Die Weltanschauung der Perikleischen Zeit. Sophokles und Herodot

[767] Diese auf attischem Boden selbst erwachsenden Probleme sind weit bedeutungsvoller gewesen als die von außen hereingetragenen fremden Gedanken; erst dadurch, daß sie in Athen selbst einen Nährboden finden, auf dem sie gedeihen können, gelangen diese zu umfassender welthistorischer Wirkung. Zwischen den verschiedenen Strömungen und Gegensätzen sucht das Perikleische Athen eine feste Basis zu gewinnen und mit aller Energie festzuhalten. Die Tatsachen will man unumwunden anerkennen, auch da, wo sie den Wünschen und den vorgefaßten Meinungen der Menschen nicht entsprechen. Aber eben darum hält man den Glauben an die großen Ideale der Menschen nur um so fester: den Glauben an das göttliche Weltregiment, den Glauben an die Heiligkeit und Unverbrüchlichkeit des Sittengebots, an »die Gesetze, die hoch im Äther einherschreiten, der Himmel allein ist [767] ihr Vater und keine sterbliche Menschennatur hat sie gezeugt und nie kann Vergessen sie in Schlaf wiegen; groß ist Gott in ihnen und nie werden sie alt« (Sophokles Öd. 865), und den Glauben an den Staat. Alle drei Ideen sind untrennbar verbunden und so real wie nur irgendeine sinnliche Erfahrung; ohne sie würde das menschliche Leben haltlos zusammenbrechen. Eben weil der Staat in seiner Vollkraft existiert, existieren auch die Grundlagen, ohne die er undenkbar ist. Durch seinen Staat hat Athen den lebendigen Gottesglauben sich noch auf einer Entwicklungsstufe bewahrt, wo überall sonst, auch in der gleichzeitigen griechischen Welt, die Religion – nicht Kultus und Deisidaimonie und Mystizismus, die dabei vielmehr ausgezeichnete Geschäfte zu machen pflegen, wie um eben diese Zeit in Sizilien und Unteritalien – der Aufklärung und dem ethischen Materialismus erliegt. Freilich mußte man manche Anschauungen aufgeben, die einer früheren Zeit wert gewesen waren: aber das Gottesbild, wie es Poesie und Historie gestalteten, wie es die Kunst vor Augen führte, war darum nicht minder strahlend und herrlich, und vor allem, es lebte in aller Herzen. Dieser Glaube hat Athen die Kraft gegeben, der harten Wirklichkeit in die Augen zu schauen und die Dinge zu nehmen, wie sie sind. Durch diesen Empirismus hat Athen ebensowohl die Aufklärung von sich abgewehrt, welche mit ihrem Rationalismus die Welt nicht sowohl verstandesgemäß zu begreifen, als vielmehr verstandesgemäß zu konstruieren sucht und daher die Erfahrung meistert, wie es den ethischen Optimismus der früheren Zeit überwunden hat, der, auch wo er so tief gefaßt wird und so ernsthaft mit dem Problem ringt wie bei Äschylos, doch den Tatsachen nicht minder Gewalt antut wie jener. Auch dieser Empirismus mit seinem idealen Glauben, an den er sich klammert trotz allem, was die Zweifler und Spötter sagen, konnte nur ein Durchgangspunkt in der geistigen Entwicklung von Hellas sein, und überall steht er bereits in der Defensive gegen fortgeschrittenere Anschauungen namentlich der jüngeren Welt. In wenigen Jahrzehnten ist er dem unaufhaltsamen Fortschreiten des menschlichen Denkens erlegen: auch Athen mußte die Aufklärung voll in sich aufnehmen, um sie innerlich überwinden zu können. Aber[768] aus eigener Kraft hätte die Aufklärung die neue Weltanschauung nie schaffen können, die die Grundlage aller späteren menschlichen Kultur geworden ist; dazu bedurfte es der Weltanschauung der Perikleischen Zeit. Ihre Grundgedanken hat die folgende Zeit schließlich doch festgehalten. Auf ihr beruht im Grunde doch allein die einzigartige Stellung, welche Athen in der Geschichte der menschlichen Entwicklung einnimmt, die ewige Wahrheit der Tragödien des Sophokles und der Kunstwerke des Phidias nicht minder als die sittliche Kraft des Denkens, mit der Sokrates und Thukydides die Kritik geschaffen haben, welche die Aufklärung überwindet, indem sie sie weiterbildet937.

