Der Kampf um die Stellung der Bündner. Ostrakismos des Thukydides

[689] Die großen Bauten dienten zugleich der Verherrlichung Athens und der Erfüllung der praktischen Forderungen des demokratischen Programms, der Beschäftigung und Versorgung der Massen durch den Staat. Sie waren im eminenten Sinne eine soziale Maßregel; die gesamte Bevölkerung Athens, arm und reich, zog von ihnen Gewinn. »Da waren«, erzählt Plutarch, »Zimmerleute, Bildhauer, Steinmetzen, Erzgießer, Färber, Goldgießer, Elfenbeinarbeiter, Maler, Sticker, Graveure, ferner alle die, welche mit der Beschaffung des Baumaterials zu tun hatten, zur See Kaufleute, Schiffer und Steuerleute, zu Land Wagenbauer, Fuhrleute, Kutscher, Seiler, Leineweber, Lederarbeiter, Wegebauer, Bergleute. Jedes dieser Gewerbe hatte wieder, wie ein Feldherr sein Heer, die Massen der Tagelöhner und Handlanger als ausführendes Werkzeug in seinen Diensten, und so erhielt jedes Alter und jeder Beruf seinen Anteil an der Arbeit und am Wohlstand.« An Popularität konnte es den neuen Unternehmungen und ihrem Urheber nicht fehlen; sie haben dem Perikles hinweggeholfen über die Mißerfolge der äußeren Politik und die Zeit seiner Staatsleitung schon den [689] Zeitgenossen und mehr noch der Nachwelt im hellsten Glanz erstrahlen lassen, vor dem alle Schatten schwinden. Aber eine andere Frage war es, ob sie, ob das ganze Programm des Perikles politisch und sittlich gerechtfertigt sei. Waren seine Bauten nicht eine leichtfertige Verschleuderung der Einnahmen und des für Zeiten der Not unentbehrlichen Götterschatzes? Und hatte man irgendein Recht, die Gelder, welche man die Bundesgenossen zu zahlen zwang, in dieser Weise ihrem alleinigen Zweck, dem Krieg, der Abwehr der Barbaren, zu entziehen? Hatte doch Perikles selbst durch den Friedensschluß mit Persien der Stellung Athens zu den Bündnern den Boden unter den Füßen weggezogen; hatte man da überhaupt noch ein Recht, den Tribut zu erheben, war man nicht zum mindesten verpflichtet, die Kasse jetzt, wo keine Gefahr mehr bestand, nach Delos zurückzuverlegen und die eingehenden Gelder sorgsam aufzuheben, bis wieder der Moment kam, wo man sie brauchte? War es nicht die Verleugnung aller richtigen und freiheitlichen Grundsätze, die offene Aufrichtung einer Gewaltherrschaft vor den Augen von ganz Hellas, so arg wie die eben abgewehrte Herrschaft der Barbaren, wenn man die Bundessteuern verwendete, Athen zu vergolden und mit kostbarem Gestein, mit Götterbildern und Tempeln, die Tausende von Talenten kosteten, aufzuputzen wie ein eitles Weib? Dies war der Punkt, wo Thukydides und seine Anhänger einsetzten; von dem aus sie versuchen konnten, Perikles selbst und mit ihm sein ganzes System zu Fall zu bringen848.

