Umwandlung des Bundes in ein Reich. Die attischen Kleruchien

[665] Die Leitung des Delischen Bundes hat von Anfang an in den Händen Athens gelegen; die Bundesversammlung auf Delos hat nie größere Bedeutung gehabt und ist spätestens mit der Verlegung der Kasse nach Athen im Jahr 454 ganz weggefallen. Mit den Bundesstaaten, die eine eigene Flotte hatten und daher keine Abgaben zahlten, ist teils durch Verträge, teils durch die verunglückten Rebellionsversuche gründlich aufgeräumt worden; jetzt waren nur noch Samos, Chios und die lesbischen Staaten Mytilene (dem Antissa, Eresos, Pyrrha und zahlreiche Orte in Troas untertan waren) und Methymna übrig. Sie allein gelten als autonom, so stark auch ihre Bewegungsfreiheit und selbst ihre Gerichtshoheit durch Athen beschränkt ist. Alle anderen Städte werden jetzt selbst in offiziellen Dokumenten als Untertanen Athens bezeichnet; statt vom Bundesgebiet (ξυμμαχίς IG. I2 10) redet man jetzt von »den Städten, über die die Athener herrschen«, nach [666] Aufständen fordert man den Treueid nicht mehr für Athen und die Bundesgenossen, wie noch von Erythrä (o. S. 472), sondern ausschließlich für das Volk von Athen, so 446 von den euböischen Städten807. In Athen schwören ihnen Rat und Richter (vgl. o. S. 543), wenn sie gehorsam sind, weder die Stadt zu zerstören, noch einen ihrer Bürger des Lebens oder des Eigentums und der bürgerlichen Ehren zu berauben, noch zu verbannen oder gefangenzusetzen ohne gerichtliches Verfahren. Aber die Souveränität des athenischen Demos bleibt ausdrücklich vorbehalten; er darf gegen sie verfahren, wie es ihm gutdünkt, wie Rom gegen die dediticii, die Gemeinden, die sich ihm auf Gnade und Ungnade ergeben haben, wenn er auch, falls sie sich wohlverhalten, von seinem Recht keinen Gebrauch machen wird. Nur daß sie vorher zur Verteidigung vorgeladen werden müssen, wird ihnen garantiert. – Athens Befehle gelten im Untertanengebiet unumschränkt; es übt die Gerichtsbarkeit aus (o. S. 467ff.), es fordert die Kontingente ein (vgl. o. S. 460, 1), es bestimmt die Höhe der Tribute; damit das nach Recht und Billigkeit geschehe, ist ihre Festsetzung dem Geschworenengericht überwiesen. Ferner erhebt Athen im Bundesgebiet Zölle808. An zahlreichen Orten liegen attische Garnisonen zur [667] Sicherung gegen äußere und innere Feinde. Überall hat Athen die demokratische Verfassung durchgeführt, so im Jahre 450 in Milet (o. S. 575), 446 auf Euböa; nur die freien Verbündeten, wie Samos und die lesbischen Städte, behielten ihre aristokratische Verfassung. Die Mauern der ionischen Städte sind niedergerissen, damit sie Athen keinen Widerstand leisten können – von Persien ist seit dem Kalliasfrieden keine Gefahr mehr zu befürchten. Um die inneren Verhältnisse der Städte zu kontrollieren, entsendet Athen Kommissionen von »Aufsehern« (ἐπίσκοποι), die nicht selten auch Recht sprechen809. – Nach Empörungen fehlte es nicht an Strafgerichten. Nach der Niederwerfung des euböischen Aufstandes im Jahr 446 wurden die Einwohner von Hestiäa an der Nordspitze der Insel, weil sie die Mannschaft eines genommenen attischen Schiffs umgebracht hatten, zur Auswanderung nach Makedonien gezwungen, ihre Feldmark für Athen eingezogen. In Chalkis und Eretria wurde der Adel, die Hippoboten, verjagt, ihr Grundbesitz in der Lelantischen Ebene, der schon einmal, in der Zeit von 507 bis 490, den Athenern gehört hatte, an Athen abgetreten. Die Insel erhielt eine Besatzung, die Städte mußten Geiseln stellen; im Jahr 442 hat man noch einmal die reichsten Leute aus Eretria als Geiseln nach Athen geholt, offenbar weil man neue Unruhen befürchtete. Auch sonst ist ein großer Teil des Grundbesitzes auf Euböa – wie ein Redner behauptet, mehr als zwei Drittel – attisches Eigentum geworden810. Ähnliche Landabtretungen hat Athen auch an anderen Orten erzwungen.

