Sizilien unter der Herrschaft der Tyrannen

[592] Die Tyrannis in Sizilien, die des Theron und des Anaxilaos so gut wie die des Gelon und Hieron – und ebenso z.B. die des Aristodemos von Kyme –, beruhte auf einem starken Söldnerheer; sie trägt anders als die Herrschaft der älteren Tyrannen des Mutterlandes alle Züge einer Militärmonarchie. Den Siegen im offenen Felde verdankt sie die Begründung oder wenigstens die Befestigung ihrer Macht. Immer bleibt das militärische Kommando und die Sorge für die Truppen und Festungswerke ihre Hauptaufgabe; wenn Hieron, vom Stein geplagt, in den auswärtigen Kriegen die Führung seinem Bruder oder anderen Generälen überlassen mußte, so hat er auf Sizilien sein Heer in der Sänfte begleitet. Am Hofe nahmen die hohen Offiziere die erste Stelle ein; zwei von ihnen, Aristonus und Chromios690, waren mit Gelons Schwestern vermählt. Sehr stark werden die dynastischen Interessen gepflegt. Die Tyrannen wissen, wie schwer es ist, die Usurpation in eine legitime Monarchie umzuwandeln; daher suchen sie ihre Familien möglichst zu heben, die Häuser des Ainesidemos und des Deinomenes, der Väter des Theron und Gelon, als auserwählt und gottbegnadet hinzustellen. Neben Theron steht sein Bruder Xenokrates, der durch Siege bei den panhellenischen Wettrennen den Ruhm des Herrschers mehrte; bei den Isthmiern haben sich beide zusammen als Sieger ausrufen lassen691. Dem Gelon standen drei Brüder zur Seite, Hieron, Polyzelos und Thrasybulos. Nach außen traten sie überall in schönster Eintracht auf; ihrer [592] aller Namen verkünden die Weihgeschenke von Delphi, die Dichter preisen in den Lobgesängen für Hierons Siege im Rennsport mit Vorliebe »die Söhne des Deinomenes«, auch auf ihn fällt der Abglanz der Taten Gelons692. In Wirklichkeit freilich konnten Gegensätze und Reibungen nicht ausbleiben. Gelon hatte sterbend das Reich dem Hieron übergeben, aber dem Polyzelos mit der Hand seiner Gemahlin Damarete, Therons Tochter, das Oberkommando über die Streitkräfte verliehen. Hieron wünschte seinem eigenen Sohn Deinomenes die Nachfolge zu verschaffen, während seine Brüder sie für sich erstrebten. Darüber kam es alsbald zum Zerwürfnis; Hieron, der Polyzelos' militärische Stellung nur ungern ertrug, soll versucht haben, ihm bei der Hilfesendung nach Sybaris den Untergang zu bereiten. Polyzelos wandte sich an Theron, der jetzt zugleich sein Schwiegersohn und Schwiegervater war. Dadurch kam es zum Bruch auch zwischen den beiden Staaten, welche gemeinsam die Karthagergefahr abgewehrt hatten; Theron mochte das Übergewicht des Königs von Syrakus schon lange nur ungern ertragen haben. Aber Himera, wo sein Sohn Thrasydäos ein drückendes Regiment führte, knüpfte Verhandlungen mit Hieron an; zwei Vettern Therons, Hippokrates und Kapys, empörten sich gegen ihn. Trotzdem ging Theron zum Angriff vor. Schon lagen sich die Heere am Fluß Gela gegenüber, als es dem Dichter Simonides gelang, den Frieden herzustellen; er mochte beiden Herrschern vorstellen, wie leicht der Kampf die Revolution entfesseln und beide den Thron kosten könne (476 v. Chr.). Hieron nahm Polyzelos zu Gnaden auf; Himera wurde der Rache Therons überlassen, die rebellischen Vettern, die hier Zuflucht gesucht hatten, von ihm besiegt693.

Wie im Mutterlande sind auch in Sizilien und Unteritalien die Tyrannen meist im Gegensatz zur Oligarchie emporgekommen – nach Syrakus allerdings haben die Gamoren selbst, vom Volk [593] bedrängt, den Gelon geführt; zur Herrschaft gelangt, suchten sie zwar die materiellen Ansprüche der Massen, namentlich die des Landvolks, zu befriedigen, aber zugleich sie im Zaum zu halten und in konservative Bahnen einzulenken. Dadurch hatten in Athen die Pisistratiden einen Teil des Adels dauernd für sich gewonnen. Auch die sizilischen Tyrannen sind nicht anders verfahren; aber hier sind die Gegensätze schärfer, die Aufgaben größer geworden. Von einem Paktieren mit der Demokratie ist bei ihnen nicht mehr die Rede. Die Massen sind aufgeregt, begehrlich, immer zu Revolutionen geneigt; ihnen gegenüber sucht das Königtum seine Stütze ausschließlich im Heer und in den konservativen Elementen. In mehr als einer Beziehung erinnern sie an die Zeiten des zweiten französischen Kaiserreichs. Gelon »hielt das Volk für die unangenehmste Mitbewohnerschaft«, sagt Herodot; in Megara und Euböa hat er die Besitzenden begnadigt und in die Bürgerschaft von Syrakus aufgenommen, den Demos dagegen, »obwohl er am Kriege unschuldig war und daher auch nichts Schlimmes für sich erwartete«, in die Sklaverei verkauft. »Nach dorischer Ordnung, mit gottbegründeter Freiheit«, d.h. auf aristokratischer Grundlage, hat Hieron seine Neuschöpfung, die Stadt Ätna, begründet (Pind. Pyth. 1, 117). Die älteren Tyrannen waren meist adliger Abstammung; bei Gelon und Theron ist das sehr fraglich, denn von den Ahnen des Deinomenes ist nie die Rede, und Therons Stammbaum, der ihn auf die kadmeischen Könige Thebens zurückführt, dürfte erst von seinen Hofgenealogen fabriziert sein. Aber sie wollen echte Adlige sein und die Ideale der Aristokratie verwirklichen. So lebt an ihren Höfen das Treiben der Adelszeit noch einmal wieder auf, in einer Zeit, wo es sonst überall dahinsank. Mit Eifer pflegen sie die Rossezucht und den nationalen Sport – auch auf die Münzen setzt man gern Viergespanne (vgl. Bd. III2 S. 765) zur Erinnerung an die gewonnenen Siege –, freigebig spenden sie jedem, der an ihren Hof kommt, vor allem den Dichtern, die ihre Taten verherrlichen. Simonides, ehemals der Günstling des Polykrates, des Hipparchos, des Skopas, daneben von der athenischen Demokratie hochgeehrt, hat seine letzten Jahre an Hierons Hof zugebracht und hier auch eine politische Rolle gespielt [594] (o. S. 593); seinem Neffen Bakchylides hat er hier die Wege geebnet. Sein Rivale war Pindar, der seit langem mit Therons Hause, seit 476 auch mit Hieron in Verbindung stand und in den folgenden Jahren glänzende Briefe, Preisgedichte und Siegesgesänge sandte, in denen er, wenn er auch weder aus seiner Erwartung einer reichen Belohnung noch aus der Geringschätzung seiner Rivalen ein Hehl macht, doch stets seine Selbständigkeit und den Adel seiner Gesinnung wahrt. Er hat in seine Gesänge Ermahnungen eingeflochten, wie sie nur ein Dichterwagen konnte, der sich den Mächtigen dieser Erde ebenbürtig fühlt und als der überlegene Künder der höchsten Gedanken, welche das Menschenschicksal bewegen, anerkannt ist. Auch Äschylos ist bei Hieron gewesen und hat an seinem Hof die »Perser« aufgeführt. Die ersten Künstler der Zeit, Kalamis und der Äginete Onatas, arbeiteten die Weihgeschenke für Hierons Siege in Olympia (u. S. 807). Prächtige Tempelbauten gaben Zeugnis zugleich von der Frömmigkeit und der Kunstliebe und Macht der Herrscher. Auch ihre Münzen beweisen, welches Interesse sie der Entwicklung der Kunst zugewandt haben.

