Athen und der Pontos

[725] Die alte, auch im Kalliasfrieden anerkannte Grenze des attischen Machtbereichs bildete wie im Süden Phaselis so im Norden Byzanz und der thrakische Bosporos. Aber auch das Schwarze Meer war von einem Gürtel griechischer Städte umkränzt, die teils zerstreut die wichtigsten Punkte besetzt hatten, wie an den thrakischen und skythischen Küsten und im Osten, teils an der mariandynischen, paphlagonischen, kappadokischen Küste in geschlossener Folge ein ausgedehntes Gebiet beherrschten von Heraklea bis über Amisos und die Irismündung hinaus. Es lag nahe, daß Athen suchte, auch diese Gebiete, mit denen es den lebhaftesten Handelsverkehr unterhielt, in seinen Machtbereich zu ziehen; ein Angriff auf Persien lag darin nicht, da die Städte an der Nordküste Kleinasiens ebensogut wie manche Küstenstämme, so die Häuptlinge der Bithyner und Paphlagoner, sich tatsächlich vom Perserreich bereits unabhängig gemacht hatten. So ist Perikles, vermutlich bald nach dem Samischen Kriege, mit einer imposanten Flotte im Pontos erschienen und hat überall die griechische Sache und den Anschluß an Athen gestärkt900. In Sinope wurden 13 Schiffe unter Lamachos zur Abwehr des Tyrannen Timesileos zurückgelassen, auf dem Besitz seiner Anhänger 600 attische [725] Kolonisten angesiedelt. Amisos, der Haupthafen Kappadokiens, der in die Hände der einheimischen Machthaber gefallen war, wurde durch Athenokles in eine attische Kolonie verwandelt; es hat zeitweilig unter dem Namen Peiraieus Münzen mit attischen Typen geprägt901. Auch die Städte im Osten bis nach Kerasus902 und Trapezus, die Not genug hatten, sich der wilden Stämme der Küstengebirge zu erwehren, scheinen sich Athen untergeordnet zu haben. Ob sie allerdings jemals Tribut gezahlt haben, wissen wir nicht; denn daß sie in der Schatzungsurkunde von 425 vorzukommen scheinen, kann dafür nichts beweisen. Ablehnend verhielt sich dagegen die mächtigste aller pontischen Städte, Heraklea, die den ganzen Volksstamm der Mariandyner vom Hypios bis zum Parthenios nebst den Griechenstädten Kieros und Tieon beherrschte; auch ein Versuch, den 424 Lamachos gemacht hat, hier Erfolge zu erringen, schlug fehl903. Weiter westlich saß der wilde thrakische Volksstamm der Bithyner904, jetzt unter einem Häuptling Doidalsos, der die Griechenstädte arg bedrängte. Namentlich Astakos905, im innersten Winkel des Golfs von Nikomedien, geriet in große Nöte: bis 450 hat es 11/2 Talente, dann nur noch 1/6 Talent und seit dem Samischen Kriege überhaupt nichts mehr gezahlt. Im Jahr 435/4 hat dann Athen den Ort kolonisiert und dadurch widerstandsfähig gemacht. Später, im Jahre 416, haben sich die Byzantier und Kalchedonier einmal auf eigene Hand geholfen, Bithynien weithin verwüstet und, was von Gefangenen in ihre Hand fiel, erbarmungslos niedergemacht906.