[668] Innerhalb des Bundesgebiets lagen die auswärtigen Besitzungen Athens. Die altattischen Kolonien in Sigeon, auf der Chersones, auf Lemnos und Imbros sind bei der Gründung des Bundes zu den Leistungen herangezogen worden und zahlen Tribut811; sie stehen daher zu Athen nicht anders als die Ionier in Kleinasien und auf den Inseln, die ja auch für Kolonien Athens galten. Die seit 476 neu erworbenen Gebiete dagegen, welche Athen kolonisiert hat, mochten sie nun dem Feind oder den Bundesgenossen selbst abgenommen sein, hat man anders behandelt: sie sind niemals Mitglieder des Bundes geworden, weder Eion am Strymon (475) und die 463 von Thasos abgetretenen Küstenplätze am Pangaion, noch Skyros (475) und die neuen Erwerbungen, wie die auf Euböa 446 oder z.B. Ägina 431. Vielmehr scheidet, was Athen den Bundesgenossen abnimmt, damit aus dem Bundesgebiet aus. Das Land wird mit attischen Bürgern besetzt, die ein Landlos erhalten (Kleruchen). Wo es sich um große Neugründungen handelte, [669] wie bei Amphipolis am Strymon 436, für die Athens Bevölkerung nicht ausreichte, hat man freilich auch Bundesgenossen in großer Zahl zur Ansiedlung herangezogen; trotzdem wird streng an dem Grundsatz festgehalten, daß diese Neugründungen Tochterstädte Athens sind, deren Bewohner anders als die altathenischen Kolonien die privilegierte Stellung der athenischen Bürger beibehalten. Abgaben mochten sie nach Athen zahlen – wenigstens Markt- und Hafenzölle wird Athen zweifellos in Eion und Amphipolis, auf Skyros, in Hestiäa u.a. erhoben haben –, aber Tribut wie die untertänigen Bündner zahlen sie nicht. Deutlicher ließ es sich nicht aussprechen, daß eine unüberbrückbare Kluft besteht zwischen dem herrschenden Athen und den tributären Gemeinden, denen es seinen Schutz gewährt.