[690] Es gab nicht wenige Athener, welche diesen Gedanken aus voller Überzeugung zustimmten und die Abwendung von der alten hellenischen Politik als verhängnisvoll und ungerecht verurteilten. In der Tat bezeichnete Perikles' bundesgenössische Politik den Abschluß der Entwicklung, welche wenige Jahre nach der Gründung des Bundes mit der Unterwerfung der ersten widersetzlichen Gemeinden begonnen hatte: die volle Umwandlung der Bündner in Untertanen, über die Athen schaltete, wie es wollte. Aber eben in ihrer Folgerichtigkeit und historischen Notwendigkeit lag auch die beste Verteidigung der Perikleischen Maßregeln. Aus eigenen Mitteln konnten die Bündner sich nicht verteidigen; wenn Athen sie freiließ, fielen sie notwendig unter die persische Herrschaft zurück. Für ihre Freiheit taten sie so gut wie nichts; mit Ausnahme von Samos, Chios und Lesbos, die darum auch ihre Unabhängigkeit behalten hatten, stellten sie keine Schiffe und auch Fußvolk nur in Ausnahmefällen. Die Verteidigung lag ausschließlich auf Athen; dafür zahlten ihm die Bündner Tribut. Solange Athen seine Leistungen erfüllte – und das tat es in vollem Maße, ja seit dem Abkommen von Susa, das den Griechen zu der Freiheit den Frieden gab, in noch höherem Grade als vorher –, wer konnte da von ihm Rechenschaft fordern, wozu es die Gelder verwendete? Seine Wehrkraft war in vollem Stande, jeden Versuch, den Persien wagen würde, die hellenische Freiheit anzutasten, konnte es sofort mit Übermacht zurückweisen; welche bessere Verwendung seiner rechtmäßigen Einnahmen war da denkbar als eine, welche der Stadt ewigen Glanz und Ruhm verschaffte, jedem Athener Anteil an dem mit dem eigenen Blute erkauften Gewinne gab und so dem ganzen Volk zu Beschäftigung und Wohlstand verhalf? Wenn die Besitzenden und Vornehmen in der neuen Politik die demokratische Umgestaltung des Staats bekämpften, so hatten die Massen um so mehr Grund, an ihr festzuhalten – und sie mußten schließlich die Entscheidung bringen. Aber es waren doch [691] nicht nur materielle Interessen, welche zugunsten des Perikles den Ausschlag gaben; sein Sieg war zugleich eine historische Notwendigkeit. Auch völlig unabhängige, wohlhabende, im Grunde konservative Männer wie Sophokles haben sich ihm angeschlossen, und selbst unter den Bundesgenossen haben viele die Unvermeidlichkeit der neuen Gestaltung anerkannt, manche wie Herodot von Halikarnaß sich mit voller Begeisterung auf seine Seite gestellt. Die Zeit der Kleinstaaterei war unwiederbringlich vorbei, eine selbständige, unabhängige Existenz der Hunderte von Gemeinden, welche das attische Reich bildeten, war für alle Zukunft unmöglich geworden; sie konnten – und hier hat die folgende Entwicklung den vollen Beweis geführt – nur Untertanen sein, entweder Persiens oder aber einer griechischen Vormacht. Sollte Griechenland und die griechische Kultur sich als selbständige Macht in der Welt behaupten, so konnte es nur unter der Herrschaft einer griechischen Großmacht, in einem wie immer gestalteten griechischen Reich geschehen. Durch die Halbheit und die innere Unhaltbarkeit ihres Programms war die Partei des Thukydides verurteilt; sie mußte unterliegen. Die Verfassungsänderung rückgängig zu machen, war sie viel zu schwach; mit diesen Gedan ken, die doch ihr letztes Ziel waren, durfte sie sich gar nicht hervorwagen. Den Krieg wieder aufzunehmen, wenn sie ans Regiment kam, konnte ihr erst recht nicht in den Sinn kommen, mochte sie auch, solange sie in der Opposition stand, die Friedenspolitik noch so sehr verurteilen. Wie wäre es aber denkbar gewesen, daß irgendeine athenische Regierung die Bündner aus der Abhängigkeit entließ oder. zu den Zuständen von 477 zurückkehrte? Allerdings, daß Athens Stellung zu den Bundesgenossen tatsächlich eine Gewaltherrschaft, eine Tyrannis war, bestritt auch Perikles nicht; aber das wurde sie nicht erst durch seine Maßregeln, sie war es vielmehr schon seit langem, unter Kimon nicht minder als gegenwärtig; wie konnte Athen seine Herrschaft freiwillig aufgeben, ohne sich ins Verderben zu stürzen? Auch wenn Thukydides und seine Anhänger die Regierung übernahmen, konnten sie gar nicht anders als mit geringen Modifikationen die Politik des Perikles fortsetzen; die halben und unsicheren Maßregeln, die sie [692] hätten ergreifen müssen, wären in den Augen der Gegner Athens um nichts besser, wohl aber für Athen und damit für ganz Griechenland weit verhängnisvoller gewesen als die konsequente Politik, die Perikles vertrat.

Jahrelang haben die beiden Parteien miteinander gerungen. Wohl gelang den Gegnern hie und da ein Erfolg, namentlich in Personalfragen, so in der Verurteilung des Kallias, in der Ostrakisierung des Damon. Aber irgendeine der Maßregeln des Perikles zu hindern oder gar rückgängig zu machen, vermochten sie nicht, weder die Anlage der Kleruchien noch die Ausführung der Bauten. Schließlich fiel im Frühjahr 443 die Entscheidung: durch den Ostrakismos wurde Thukydides auf zehn Jahre des Landes verwiesen849. Damit war der Versuch einer aristokratischen Restauration beseitigt und Perikles' Herrschaft dauernd gefestigt. Auch äußerlich brachte man jetzt zum Ausdruck, daß die Bündner zu Untertanen Athens geworden waren: man teilte das attische Reich in fünf Provinzen, Ionien einschließlich der äolischen Städte auf dem Festland, Karien, den Hellespont (die Meerengen mit der Propontis), Thrakien, die Inseln. Die neue Organisation diente vor allem der Erhebung der Tribute; deshalb wurden mit der Ausführung die Hellenotamien des Jahres 443/2 beauftragt, deren Vorsitz kein Geringerer führte als der damals auf der Höhe seines Lebens stehende Tragiker Sophokles. Um die Arbeit zu bewältigen, gab man dem Kollegium für dies Jahr neben dem ständigen noch einen außerordentlichen Sekretär, Satyros von Leukonoe, der auch im nächsten Jahr noch im Amt blieb. Neben der finanziellen Organisation – vielleicht auch in Zollsachen – hat die Provinzeinteilung zugleich administrativen Zwecken gedient; so gab es z.B. für Thrakien Bestimmungen über die Verpflichtung der Städte zu schleuniger Hilfeleistung im Falle eines feindlichen Angriffs850. Im [693] übrigen fehlt uns hier alle weitere Kunde. Nur das wissen wir, daß zugleich der Bestand des Bundesgebiets nach außen definitiv abgeschlossen wurde. Während früher rebellische Städte nach ihrer Wiederunterwerfung unter die steuerpflichtigen Gemeinden aufgenommen wurden, ist das mit Samos 439 nicht geschehen, und ebensowenig sind die neuen Erwerbungen Athens am Pontos, selbst wenn sie Tribut zahlten, in das engere Bundesgebiet und die Steuerbezirke aufgenommen worden (u. S. 726,729). Daher erscheinen ihre Namen auch nicht in den Verzeichnissen der an Athena geweihten Abgaben vom Tribut. Der Grund mag gewesen sein, daß man für das Bundesgebiet an dem Normalsatz des Aristides festhalten wollte. Hätte man neue Mitglieder in den Bund aufgenommen, so hätte man dafür den Tribut anderer Städte herabsetzen müssen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 689-695.
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