[726] Im Norden des Schwarzen Meers haben sich die griechischen Ansiedlungen im 5. Jahrhundert im allgemeinen eines ungestörten Wohlstandes erfreuen können907. Zwar bildeten in ihrem Rücken in der russischen Steppe die skolotischen Skythen noch immer ein mächtiges Reich; aber sie waren hellenenfreundlich und verkehrten viel mit den Griechen, wenn sie auch nicht dulden mochten, daß ihre Herrscher sich ganz der fremden Sitte hingaben – König Skyles, der Sohn einer Griechin, ist gestürzt worden (o. S. 721f.), weil er bei einem Besuch in Olbia nach griechischer Weise bakchische Orgien feierte. Die Produkte der Griechen, vor allem kostbarer Goldschmuck, fanden bei den Skythen reichlichen Absatz; dafür verhandelten sie ihnen die Landesprodukte, Getreide, das die ackerbauenden Skythen östlich vom Dniepr produzierten, Pelze, Felle, Sklaven. So war vor allem Olbia an der Mündung des Borysthenes (Dniepr), das Hauptemporium Südrußlands – daneben sind Tyras (Ophiusa, jetzt Akkerman) und Nikonia an beiden Ufern des Limans des Dniestr zu nennen –, in blühendem Zustande; von hier ging die große Handelsstraße aus, die über den Ural bis nach Zentralasien zu den Issedonen und an die chinesische Grenze führte (o. S. 100)908. Auf der Westseite der Krim behauptete sich Chersonesos (Sewastopol), die Kolonie von Heraklea, die vielleicht erst im 5. Jahrhundert angelegt ist, erfolgreich gegen die Taurer. Am wichtigsten aber waren die Griechenstädte am Kimmerischen Bosporos. Sie beherrschten den Handel des Asowschen Meeres und der Donmündung, an der eine Faktorei Tanais lag; sie hatten die Skythen der flachen und fruchtbaren Landzunge, in welche die Krim nach Osten ausläuft, und ebenso auf der asiatischen Seite die maïtischen Stämme im Hypanisdelta, vor allem die Sinder, von sich abhängig gemacht und produzierten hier gewaltige Massen Getreide909. Die erste Stelle [727] unter ihnen nahm die milesische Kolonie Pantikapäon oder Bosporos (jetzt Kertsch) ein910; ihm gegenüber in Asien lag Phanagoreia, die Gründung der beim Angriff der Perser ausgewanderten Teier (Bd. III2 S. 420. 713. In Pantikapäon wurde im Jahr 438 die Herrschaft der Archäanaktiden, eines Adelsgeschlechts, das seit 480 das Regiment geführt hatte, durch Spartokos gestürzt, der sich zum Tyrannen oder, nach offizieller Bezeichnung, zum lebenslänglichen Archon der Stadt machte und eine kraftvolle Dynastie begründete, die sich jahrhundertelang im Besitz der Herrschaft behauptet hat. Im Jahre 432 folgte ihm sein Sohn Satyros, der bis 392 regiert hat.

Für Athen waren die Beziehungen zum Bosporanischen Gebiet oder zum »Pontos«, wie man kurzweg sagte, von höchster Wichtigkeit: von hier aus deckte es den Hauptteil seines Getreidebedarfs. So hat Athen auch hier festen Fuß gefaßt, vielleicht Perikles selbst bei seiner Fahrt in den Pontos. Jedenfalls ist der Ort Nymphaion an der Meerenge südlich von Pantikapäon attischer Besitz geworden und hat Tribut gezahlt, zuerst 1 Talent, seit 425 das Doppelte. Auch eine attische Besatzung scheint hier gelegen zu haben911. Ebenso war weiter südwestlich Kimmerikon tributär. Damit hatte Athen einen Teil des Getreidelandes unmittelbar in seinen Händen. Die Fürsten von Pantikapäon waren viel zu schwach, um dem entgegenzutreten; vielmehr lag ihnen alles [728] daran, mit ihren Hauptkunden gut zu stehen. Erst beim Falle Athens sind sie seine Nachfolger geworden. – Ob auch andere Städte des Pontos in Perikleischer Zeit tributär gewesen sind, wissen wir nicht; dagegen hat die radikale Demokratie bei der Erhöhung der Tribute im Jahr 425 sie alle eingeschätzt, auch z.B. Tyras und Nikonia am Dniestr, ebenso, wie schon erwähnt, Kerasus im östlichen Kleinasien. Von wie vielen dieser Orte aber der Tribut wirklich auch nur vorübergehend eingegangen ist, wissen wir nicht912.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 725-729.
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