So standen die Höfe von Syrakus und Agrigent hinter keinem der älteren Fürstenhöfe zurück. Und doch ist dies ganze Treiben nur Schein, dem die wirkliche Grundlage im Leben fehlt. Das sizilische Königtum ist seinem Ursprung wie seinem Wesen nach durchaus revolutionär, auch wenn es den Umsturz bekämpft; es kann seinen modernen Charakter wohl verhüllen, aber nicht aus der Welt schaffen. Ein starkes Heer und ein wohlgefüllter Schatz bilden seine Grundlage, nicht die patriarchalischen Ordnungen der alten Zeit. Es möchte sich mit einem konstitutionellen Mantel umhüllen, als getragen von der allgemeinen Zustimmung des Volkes hinstellen: »Hieron der Sohn des Deinomenes und die Syrakusier dem Zeus Tyrrhenerwaffen von Kyme« lautet die Inschrift eines nach Olympia geweihten Helms aus der Beute von Kyme. Die verfassungsmäßigen Formen wird man nach Möglichkeit beobachtet haben wie andere Tyrannen auch (o. S. 590, 1). Aber an Konflikten fehlte es nie. Die Herrscher selbst empfanden es am schwersten. Hieron, kränklich und verbittert, ist seines Lebens nie froh [595] geworden. Er wußte, wie viele heimliche Gegner er hatte, und konnte der Spione und der Bluturteile nicht entbehren; von der anderen Seite drängten sich die Schmeichler gewaltig an ihn heran, die ihm nach dem Munde redeten694. Theron scheint, wenn wir aus einem Gedichte Pindars so viel folgern dürfen, die Sorge um das zukünftige Leben und das Strafgericht der Ananke, das der Menschen in der Unterwelt wartet (Bd. III2 S. 686, gequält zu haben – demgegenüber deutet Pindar an, daß der Herrscher, der in dreimaliger Wiedergeburt die Seele von allem Unrecht völlig ferngehalten, »den Pfad des Zeus einschlagen werde zu Kronos' Burg«, und hier auf den Inseln der Seligen, draußen im Ozean, einem seligen Leben entgegengehe wie die Heroen der Vorzeit. – Aber auf Erden konnten die Tyrannen sich dem Zwange ihrer Stellung nicht entziehen; immer aufs neue mußten sie gewaltsam dreingreifen, um ihren Staaten Konsistenz und Dauer zu verleihen. Ein Moment kommt hinzu, das für die Entwicklung Siziliens allezeit charakteristisch und verhängnisvoll gewesen ist: die rücksichtslose Gewaltsamkeit, die sich aus seinem Charakter als Kolonialland ergab. Es fehlte das Verwachsensein mit dem heimatlichen Boden, die stetige, naturwüchsige Entwicklung. Die Städte waren künstliche Schöpfungen, vor wenig Jahrhunderten, Agrigent sogar erst vor hundert Jahren angelegt, rasch zu großem Wohlstand und bedeutender Macht emporgeblüht; in ihnen lebten neben den Nachkommen der alten Kolonisten die späteren Zuzügler und die halb hellenisierte, oft in drückender Abhängigkeit gehaltene einheimische Bevölkerung, alle in heftigem Widerstreit der Interessen. Das alles konnte auch anders sein; das einzelne Gemeinwesen ermangelte der Individualität, es erweckte keine Ehrfurcht, wie die seit Urzeiten bestehenden, von Göttern und Göttersöhnen begründeten und geordneten Städte des Mutterlandes und selbst der kleinasiatischen Küste. So erwacht immer von neuem der Trieb, die historische Kontinuität zu durchbrechen, von neuem zu beginnen, [596] die alten Verhältnisse, wo sie lästig und unzureichend erschienen, über den Haufen zu werfen. Im Mutterlande galt es als schwerer Frevel, eine Stadt zu zerstören; in Sizilien hat man nie Bedenken getragen, ein Gemeinwesen zu vernichten, nicht nur im Kriege, sondern wann immer die politischen Interessen es ratsam erscheinen ließen.