Der Staat des Perikles, die Kunst des Phidias, die Dichtung des Sophokles, das Geschichtswerk des Herodot von Halikarnaß sind die großen Schöpfungen, welche die Gedanken am lebensvollsten widerspiegeln, die Athen auf der Höhe seiner Macht beseelt haben; Sophokles und Herodot sind auch in ihrem Leben die typischen Vertreter ihrer Zeit. Sophokles ist um 496 v. Chr. in dem vorstädtischen Demos Kolonos als Sohn eines reichen Fabrikanten geboren. Seine Jugend fällt in die Zeit des Riesenkampfes, in dem die Götter die Freiheit von Hellas gegen die Barbaren beschirmten; die große Zeit, da Athen, von Erfolg zu Erfolg schreitend, sein Reich gründete, die schweren Jahre, in denen es trotz gewaltiger Anstrengungen das Gewonnene doch nur teilweise behaupten konnte, hat er selbst mithandelnd und mitkämpfend – zweifellos im Reiterkorps – durchlebt. Als dann [769] Friede geworden war und Athen die Anerkennung seiner Machtstellung zur See durchgesetzt hatte, hat er sich der politischen Laufbahn zugewandt in engem Anschluß an den wenig älteren Staatsmann, der die neue Richtung der attischen Politik begründet hat; als Hellenotamias 443/2 (o. S. 693), als Stratege 441/0 (o. S. 713, 2) hat er entscheidende Maßregeln der Perikleischen Politik durchführen helfen. Damals stand er bereits seit langem auf der Höhe des Dichterruhms. Wie keinen seiner Rivalen hatten die Musen ihn mit ihren Gaben geschmückt, und immer sind sie ihm treu geblieben; von dem ersten Auftreten im Jahr 468, wo ihm Kimon im Wettkampf mit Äschylos den Sieg zusprach (o. S. 531), bis zu seinem Tode im Jahr 406 als neunzigjähriger Greis war er der erklärte Lieblingsdichter des attischen Volks. Achtzehnmal hat er bei den Dionysien den Preis erhalten, dazu, wie es scheint, sechsmal bei den Lenäen938. Die Schöpfungen seiner Entwicklungszeit und der ersten Vollkraft des Mannesalters sind uns verloren, ja so gut wie verschollen; als er die ältesten seiner erhaltenen Dramen (Aias, Antigone) dichtete, stand er in der Mitte der Fünfziger. – Seine dichterische Eigenart hat Sophokles immer gewahrt, wenn er auch in späteren Jahren manche Formen und manche Gedanken von Euripides übernahm, wie ehemals Äschylos von ihm. Auch er kämpft mit den Problemen des Menschendaseins wie Äschylos; aber ein Titane ist er nicht, der wie dieser oder etwa wie Heraklit in gewaltigem Ringen immer aufs neue die unlösbaren Probleme dennoch zu lösen sucht; und ebensowenig ein kühner Neuerer wie Euripides, der alle Qualen seines Herzens und alle Irrgänge seines Denkens hinaustragen muß auf die Bühne. Aber dafür ist er um so menschlicher; wie uns, so erschien bereits seinen Zeitgenossen das Wesen des Perikleischen Athens in ihm verkörpert, nicht nur in seiner Dichtung, sondern ebensosehr in seiner Gestalt und seiner Lebensführung. Sophokles ist eine durch und durch gesunde Natur; in allem lebt und empfindet er mit [770] seinem Volk. Freudige Hingabe an die Genüsse des Lebens, bei tiefem Gefühl für die Gebrechen und die Unbeständigkeit des Menschendaseins, Liebe zu schönen Knaben, Interesse an Gymnastik und Wettrennen nicht minder als an lebendigster Diskussion, Empfänglichkeit für interessante Erzählungen und der Blick für das Charakteristische, und vor allem, bei aller Leidenschaft, an der es wahrlich in seinen Tragödien nicht fehlt, das Maßhalten in Form und Inhalt, das Streben nach ruhiger, abgeklärter Menschlichkeit – das alles unterscheidet ihn von Äschylos ebensosehr wie von Euripides. »Als Politiker«, urteilt sein Kunstgenosse Ion von Chios, »war er weder verschlagen noch durchgreifend, sondern ein Mann wie andere Athener guten Schlags auch« (τὰ μέντοι πολιτικὰ οὔτε σοφὸς οὔτε ῥεκτήριος ἦν, ἀλλ᾽ ὡς ἄν τις εἷς τῶν χρηστῶν Ἀϑηναίων). Aber eben deshalb hat ihm das Volk das Vertrauen bewahrt; als man nach der sizilischen Katastrophe die Schäden des Staats durch Einsetzung einer beratenden Behörde zu heilen suchte, war auch Sophokles unter den Gewählten. Wie in Äschylos lebte auch in ihm ein felsenfester Glaube an die Götter und die Herrlichkeit der Heimat und zugleich an die Ideale der freien Selbstregierung, ein Glaube, an dem er auch durch die trüben Erfahrungen der Kriegszeit nicht irre geworden ist, so wenig er die Exzesse billigen konnte, zu denen das Volk sich hinreißen ließ. Vielfach haben die Götter ihm durch Zeichen und Träume ihre Gunst erwiesen und bis zuletzt ihm bewahrt; im höchsten Alter, nachdem er eines seiner herrlichsten Dramen vollendet, haben sie ihn hinweggenommen, nach dem letzten Siege Athens, vor seinem Fall. Er verwaltete das Priesteramt des Heildämons Amynos am Fuß der Burg und hat in dieser Stellung dem Asklepios im Bezirk des Heros Aufnahme gewährt, als im Jahr 420 sein Kult von Epidauros nach Athen übertragen wurde. Zum Dank dafür ist Sophokles nach seinem Tode als Heros Dexion, »der Aufnehmer«, den Gottheiten des Bezirks angereiht und alljährlich durch ein Fest und Opfer verehrt worden939.

[771] Neben Sophokles steht Herodot ans der von Doriern aus Trözen gegründeten, aber nach Sprache und Art halb ionischen, halb karischen Stadt Halikarnaß. Er war geboren um die Zeit des großen Perserkriegs, von vornehmer Herkunft, ein Neffe des Epikers Panyassis, und wie dieser in die Wirren verflochten, welche die von Persien gestützte Tyrannis über seine Vaterstadt brachte (o. S. 499). Doch zeigt er für die kluge Frau, welche unter Xerxes in Halikarnaß das Regiment geführt hatte, in seinem Werk eine unverhohlene Sympathie. In seiner Jugend mag er mannigfach vom Schicksal umhergetrieben sein; zum Mann gereift hat er sich ganz an Athen und die Politik des Perikles angeschlossen. In der Herrschaft über die Bündner sah er nicht drückende Willkür und Selbstsucht, sondern das Heil der abhängigen Gemeinden und zugleich eine geschichtliche Notwendigkeit: nur so war die Freiheit gegen Persien zu behaupten. Die Energie der reinen Demokratie, durch die sich diese Staatsform über alle anderen bewährt hatte (V 66), mochte man theoretisch über die beste Verfassung denken, wie man wollte (o. S. 757), erfüllte ihn mit Bewunderung, ihr freiheitliches Ideal fesselte auch ihn. Seine Stimme fiel um so mehr ins Gewicht, da er weit in der Welt herumgekommen war und die Einrichtungen und Traditionen vieler griechischer und barbarischer Völker mit freiem Blick kennengelernt hatte. Von seinen Erkundungen erzählte er, wie so manche andere, in Vorträgen, die er bei griechischen Festen hielt. Vor allem in Athen hat er damit großen Anklang gefunden; Sophokles hat mehrfach Erzählungen, die er durch ihn kennengelernt hat, in seine Dramen verarbeitet (Antig. 905ff. Elektra 417ff. Oed. Kol. 337ff.; vgl. auch Trachin. 1ff.). Wenn schon das ein näheres Verhältnis der beiden Männer erweist, so tritt dasselbe noch deutlicher in der weitgehenden Übereinstimmung ihrer Anschauungen hervor. Denn Herodot ist zwar auf dem Boden des ionischen Rationalismus [772] erwachsen und hat seine Resultate übernommen (o. S. 755f.), aber in seinem Denken und Empfinden ist er über ihn hinausgeschritten; auch hier steht er durchaus auf dem Boden Athens. Daß er für Athen politisch tätig gewesen ist und mit Perikles in Verbindung gestanden hat, wird man nicht bezweifeln dürfen. Bei der Gründung Thuriis war auch er unter den vielen hervorragenden Männern, welche hier, wo Athens Ideale sich verwirklichen sollten, ein neues Heim suchten (o. S. 676); aber nach wenigen Jahren mußte er die Stadt verlassen, offenbar infolge des beginnenden Bruchs mit Athen (o. S. 677f.). In den folgenden Jahren finden wir ihn auf ausgedehnten Reisen, in Ägypten, in Asien und in Olbia; beim Ausbruch des Kriegs war er wieder in Athen. Damals hat er die Ergebnisse seiner Forschungen in einem großen, die ganze Weltgeschichte nach einheitlichem Plan umspannenden Werk zusammengefaßt: es schließt ab mit den Großtaten, durch die Athen die Perser abgewehrt und die sittliche und politische Berechtigung zu der Machtstellung gewonnen hat, welche jetzt seine neidischen und engherzigen Gegner nicht anerkennen wollen. Der Dank Athens für dies Bekenntnis vor ganz Hellas ist nicht ausgeblieben: auf Antrag des Anytos hat das Volk ihm eine Belohnung von 10 Talenten zuerkannt (Bd. IV1 S. 369)940.

Der Empirismus und der Fortschritt in der Erkenntnis, den er bedeutet, tritt besonders greifbar hervor in der Kritik, die Herodot an der alten, vom Anaximander begründeten Erdkunde der Ionier (Bd. III2 S. 700 übt. »Ich muß lachen«, sagt er IV 36, »wenn ich sehe, wie jetzt schon viele Leute Erdkarten zeichnen und dabei keiner verständig verfährt: lassen sie doch den Okeanos rings um die Erde fließen und zeichnen sie kreisrund, als sei sie mit dem Zirkel gebildet, und machen Asien (die südliche Erdhälfte) ebenso groß wie Europa (unser Europa und Nordasien)«, während doch zwar die südliche Welt von der Indosmündung bis zu den Säulen des Herakles umschifft, aber die Ausdehnung der nördlichen ganz unbekannt ist und man nicht weiß, ob sie im [773] Osten und Norden umschiffbar ist. »Der Okeanosfluß941 ist eine Erfindung Homers oder eines älteren Dichters»; kein Mensch hat ihn je gesehen, so wenig wie die Zinninseln oder den Eridanos oder die Hyperboreer – »gäbe es ein Volk, das jenseits des Nordwinds wohnt, so müßte es auch eins jenseits des Südwinds geben.« Wie man sieht, verwirft diese Anschauung, infolge der Absperrung des Westmeers durch die Karthager, auch Kenntnisse, welche die frühere Zeit schon gewonnen hatte, ebenso wie es drei Jahrhunderte später Hipparchos gegenüber Eratosthenes getan hat; was beide Anschauungen auszeichnet, ist der gesunde Wirklichkeitssinn, der sich nirgends von den Realitäten entfernen will und jede Konstruktion zu vermeiden sucht942, wenn es ihm natürlich auch nicht immer gelingt. Mit demselben offenen Auge schaut Herodot in das Völkerleben, mit lebhaftestem Interesse für alles Wirkliche und Charakteristische in Land und Leuten, in Denkmälern, Institutionen und Traditionen, und ohne jede Spur der späteren Überhebung der Hellenen über die Barbaren, die überhaupt der Perikleischen Zeit so gut wie Äschylos und den Älteren noch ganz fern liegt; im Gegenteil, in vielen Dingen sind die Fremden den Griechen überlegen und ihre Lehrmeister gewesen. »Die menschlichen Dinge sind ewig unbeständig, was früher groß war, ist jetzt klein und umgekehrt; so soll man an nichts vorübergehen.«

Derselbe Wirklichkeitssinn beherrscht Herodots religiöse Anschauungen. Die Ergebnisse der rationalistischen Sagenkritik sind für ihn erwiesen, und er hat sie unbedenklich übernommen und weitergebildet. Aber ebenso erwiesen ist die Existenz der göttlichen Mächte, auch wenn der Mensch über ihr Wesen eine sichere Erkenntnis nicht gewinnen kann (o. S. 755f.), ihr ununterbrochenes Eingreifen in das menschliche Schicksal, die Wahrheit der Orakel und Weissagungen (o. S. 759), ebenso erwiesen aber auch, daß die[774] Götter ihr Regiment nicht nach den Forderungen des ethischen Postulats führen. Sie haben dem Menschen das Sittengesetz und die kultischen Gebote auferlegt und sie ahnden jede Übertretung; aber im übrigen schalten sie souverän nach Gutdünken und Laune wie ein absoluter Herrscher. Der Volksglaube hat ganz recht, wenn er von ihrem Neide redet: sie gönnen dem Menschen das höchste Glück nicht, sie stoßen ihn erbarmungslos ins Verderben, wenn er sich über seine Sphäre erhebt. Wie weit die Götter selbst wieder durch eine höhere Macht gebunden sind (o. S. 762), darüber ist sich Herodot schwerlich selbst klar gewesen. Bei manchen Vorgängen ist es möglich, die konkrete göttliche Macht zu erkennen, die wirksam gewesen ist; im allgemeinen kommt der Mensch nicht über die Tatsache hinaus, daß über ihm ein unerbittliches Geschick waltet, das urplötzlich in sein Leben eingreift und ihn erhebt oder ins Verderben stürzt, und daß die Götter dies Geschick kennen und, wenn sie wollen, durch ihre Sprüche voraus verkünden. Diese Einwirkungen aufzudecken, die überall die menschlichen Motive kreuzen, ist eine Hauptaufgabe der Geschichtserzählung; durch das ganze Werk Herodots zieht sich ein übernatürlicher Pragmatismus. Die Götter lassen die Menschen nicht zur Ruhe kommen und ihres Lebens nicht froh werden; auch in der Gegenwart überwiegt trotz aller Erfolge die Not und die Sorge weitaus. Bei Sophokles ist die Grundanschauung dieselbe. In jedem seiner Dramen verkündet er die Allmacht der Götter und die Ohnmacht menschlicher Einsicht und menschlicher Kraft. Ohne die Götter ist der Mensch nichts; für ihn gibt es keine Rettung, als sich mit Ergebung in ihren Willen zu fügen. »Blicke auf Aias' Geschick«, mahnt Athena den Odysseus, »und sage nie ein frevelndes Wort gegen die Götter noch überhebe dich, wenn du durch Kraft oder Reichtum andere überragst. Wie der Tag stürzen und fallen alle menschlichen Dinge; aber den Besonnenen lieben die Götter, und den Schlechten hassen sie« (Aias 132). Ob sie dem Sterblichen Gnade gewähren, ist ihr freier Wille. »Möge mir das Los gewährt sein, in frommer Reinheit durch das Leben zu gehen in Worten und Werken«, betet der Chor des »Ödipus«. Weil Sophokles die Götter hinnimmt, wie die Erfahrung sie erkennen läßt, genügen ihm [775] für das Geschick seiner Helden Motive, bei denen sich Äschylos niemals beruhigt hätte. Daß Artemis den Griechen die Ausfahrt verweigert und das Opfer der Iphigenia fordert, weil Agamemnon sie beleidigt hat, ist ihm nichts Anstößiges. »An Philoktetes' Geschick«, sagt Neoptolemos, »ist mir nichts wunderbar: seine Leiden sind, wenn ich vernünftig zu urteilen vermag, eine Schickung der Götter, damit die Troer durch sein Geschoß nicht eher bezwungen werden, als die vom Schicksal bestimmte Zeit gekommen ist.« Herodot würde ebenso reden. Daß dadurch Unschuldige leiden müssen, kümmert diese Anschauung nicht; darein muß der Mensch sich fügen. Vollends wenn der Gott gesprochen hat, ist damit die Frage erledigt. Apollo hat dem Orestes den Muttermord geboten, also ist er gerecht; die Skrupel, die Äschylos quälen, existieren für Sophokles nicht.

So mischt sich ein tragischer Zug in die Weltanschauung der Zeit und der Männer, die so Gewaltiges und Wunderherrliches geschaffen haben. Man möchte das Leben voll auskosten, den flüchtigen Genuß festhalten, in dauernder Sicherheit sich wiegen: aber das haben die Götter dem Menschen vorenthalten. Nur den vergänglichen Augenblick gewähren sie ihm, und dafür häufen sie Mühen und Leid und stürzen ihn aus den kühnsten Entwürfen in die Ohnmacht hinab. Wohl mag das trübe Gedanken wecken, und oft genug haben ihnen wie Herodot so die Tragiker ergreifenden Ausdruck verliehen (o. S. 760ff.). Aber das ist kein lebensmüder, krankhafter Pessimismus, wie man wohl gemeint hat, sondern viel eher ein Zeichen der innerlichen Gesundheit dieser Kultur. Sie schafft sich kein utopisches Idealbild des menschlichen Lebens, sondern nimmt es, wie es ist. Gerade Sophokles, dem keine menschliche Empfindung fremd ist, hat auch die Schwere des Menschenschicksals nur um so voller empfunden, weil er ein lebensfroher und genußfähiger Mensch blieb bis an sein Ende. Als Gegenbild hat er in einem berühmten Chorlied der »Antigone« die Allmacht des Menschen geschildert, der die ganze Natur beherrscht, Meer und Erde und alle Tiere, der Sprache und Staatsordnung und Schutz gegen Sturm und Regen erfunden hat; »erfindungsreich trifft ihn kein Geschick ohne Ausweg; nur dem [776] Tod zu entfliehen wird er kein Mittel finden; aber der heillosen Krankheiten Heilung hat er ersonnen.« Doch nur um so mehr soll der Mensch die Grenzen der Menschheit innehalten: sie dem Zuschauer ins Bewußtsein zu führen, ihn bis in sein Innerstes zu erschüttern, das ist die große Aufgabe des tragischen Dichters. Er vermag auch das Gegenmittel zu geben, welches den Menschen erhebt, wenn es ihn zermalmt hat. Vor dem furchtbaren Menschenschicksal, das er enthüllt, flüchtet er in das Anschauen der göttlichen Majestät. Sophokles ist eine weit tiefere religiöse Natur als Herodot, und er erzählt nicht Geschichten, sondern bearbeitet die heilige Überlieferung für die Erbauung der Volksgemeinde am Gottesfest. So tritt bei ihm die Macht der göttlichen Persönlichkeit ganz anders in den Vordergrund als bei dem Ionier. »Glücklich«, singt der Chor der Antigone, »deren Leben ohne Leid dahinfließt. Wo aber Gott das Haus erschüttert, da hört das Unheil nicht auf von Geschlecht zu Geschlecht. Von alters her trifft Schlag auf Schlag das Labdakidenhaus, ein Gott stürzt es nieder, ein Geschlecht um das andere; jetzt mäht auch den letzten Sproß die blutige Sichel der unterirdischen Götter, der Rede Unverstand und des Geistes Betörung. Aber Deine Gewalt, Zeus, welcher Mensch könnte sie töricht zwingen, die kein Schlaf und keine Zeit fesselt; ohne zu altern thronst Du ewig in des Olympos schimmerndem Glanze.« Immer aufs neue kehrt Sophokles zu diesem Gedanken zurück; die Anbetung der ewigen Herrlichkeit des Zeus, die Versenkung in sein Walten ist der einzige Trost, der dem schwachen Menschenkind in all seiner Not verbleibt. Auch hier ist die Gottheit keine Abstraktion, sondern wie bei den Juden eine ganz individuelle Gestalt voll Leben und ausgeprägter Eigenart, an die eben deshalb der Glaube sich anklammern kann.

Nur um so bedeutungsvoller ist es, daß trotz der Fülle der staatlichen Gottheiten, die Dichtung und Kunst immer individueller zu gestalten suchen, Sophokles wie Herodot und ihre ganze Zeit überall da, wo sie von den göttlichen Geboten, von dem Eingreifen des Geschicks, von der göttlichen Herrlichkeit sprechen, immer häufiger nicht von einem bestimmten Gott, sondern von »den Göttern« oder auch von »Gott« schlechthin oder von »der [777] göttlichen Macht» (τὸ δαιμόνιον, ὁ δαίμων) reden. Das ist erwachsen aus der volkstümlichen Redeweise, die, wo sie eine bestimmte Gottheit nicht zu nennen vermag, sich mit dem Gattungsnamen begnügt; selbständige Bedeutung hat der Ausdruck seit den Zeiten der Lyrik und der Sieben Weisen gewonnen (Bd. III2 S. 552. Die Persönlichkeit der einzelnen von Kultus und Tradition gegebenen Gestalten tritt zurück gegen eine neue, der Individualität entkleidete Gottheit, welche den Begriff der göttlichen Einwirkung in sich zusammenfaßt. Diese spürt man, in der Gottheit lebt man, und das muß genügen, mag sie sich nennen und beschaffen sein wie sie will; das ist dem Menschen zu erkennen versagt. Bei Xenophanes (Bd. III2 S. 705 ist diese abstrakte Gottheit bereits in den schroffsten Gegensatz zu den Göttern des Volksglaubens getreten. Das liegt Sophokles und seinen Gesinnungsgenossen ganz fern; aber wie seit dem Ausgang des Mittelalters die alten selbstherrlichen und sich oft genug schroff befehdenden Götter ihr Wesen innerlich gewandelt haben und zu Organen des Zeus geworden sind (Bd. III2 S. 673, so erwächst jetzt auf dem Boden des alten Glaubens eine neue religiöse Gestalt, welche, dem Gläubigen selbst unbewußt, die Volksreligion zersetzt und innerlich aufhebt. So herrlich und gewaltig der Zeus und die Athena des Phidias dastehen, so lebendig Sophokles an sie glaubt, über ihnen und ihren Genossen allen erhebt sich immer mächtiger der Begriff der Gottheit schlechthin, sie alle zusammenfassend und zugleich ihrer Individualität entkleidend.

