größten Denker der Zeit, Parmenides und Zeno, die Begründer der wissenschaftlichen Philosophie, sich heimisch fühlen und eine gesegnete Wirksamkeit ausüben konnten750.

[629] Auch das Leben und Treiben der italischen Städte war dem Siziliens gleichartig. In Luxus und üppigem Sinnengenuß wetteiferten sie miteinander. Wie stark vor allem Kroton, aber ebenso andere unteritalische Städte am nationalen Sport teilgenommen haben, wurde früher schon erwähnt (Bd. III2 S. 629. Für Sieger aus Kroton, Lokri, Metapont haben Simonides, Pindar, Bakchylides gedichtet. Die Götterkomödie muß auch in den Volkslustbarkeiten der italischen Städte heimisch gewesen sein; aus ihr sind im 3. Jahrhundert in Tarent die mythologischen Possen Rhinthons hervorgegangen. Orphische Geheimkulte und orphischer Seelenwanderungs- und Unsterblichkeitsglaube, Wundertäter und mystische Propheten sind in der Heimat des Pythagoreertums stets weit verbreitet gewesen; aber daneben hat Unteritalien anders als Sizilien wahre Philosophen erzeugt, nicht nur in den großen Denkern von Elea, sondern auch in den Kreisen der Pythagoreischen Schule. Unteritalische Dichter von Bedeutung kennen wir aus dieser Zeit nicht; dagegen gehört ihm einer der großen Künstler der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts an, der Maler und Bildhauer Pythagoras (u. S. 807). Von Geburt war er freilich ein Samier; vielleicht gehörte er zu denen, welche sich um 494 Zankles bemächtigten. Dann mag er an den Hof des Anaxilaos gegangen sein und vorwiegend in Rhegion gelebt haben; denn die Schriftsteller bezeichnen ihn allgemein als Rheginer. Gearbeitet hat er vor allem für Sieger aus dem Westen, ferner Götterbilder für Syrakus und Tarent; doch ist er auch im Mutterland, z.B. für Theben, tätig gewesen und hat olympische Sieger aus Arkadien und Kyrene dargestellt751. – Die nächste Generation hat dann Zeuxis, den Maler aus Heraklea in Unteritalien, hervorgebracht. – Für die Gesamtentwicklung Italiens war entscheidend, daß sich hier in der Rivalität der einzelnen Gemeinden eine dominierende Macht nicht gebildet hat. Aus dem Schutz, den die Tyrannen von Syrakus den [630] Griechen Italiens gewährt haben, hätte sich bei längerem Bestand ihrer Macht eine politische Herrschaft entwickeln können; nach ihrem Sturz blieb Italien wieder im wesentlichen sich selbst überlassen. So bestand für fremde Mächte ein starker Anreiz, einzugreifen und Unteritalien ihren Interessen dienstbar zu machen. Zunächst hat das, früher noch als in Sizilien, Athen versucht. Bereits Themistokles hatte die Blicke nach Italien gerichtet (o. S. 481); der Erbe seiner Gedanken, die Perikleische Demokratie, hat, sobald sie die Hände freibekam, auch hier seine Pläne aufgenommen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 625-631.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Flegeljahre. Eine Biographie

Flegeljahre. Eine Biographie

Ein reicher Mann aus Haßlau hat sein verklausuliertes Testament mit aberwitzigen Auflagen für die Erben versehen. Mindestens eine Träne muss dem Verstorbenen nachgeweint werden, gemeinsame Wohnung soll bezogen werden und so unterschiedliche Berufe wie der des Klavierstimmers, Gärtner und Pfarrers müssen erfolgreich ausgeübt werden, bevor die Erben an den begehrten Nachlass kommen.

386 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon