Die Gegenströmung und die zersetzenden Tendenzen in Staat, Religion und Sitte

[784] So zuversichtlich und selbstgewiß uns bei Sophokles die Weltanschauung der Perikleischen Zeit entgegentritt, wir haben gesehen, wie sie überall bereits die Keime der Zersetzung in sich trägt. Durchweg steht sie in der Abwehr gegen eine Anschauung, für die ihre Ideale nicht mehr existieren, ja nicht selten bekennt sie mehr, was sie glauben möchte und glauben will, als was sie noch glauben kann. Solange die Überzeugung von der Realität der Göttergestalten, von denen man sich umgeben fühlt, fest im Herzen sitzt, vermag der Glaube auch die größten Widersprüche zu ertragen, ohne daß ihre Herrlichkeit darunter leidet; ist aber der Zweifel erst einmal ins Gemüt gedrungen, dann fallen die Hüllen, und mit Entsetzen erkennt man in ihnen ganz andere Wesen, als die fromme Einfalt geträumt hat. Ist das Weltregiment so beschaffen, wie die Erfahrung über jeden Zweifel erweist und die Gläubigen selbst zugeben müssen, dann sind die Götter keine Götter mehr, bei denen der Mensch in seiner Not Zuflucht suchen könnte, sondern entweder Teufel, die er verabscheuen muß, oder ohnmächtige Wesen, die den Mächten des Schicksals ebenso unterliegen wie er selbst, oder vielmehr sie existieren überhaupt nicht, sie sind nichts als Erfindungen der Dichter oder eines rohen Aberglaubens oder schlauer Spekulanten, die die Massen durch Spukgestalten in Abhängigkeit bringen wollten. Die Konsequenz, die Diagoras gezogen hat, die der »Bellerophon« des Euripides ausspricht (o. S. 763), ist unabweisbar: »wenn die Götter Schimpfliches tun, sind sie keine Götter.« Nicht wenige fallen innerlich – es offen auszusprechen war gefährlich – völlig dem Atheismus zu; wo noch starke religiöse Stimmungen vorhanden sind, flüchten sie sich in den allgemeinen Begriff der Gottheit (o. S. 777f.). Aber [784] die Götter der Volksreligion existieren für diese Kreise nicht mehr, mag man sie auch aus konventionellen Rücksichten und vielleicht auch aus abergläubischer Scheu bekennen. Denn völlig konsequent sind immer nur wenige; möglich wäre es ja doch, da eine sichere Erkenntnis dem Menschen nun einmal versagt ist, daß irgendwelche reale Mächte in ihnen zutage treten, die nützen und schaden können und denen man daher besser die einmal herkömmlichen Ehrungen erweist.

Nach Sophokles' Überzeugung geht die ganze Welt in Trümmer, wenn der Glaube aufhört; denn alle sittlichen und staatlichen Ordnungen beruhen nach ihm auf dem Willen der Götter. Das ist freilich ein Grundirrtum der religiösen Weltanschauung, so unentbehrlich er ihr ist und so laut er zu allen Zeiten, auch in der Gegenwart, von ihr gepredigt wird. Die Ethik ist so wenig ein Erzeugnis der Religion, daß sie vielmehr die Religion unter ihre Gebote zwingt, mag diese sich noch so heftig dagegen sträuben. Eben weil Sophokles von der Unverbrüchlichkeit und Ewigkeit des Sittengesetzes überzeugt ist, muß es ein Ausfluß des göttlichen Willens sein. Wo beide in einen unlösbaren Konflikt geraten, muß für den echten und freien Menschen jederzeit die Religion erliegen. Weil der Versuch gescheitert ist, die Götter nach dem ethischen Postulat umzugestalten, stürzen sie vor der Heiligkeit des Sittengesetzes, d.h. vor den Geboten des menschlichen Gewissens von ihren Thronen. Die Menschenwelt hält darum doch zusammen und die Kultur wird nicht vernichtet, sondern nur in neue und freiere Bahnen gewiesen. Aber eine Erschütterung des Bestehenden ist allerdings unvermeidlich. Sie ist auch Athen nicht erspart geblieben; die Gärung erfaßt die Geister nur um so stärker, da bereits unter der Herrschaft des alten Glaubens dort, wo man feste Werte zu besitzen meinte, überall das Problem aufgetaucht war. Die alten Begriffe versagen, die einfache Scheidung in Gut und Böse genügt nicht mehr; auch wer von der Heiligkeit der echten Moral überzeugt ist, da sie allein wie der menschlichen Gesellschaft ihr Bestehen, so dem Gewissen Ruhe und inneren Frieden gewähren kann, sieht sich oft genug ratlos vor der Schwierigkeit, eine feste Norm zu finden. Von dem, was die alte Religion als heilige [785] Gebote hinstellte, enthüllt sich nur zu vieles als Vorurteil, ja als Hemmnis einer wahren Sittlichkeit, so die kultischen Gebote und nun gar die Vorschriften der Geheimdienste und der Orphik, so der Wahn, daß man den Befleckten nicht berühren dürfe, um nicht selbst unrein zu werden (Eurip. Herakles 1234). Die für die Menge nie sehr lebendigen Vorstellungen von einem zukünftigen Leben und einer Vergeltung im Hades verblassen vollends; wer vermag zu sagen, ob nicht mit diesem Leben alles zu Ende, ob nicht der Tod ein ewiger Schlaf ist, aus dem es kein Erwachen mehr gibt?

Auch das staatliche Ideal verliert seine Kraft. Zu deutlich treten die Gebrechen der Demokratie hervor; gerade wer vom Staat die Erfüllung einer sittlichen Idee fordert, muß bekennen, daß die Demokratie sie nicht zu verwirklichen vermag. Trotz aller schönen Theorien von Freiheit und Gleichheit ist sie in Wirklichkeit nichts anderes als Herrschaft der Massen über die Besitzenden und unverhüllte Ausbeutung des Staats für die Interessen der niederen Stände. Der Glaube, daß die freie Diskussion, das Recht eines jeden, seine Meinung zu äußern, zur Erkenntnis der Wahrheit führen müsse, daß das souveräne Volk instinktmäßig das Richtige herausfinden könne, wird durch die Erfahrung widerlegt; wie wäre das auch möglich bei einer Verfassung, die die Entscheidung der Mehrheit der Unwissenden zuweist und die Bessergestellten und Intelligenten unterdrückt? Mag ein überlegener Geist wie Perikles eine Zeitlang die Masse beherrschen und auf besonnenem Wege halten; wo sie sich selbst überlassen ist, zeigt sie immer aufs neue ihre Unfähigkeit und ihre niedere Selbstsucht. Die Volksgerichte waren das Palladium der Demokratie; aber nicht nur, daß der gemeine Mann es nicht sowohl als eine Pflicht, als vielmehr als ein Privileg betrachtete, zu Gericht zu sitzen und die vornehmen und reichen Herren seine Macht fühlen zu lassen, daß die Diäten, so gering sie waren, ihn anlockten als ein willkommener Zuschuß zu seinen Einkünften – schlimmer noch war, daß sich in den Entscheidungen die ungerechten Urteile, die Justizmorde häuften, teils aus Unwissenheit, teils weil man rücksichtslos nur den eigenen Interessen folgt. War es doch bereits zur Zeit des Archidamischen Kriegs, wie Aristophanes bezeugt (eq. 1359 – die Redner erwähnen [786] dann diese Wendung häufig als etwas ganz Gewöhnliches, ja Entschuldbares), gar nichts Seltenes, daß man den Richtern vorhielt: wenn sie einen reichen Angeklagten nicht verurteilten, werde kein Geld für ihre Diäten da sein. Vor allem aber enthüllt sich in diesen Verhandlungen vor Gericht wie vor dem Volk die zweischneidige Macht der Beredsamkeit in ihrer ganzen Furchtbarkeit. Daß jeder Bürger das Recht hatte, für die verletzten Interessen des Staats einzutreten und Defraudanten vor Gericht zu ziehen, war im öffentlichen Interesse unumgänglich, da ein staatliches Organ, das in solchen Fällen eingreifen konnte, nicht existierte und nach der ganzen Gestaltung des Staats undenkbar war. Aber das führte zur Entstehung einer Zunft berufsmäßiger Ankläger – Sykophanten, »Feigendenunzianten«, nannte man sie, weil sie vor allem auf den Märkten ihr Gewerbe trieben und Unterschlagungen der Zölle und Marktsteuern nachspürten. Diese Leute wurden zur Geißel aller anständigen Menschen, denen sie aus den nichtigsten Anlässen mit Staatsprozessen drohten, wenn sie sich nicht durch Geld loskauften. Ihre Schädlichkeit empfanden auch die Demokraten; die Volksversammlung erhielt sogar das Recht, einmal jährlich drei von ihnen, die es besonders arg getrieben hatten, durch eine Vorentscheidung (προβολή) den Gerichten zur Aburteilung zu überweisen (erwähnt schon bei Aristoph. Ach. 949). Aber diese ungeheuerliche Bestimmung zeigt nur die Unvermeidlichkeit des Übels und illustriert zugleich drastisch, wie völlig der Zweckmäßigkeit gegenüber das Rechtsbewußtsein geschwunden war. Daß die Masse der Athener trotz alledem an der Verfassung festhielt, bei der es ihr so wohl ging, konnte ihr niemand verdenken; aber auch ein großer Teil der Gebildeten und Höherstehenden blieb, so schwer sie die Mißstände empfanden, dem Ideal der Demokratie treu, das mit dem Ideal des athenischen Staats untrennbar verbunden war; nur Mäßigung forderten sie, Beseitigung der Mißbräuche, Einschlagen eines Mittelwegs, bei dem den höheren Ständen und den Besitzenden ein berechtigter Einfluß gewahrt blieb – bei Euripides werden diese Gedanken oft ausgesprochen, und alle konservativen Staatsmänner Athens seit Perikles' Sturz haben sich wenigstens im stillen zu ihnen bekannt. Aber danebenkommt [787] bereits eine radikal-oligarchische Partei auf, welche den Umsturz der bestehenden Ordnung mit allen Mitteln erstrebte und selbst vor dem Vaterlandsverrat nicht mehr zurückschreckte, wenn sich kein anderer Weg bot, die Heimat aus der Tyrannei des Pöbels zu retten und die idealen Zustände der alten Zeit wiederherzustellen.

Innerhalb all dieser Gegensätze steht die Persönlichkeit des einzelnen Menschen. Auch das ist ein kompliziertes Produkt, abhängig von allen Faktoren des Lebens, Geburt, Erziehung, Umgang, Besitz und Lebensstellung, von den überkommenen Anschauungen, von Stimmungen und Leidenschaften. Kein Satz findet sich bei Euripides häufiger als der von der maßgebenden Bedeutung des Standes der Eltern für den Wert des Mannes: edle Abstammung ist für ihn wie ehemals für Theognis der größte Vorzug, während kein Schlechter tüchtige Kinder in die Welt setzen kann. Dieser Satz beruft sich auf die immer wiederkehrende Erfahrung; aber er ist zugleich ein Protest gegen die Gleichheitslehre der Demokratie. Dem entspricht der grimmige Haß, mit dem Euripides auf die moderne Macht des Reichtums blickt, der zwar die Menschen beherrscht und im Leben viel mehr gilt als Adel, vornehme Gesinnung, persönliche Tüchtigkeit und Intelligenz, aber doch nur elende und bornierte Parvenüs hervorzubringen vermag. Jeder Stand und jedes Geschlecht hat seine besonderen Eigenheiten und Gebrechen, welche Tragödie und Komödie in ihren Charaktertypen vorführen. Aber man muß anerkennen, daß es Ausnahmen gibt; der Niedriggeborene, der durch schwere Arbeit sein Brot verdient, die Frau, der Sklave können sittlich und intellektuell höher stehen als der Vornehme, der Mann, der Freie – wie umgekehrt, im Gegensatz zu dem populären Glauben, auch die Tyrannis eines edlen Mannes etwas Gutes sein kann (Eurip. Ägeus fr. 8). Immer bleibt im Menschen ein ureigenes Element, durch das er sich von allen anderen unterscheidet und im Kampf mit den Schicksalsmächten sein Leben gestaltet. Es ist die Individualität der Einzelpersönlichkeit, die immer lebendiger ins Bewußtsein tritt, eng verwandt der angeborenen Art, in der die alte Pindarische Anschauung das Geheimnis des Menschen sucht, – [788] »die natürliche Art ist die Hauptsache« (μέγιστον ἡ φύσις), sagt Euripides im »Phönix« (fr. 810) – und doch durch eins grundverschieden, durch die Abweisung alles Konventionellen und Typischen. Diese Individualität äußert sich als Charakter, als Wille, vor allem aber als Intellekt. Sie ist mannigfach gebunden durch die