Aber nicht überall ist es bei Sophokles die Gottheit oder der Wille des Zeus, der die Geschicke lenkt. Wie Herodot sagt, »es sollte dem Kandaules, dem Apriës, dem Skyles schlecht gehen«, ohne eine Gottheit zu nennen und ohne einen Versuch, ihr Geschick zu erklären, so erscheint auch bei Sophokles das Geschick oft genug als ein über den Menschen hereinbrechendes Verhängnis, für das eine Erklärung nicht gegeben wird, auch nicht durch den Willen der Götter. Nirgends ist das bestimmter ausgesprochen als im »Ödipus« (um 430 v. Chr.), der erschütterndsten seiner und überhaupt aller griechischen Tragödien. Recht eigentlich bildet das Menschenlos in seiner ganzen Furchtbarkeit den Gegenstand des [778] Dramas; so verschieden die Form und vielfach auch die Gedanken sind, gerungen hat auch Sophokles mit diesem Problem wie der Dichter des Hiob. In der »Antigone« (441 v. Chr.) hatte er, wie das Epos und Äschylos, den Geschlechtsfluch und die Verschuldung der Vorfahren betont (o. S. 777); im »Ödipus« wird das völlig ferngehalten. Der Held ist schuldlos, fromm und gerecht; durch seinen Scharfsinn hat er die Herrschaft gewonnen, sein Glück scheint unerschütterlich begründet; da packt ihn ein furchtbarer Dämon und zermalmt ihn. Warum gerade ihn, den Unschuldigen, dies Geschick trifft, kann niemand sagen und soll man nicht fragen; genug, daß die Erfahrung lehrt, daß zu jeder Stunde jeden Menschen das gleiche Schicksal ereilen kann. Nirgends behauptet der Dichter, daß sein Geschick von den Göttern ausgehe; aber sie haben gewußt, daß es so kommen müsse, und darum hat Apollo es voraus verkündet. Auch die Frage wird nicht aufgeworfen, warum Apollo das getan hat; und doch erfüllt sich das Geschick nur infolge seines Spruchs, indem die Eltern und Ödipus selbst versuchen, dem drohenden Verhängnis zu entgehen. Das ist des Gottes freier Wille, und kein Mensch kann ihn zwingen (v. 280). Aber jetzt hängt an der Erfüllung des Orakels die gesamte Existenz des göttlichen Weltregiments. »Wenn solche Taten zu Ehren kommen«, ruft der Chor aus, als Iokaste die Orakel gelästert und für nichtig erklärt hat, »was soll ich noch tanzen?« – das Gottesfest im Theater des Dionysos hätte keinen Sinn mehr, der Staat und die Welt würden zusammenstürzen, wenn Apollo nicht die Wahrheit spräche. »Nicht mehr werde ich zum heiligen Nabel von Delphi ziehen, nicht zum Apollo nach Abä, nicht nach Olympia zum Orakel des Zeus, wenn dies Wort sich nicht handgreiflich aller Welt offenbart. Aber, o Allbeherrscher Zeus, wenn Du in Wahrheit hörst, laß dies Dir nicht entgehen und Deiner ewigen Königsgewalt. Schon verwirft man die Göttersprüche des Laios943 und nirgends ehrt man Apollo mehr; es stürzen die Rechte der Götter« – der Dichter weiß, wie starken Anhang die Weltanschauung, [779] die er bekämpft, in seinem Publikum bereits gewonnen hat. Wenn das alles auf dem Spiel steht, was besagt dagegen das Schicksal auch des Besten und Frömmsten? Das Geschick, das sie zu wenden sich vermessen, müssen die Menschen eben dadurch selbst vollenden; Ödipus vollstreckt an sich selbst den grausen Fluch, den er über den Mörder seines Vaters verhängt hat. »Ihr Bürger meiner Heimat Theben, sehet, das ist Ödipus, berühmt durch die Lösung des Rätsels und seither der mächtigste Mann, so daß keiner ohne Neid zu meinem Glück aufblicken konnte; schaut, in welchen Abgrund furchtbaren Leids ich gestürzt bin. So preiset niemals einen Sterblichen glücklich, der noch ausspäht, jene letzte Stunde zu erleben, ehe er des Lebens Ziel erreicht hat vom Unheil unberührt.« Mit diesen Worten des Ödipus schließt das Stück. Die Macht der Götter und die Wahrheit ihrer Sprüche hat sich siegreich erwiesen; aber für den, den sie verworfen haben, gibt es keine Rettung; er muß es eben tragen. – Losgelassen indessen hat der Stoff den Dichter nicht, bis er nach langen Jahren, im höchsten Alter, einen zweiten Teil hinzufügte, die Erlösung des elenden Dulders. Die Himmlischen haben sich von ihm abgewandt, und ausgestoßen von den Menschen, in grimmer Verbitterung gegen die Welt, gegen sein Land und sein Haus zieht er als Bettler von Ort zu Ort, nur von der Tochter, die ihm treu blieb, geleitet und gepflegt. Aber die unterirdischen Mächte, denen er verfallen ist, nehmen ihn in Frieden hinweg von der Erde, und im Grabe waltet er als segenspendender Heros für das Volk von Athen, das ihm, dem Befleckten, den Schutz nicht versagte. Nur um so bezeichnender ist es, daß dem Dichter auch hier der Gedanke einer Theodizee, wie sie Äschylos versucht haben würde, ganz fernliegt. Eine Lösung nach den Grundsätzen menschlicher Gerechtigkeit fordert eben Sophokles überhaupt nicht mehr. Die Götter sind für ihre Taten dem Menschen nicht verantwortlich, so wenig wie Jahwe im »Hiob«; wie sie auch handeln, in das Geheimnis ihres Wesens vermag kein Mensch einzudringen944.