Die moderne Zeit forderte die Konzentration aller Kräfte des Staats in einem Mittelpunkt und drängte auf die Großstadt hin. Diese Entwicklung haben die sizilischen Tyrannen mit allen Mitteln gefördert695. Gelon hat das spätere Syrakus geschaffen, indem er den langgestreckten, zum Teil schon vorher besiedelten Höhenrücken Achradina zu der Altstadt auf der Insel Ortygia zog und den größeren Teil der Bewohner Gelas, ebenso die Einwohner des zerstörten Kamarina und den Adel von Megara und Euböa hierher verpflanzte (Bd. III2 S. 766. Beide Stadtteile wurden stark befestigt, am Hafen auf einer kleinen Insel zwischen Altstadt und Festland das Arsenal und vermutlich auch die Kasernen angelegt; auf Ortygia lagen die Gestüte der Herrscher. Eine starke Besatzung hielt die Bürger in Unterwürfigkeit; auch die fremden Söldner, die auf mehr als zehntausend geschätzt werden – viele von ihnen stammten aus dem Peloponnes696, einen erheblichen Bestandteil bildeten wohl auch die Sikeler –, erhielten das Bürgerrecht und damit ohne Zweifel zugleich Grundbesitz. Große Leitungen versorgten die Stadt mit Wasser, sie wurde mit Tempeln und öffentlichen Bauten geschmückt. So groß der Umfang des Stadtgebiets war – er übertraf den Athens bei weitem –, so reichte er doch nicht aus; vor Achradina bildete sich die Vorstadt Tycha697. So entstand »die[597] Großstadt Syrakus, das Heiligtum des kriegsmächtigen Ares, die gewaltige Ernährerin eisengepanzerter Männer und Rosse» (Pind. Pyth. 2, 1). In ähnlicher Weise wurde Agrigent, »die schönste der Städte der Menschen« (Pind. Pyth. 12, 2), von Theron mit den zahlreichen durch die Gefangenen der Himeraschlacht gewonnenen Arbeitskräften ausgebaut. Das ganze von Hügeln umschlossene Plateau zwischen den Flüssen Akragas und Hypsas, ein Areal von fast derselben Größe wie das Themistokleische Athen, zog er zur Stadt und umschloß es mit einem Mauerring. Auf dem steil abfallenden Höhenzug, der sie im Süden begrenzt, erhoben sich gewaltige Tempel, Wasserleitungen und unterirdische Kanäle durchzogen die Stadt, an der tiefsten Stelle wurde ein prächtiges Bassin angelegt698. Ebenso, nur mit noch größerer Gewaltsamkeit, ist das neue Messana an Stelle des alten Zankle durch Anaxilaos geschaffen worden (Bd. III2 S. 765. Daneben stehen zahlreiche andere Umwälzungen. Himera wurde von Theron nach dem schweren Strafgericht, das er über die Stadt verhängte (o. S. 593), mit Doriern aus Sizilien und anderen Fremden, dis sich herandrängten, neu besiedelt. Um dieselbe Zeit (476/5) hat Hieron die Bewohner von Katana und Naxos nach Leontini übergeführt. Das Gebiet von Naxos, an der Grenze des Fürstentums von Rhegion und Messana, blieb verödet, an der Stelle von Katana dagegen gründete er eine neue Großstadt Ätna, die zehntausend Bürger enthalten sollte. Die Hälfte der neuen Besiedler mußte Syrakus abgeben, die übrigen waren im Peloponnes angeworbene Kolonisten699. Zum Regenten der Stadt bestellte er unter der Vormundschaft seiner Schwäger Aristonus und Chromios seinen Sohn Deinomenes700; er selbst genoß als Ökist heroische Ehren701. Pindar wird nicht müde, die neue Gründung zu preisen, Äschylos verherrlichte sie in einem [598] Drama. Durch diese Maßregeln ist die Herrschaft des Doriertums auf der Insel vollendet worden. Leontini war fortan die einzige Ionierstadt; im Binnenland gelegen, schien es von Syrakus leicht in Abhängigkeit zu halten. Auch die Hellenisierung der einheimischen Bevölkerung schritt stetig fort. Die Sikaner waren meist Selinus und Agrigent, von den Sikelern der größte Teil – mit Ausnahme der Nordküste – Syrakus untertan; die Unterwerfung und Zerstörung einzelner Städte, die Transplantationen, die Aufnahme in die Söldnerheere der Tyrannen begünstigten die Verschmelzung mit der herrschenden Bevölkerung. Auf der anderen Seite haben diese gewaltsamen Umwälzungen die allgemeine Unsicherheit der Verhältnisse wesentlich gefördert; bei jeder politischen Revolution drohte ein verhängnisvoller Rückschlag.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 592-599.
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