Unter dem Regiment des Perikles ist die Anlage neuer Kleruchien energisch betrieben worden. Sie dienen, wie jede ähnliche Kolonisation, einem doppelten Zweck: einmal wird durch sie unkultiviertes Land, namentlich in Thrakien, erschlossen und zugleich Athens Machtstellung im Bundesgebiet gefestigt; in dieser Beziehung entsprechen die athenischen Kleruchien den latinischen Kolonien der Römer, sie sind Stützpunkte und Zwingburgen im Untertanenland. Sodann aber wird dadurch der ärmeren Bevölkerung eine Versorgung mit auskömmlichem Besitz gewährt und so zugleich die Position des leitenden Staatsmanns im Inneren gestärkt. Die Bestimmung des Volksbeschlusses über die Kolonie nach Brea in Thrakien, daß an derselben nur Zeugiten und Theten teilnehmen dürfen, wird für alle diese Ansiedlungen gegolten haben. Nur wenige von ihnen sind als völlig selbständige Städte konstituiert worden, namentlich diejenigen, bei denen auch Bundesgenossen und Fremde zugelassen wurden, wie Amphipolis und Brea. In der Regel dagegen verwalteten die Ansiedler zwar ihr Gemeinwesen selbst, hatten auch eigenes Militär und leisteten den Athenern im Krieg in derselben Weise Zuzug wie die Bundesgenossen; aber sie blieben im athenischen Phylenverband, sie standen unter der Leitung von Athen entsandter Beamten, sie fochten zwar in besonderen Kontingenten, aber die Gefallenen wurden auf den attischen Leichensteinen nach den Athenern aufgezählt, [670] genug, sie nahmen eine Mittelstellung ein zwischen selbständigen Gemeinden und Gliedern des attischen Staats. Hierher gehören die Kolonien Skyros, Lemnos, Imbros, Hestiäa u.a. Seit Perikles kommt eine zweite Gruppe von Kleruchien hinzu, die Ansiedlung attischer Bürger auf einem Teil der Feldmark eines bestehenden bundesgenössischen Gemeinwesens, den Athen sich gegen eine entsprechende Ermäßigung des Tributs hat abtreten lassen. In diesem Falle werden die Kolonisten meist überhaupt nicht als eigene Gemeinde konstituiert; sie bilden vielmehr eine dauernd in die fremde Stadt gelegte und mit Land ausgestattete Besatzung. In manchen Fällen, so auf Euböa 446 und auf Lesbos 427, haben die Ansiedler das ihnen zugewiesene Land überhaupt nicht selbst bestellt, sondern an die einheimischen Bauern verpachtet; dadurch tritt der Garnisoncharakter der Kleruchie besonders scharf hervor. So wächst Athen immer mehr in das Bundesgebiet hinein; aber zugleich wird die Kluft zwischen Herrschern und Untertanen und die dadurch geschaffene Mißstimmung immer größer. Von einer Verschmelzung der Ansiedler mit den älteren Einwohnern zu einer politischen und sozialen Einheit, wie sie Rom in den älteren Bürgerkolonien durchgeführt hat, ist unter Athens Herrschaft keine Rede.812

[671] Als es nach der ägyptischen Katastrophe im Bundesgebiet gärte und Perikles die Wendung der attischen Politik vorbereitete, hat man mit der Entsendung der Kleruchen begonnen. Vermutlich noch vor 450813 hat Tolmides 1000 Ansiedler nach Euböa und Naxos, 250 nach Andros geführt814. Nach dem Frieden mit Persien, im Jahre 447, ging Perikles nach der thrakischen Chersones, um das Werk Kimons (o. S. 500) zu vollenden. Zum Schutz gegen die Thraker stellte er die Mauer des Miltiades über den Isthmos wieder her und siedelte in den Städten der Halbinsel, die sich aus eigener Kraft niemals haben behaupten können, 1000 Athener an, die einen großen Teil des Landes erhalten haben müssen; denn den Chersonesiten wurde der Tribut von 18 Talenten (97900 Mark) auf etwa 21/2 Talente (13600 Mark) herabgesetzt815. Um dieselbe [672] Zeit hat Lemnos und wahrscheinlich auch Imbros neue Ansiedler erhalten; die beiden Städte von Lemnos zahlen seitdem statt 9 Talenten nur die Hälfte. Eine Verschmelzung der neuen Kolonisten mit den alten Ansiedlern fand auch hier nicht statt, ob wohl auch diese von Athen ausgegangen waren816. Nach der Besiegung Euböas wurde die Feldmark von Hestiäa (Oreos) mit Athenern besetzt817. Einige Jahre später folgten dann große Ansiedlungen auf dem thrakischen Festland: 1000 Kleruchen im Bisaltenland westlich vom Strymon, eine Kolonie Brea wahrscheinlich im östlichen Thrakien818, schließlich 436 Amphipolis, dessen Gründung jetzt endlich durch Hagnon mit Heranziehung zahlreicher Ansiedler aus dem Bundesgebiet ausgeführt wurde819.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 665-673.
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