eigene Lage, durch fremde Einwirkung, durch den Zwang des Lebens – »keinen Sterblichen gibt es, der frei wäre«, sagt Euripides einmal (Hekabe 864); »entweder ist er Sklave des Geldes oder seiner Lebenslage, oder der Pöbel oder die Gesetze hindern ihn, seiner Einsicht zu folgen« – und ebenso oft erliegt der Mensch seiner Schwachheit. So handelt er nur zu häufig wider besseres Wissen. Aber dennoch verdient nur, wer seine Erkenntnis zu entwickeln, die Kraft seines Verstandes im Leben zu betätigen vermag, die Anerkennung der Menschen; nur er darf hoffen, sich in allen Lebenslagen zu behaupten. Nicht nur Euripides hat immer aufs neue ausgesprochen, daß die richtige Erkenntnis (γνώμη), die Weisheit, die höchste aller menschlichen Fähigkeiten ist, sondern seit dem Ausbruch des Kriegs denkt ganz Athen ebenso, zum wenigsten alle Kreise, die auf Bildung Anspruch machen, so weit die Ansichten über den Inhalt der »Weisheit« auseinandergehen mochten. Die Schattenseiten verkennt man nicht; auf der einen Seite steht der Neid, den die intellektuelle Überlegenheit hervorruft, der Hohn, mit dem sie aufgenommen wird, wenn sie sich bei armen und abhängigen Leuten, und nun gar bei Frauen findet – ein Lieblingsthema des Euripides –, auf der anderen Seite die gesteigerten Anforderungen, die an den Einsichtigen gestellt werden, und demgegenüber die Verlockung zum Mißbrauch seiner Kraft, zur Beschönigung unsittlicher Handlungen, zur Entstellung der Wahrheit um des Vorteils willen. Trotzdem bleibt die Einsicht, die Intelligenz der wertvollste Besitz des Menschen, weit überlegen der rohen Körperkraft und jeder anderen Begabung. »Durch menschliche Einsicht wird Staat und Haus gut verwaltet, und auch im Krieg ist sie eine große Macht«, sagt Euripides in der »Antiope« (fr. 200, wahrscheinlich 408 v. Chr.), »ein kluger Rat ist mehr wert als die Hände der Menge, beim Pöbel aber ist die Dummheit (der Mangel an intellektueller Fähigkeit, ἀμαϑία) das [789] größte Übel.« »Feldherrn können wir zu Tausenden hervorbringen«, heißt es im »Palamedes« (fr. 581, 415 v. Chr.), »Weise gibt es in langen Zeiträumen nur einen oder zwei.« Auch wer an die sittlichen Gebote glaubt und in der Tugend die höchste Pflicht des Menschen sieht wie Euripides, ist doch immer geneigt, die Ethik mit dem Verstande aufzufassen und zu üben, nicht mit dem Herzen. Nichts ist bezeichnender dafür als die moderne Beurteilung des Selbstmords. Der alten Zeit gilt er in zahlreichen Fällen als durchaus legitim, ja als geboten, und so finden wir ihn bei Sophokles; Euripides und seine Gesinnungsgenossen dagegen verwerfen ihn, nicht aus sittlichen Bedenken, wie die Orphik (Bd. III2 S. 686, deren Anschauung dann später Plato aufgenommen hat, sondern als vulgär. Er ist das Bekenntnis, daß man keinen Ausweg mehr finden kann, und das ist eines klugen Mannes unwürdig – οὐ σοφόν (Orestes 415), der erste beste kann das tun (Herakles 1248); es wäre die Bankrotterklärung des Intellekts. In seinem »Herakles« (um 420) zeigt der Dichter freilich, daß er sich zu einer höheren Anschauung durchgerungen hat: der Held, dessen Leben nach den größten Taten im Wahnsinn zusammengebrochen ist, verwirft den Plan, Hand an sich zu legen, weil es schwerer ist, das Leben zu tragen als ihm zu entfliehen946.

Wo derartige Anschauungen in der menschlichen Gesellschaft festen Fuß fassen, können die extremen Konsequenzen nicht ausbleiben. Skrupellose Egoisten, die ihre Selbstsucht und ihre Verbrechen durch gewandte Reden zu verhüllen verstehen, hat es zu allen Zeiten gegeben; das Neue ist, daß sie sich für ihr Verhalten auf allgemein anerkannte, ja für allein richtig ausgegebene Grundsätze berufen und ihre Gesinnung offen zur Schau tragen können. »Seit langem habe ich aus eigener Erfahrung, nicht aus fremder Lehre, die Ansicht gewonnen«, sagt Iolaos in Euripides' »Herakliden« (um 425), »daß der Gerechte für seine Mitmenschen da ist, wer aber nur seinen Vorteil verfolgt, zwar für den Staat unbrauchbar und für den menschlichen Verkehr verderblich, aber für sich[790] selbst der beste ist.« Wo die Gottesfurcht und die Scheu vor dem Heiligen einmal gefallen ist, was gibt es da noch für Schranken, die den Menschen binden? Sitte, Gesetz, Herkommen sind für den Griechen ein Begriff, der νόμος; auf ihm beruhen alle Satzungen des menschlichen Lebens: »nach dem Nomos, der auch über die Götter herrscht«, – das Wort Pindars – »glauben wir die Götter und scheiden im Leben Unrecht und Recht« (Eurip. Hekabe 800, um 425 v. Chr.). Nomos ist aber, was beobachtet und geglaubt, was für richtig gehalten wird (ἃ νομίζεται); er ist also Menschenwerk, mithin willkürlich und wandelbar, nicht von der Natur geschaffen und ewig. Die Argumentation über den Wert der Gesetze und des geltenden Rechts, welche dem Alkibiades im Gespräch mit Perikles in den Mund gelegt wird (o. S. 758f.), ist vollkommen zutreffend: das Gesetz eines jeden Staats ist lediglich die Willkür des jeweiligen Machthabers und nach seinen Interessen zugeschnitten, nicht die Verkörperung eines Wahngebildes der Gerechtigkeit. Die Gestaltung eines jeden Staats zeigt, daß es kein Recht auf Erden gibt als das Recht des Stärkeren, als die unter blendenden Formeln verhüllte Gewalt. Die Leute, welche sich ihrer Gesetzlichkeit rühmen, sind Toren, die Masse, die sie deshalb bewundert, beweist dadurch nur ihre Unwissenheit, die sie unfähig macht, selbst zu regieren. Es bleibt eben nichts anderes als das Individuum, die durch ihre materiellen und geistigen Mittel und vor allem durch ihren Intellekt den Durchschnittsmenschen überragende und darum zur Herrschaft berufene Einzelpersönlichkeit. Für den starken Geist, der die Dinge erkennt wie sie sind, gibt es keine andere Aufgabe als die rücksichtslose Geltendmachung seiner Interessen, seiner persönlichen Ansprüche und Ziele, wobei er, wenn er gewandt ist, die Vorurteile der Menge benutzen und ihnen schmeicheln wird, um sie dann, wenn er die Macht erlangt hat, verächtlich beiseitezuschieben und mit Füßen zu treten. Das ist das Entscheidende und das Verhängnis der ganzen weiteren Entwicklung nicht nur Athens, sondern von ganz Hellas. Nicht darauf kommt es an, daß der Selbstsucht der gemeinen Naturen jetzt ein größerer Spielraum eröffnet ist und ihre Schamlosigkeit sich unverhüllt zeigen darf, sondern daß die [791] bedeutenden Naturen, die die Kraft in sich fühlen, etwas zu leisten und gestaltend in die Geschicke des Staats und der Welt einzugreifen, dieselben Wege wandeln, daß ihnen jedes Ideal abhanden gekommen ist, mit Ausnahme des eigenen Ichs. Der Typus dieser modernen Menschen, welche bei all ihrem Tun nur die eigene Persönlichkeit kennen und ihre Ansprüche schrankenlos durchzuführen versuchen, ist Perikles' Mündel und Erbe Alkibiades geworden oder vielmehr von Kindheit auf gewesen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 784-792.
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