[780] Innerhalb der durch das Eingreifen des Schicksals und des göttlichen Willens gesetzten Grenzen waltet der menschliche Wille und damit die menschliche Freiheit. Die unverbrüchlichen Normen, nach denen der Mensch handeln soll, sind das Sittengesetz, das die Götter ihm auferlegt haben, und das Gebot des Staats, in dem und durch den allein er bestehen kann. Zwar hat Sophokles einmal einen seiner Helden sagen lassen (fr. 226): »Blicke auf die Götter, und wenn sie dich das Recht verlassen heißen, so mußt du danach handeln; denn nichts ist schimpflich, wozu die Götter den Weg weisen.« Aber das gilt doch nur, wenn ein unzweifelhaftes göttliches Gebot vorliegt, und dann werden die Götter selbst schon die Lösung geben, da sie eben weiter sehen als die Sterblichen; denn »weise ist niemand, außer wenn Gott es will.« Zwischen dem Sittengesetz und dem Gebot des Staats dagegen kann sich allerdings ein unlösbarer Konflikt erheben. Dann wird der wahrhaft edle Mensch seinem Gewissen folgen, wie Neoptolemos im »Philoktet« (408 v. Chr.), auch wenn er darüber zugrunde gehen sollte, und alles weitere den Göttern überlassen. In der »Antigone« erläßt Kreon das Gebot, die Leiche des Landesfeindes nicht zu bestatten, und verletzt dadurch gröblich die göttlichen Satzungen. Dagegen bäumt sich Ödipus' stolze Tochter auf: voll Verachtung schaut sie herab auf den Eindringling in das Königshaus, der nun, wo er die Macht hat, mit borniertem Eigensinn erzwingen will, was er für korrekt hält. Sie beruft sich auf ihre Pflicht als Schwester, auf die ewigen ungeschriebenen Gebote der Götter, welche kein menschliches Gesetz aufheben kann. Diese Gebote bestehen unverbrüchlich, und deshalb hätte Kreon seine Verordnung nie erlassen dürfen. Da er auf ihr beharrt, mußten die Götter sein Verbrechen strafen, und wir sehen, wie sie durch Vorzeichen ihren Unwillen [781] zu erkennen geben; die Strafe, die Tiresias ihm verkündet, vollzieht sich vor unseren Augen. Aber das Gebot der Staatsgewalt, mag es auch im Widerspruch mit den Stimmungen des Volks erlassen sein (v. 690ff. 733ff.), darum als nichtig zu behandeln, hat Sophokles ein sehr berechtigtes Bedenken getragen. Indem Antigone es mit rascher Tat übertritt, bereitet sie sich selbst das Verderben; der Chor mißbilligt ihr Verhalten in scharfen Worten (v. 853ff. 872ff., vgl. 603. 821. 929). Als wilde Tochter eines wilden Vaters hat der Dichter sie gebildet (v. 471. 593ff.), voll rücksichtsloser Leidenschaft und trotzigen Selbstbewußtseins, unfähig, auf die Stimme der Vernunft zu hören; so fällt sie dem Geschick anheim, das ihrem ganzen Haus den Untergang bereitet hat. In gewaltigem Liede preist der Chor die Macht des Menschen, der die Natur sich untertan gemacht hat945 (o. S. 776f.): »Im Besitz über Verhoffen kluger Erfindungen wendet er sich bald zum Bösen, bald zum Guten. Wer der Heimat Gesetzen gehorcht und der Götter beschworenem Recht, steht hoch da im Staat: staatlos ist, wer in Frevelmut das Schlechte übt. Möge nicht an meinem Herde weilen noch meiner Partei angehören, wer solches tut.« Da wird Antigone hereingebracht; so trifft sie der Spruch des Chors. Der Dichter selbst denkt über das Problem offenbar ebenso wie Sokrates es im Leben und im Tode bewährt hat: kein Gebot kann den Menschen zwingen, selbst eine schlechte Handlung zu begehen, aber dem Gesetz des Staats muß er sich fügen und willig leiden, auch wenn es ihm unrecht tut.

Auch für diese Weltanschauung ist wie für das Judentum die Gottesfurcht der Weisheit Anfang und Ende, so verschiedenartig sich im übrigen beide Kulturen gestaltet haben – dort eine eng geschlossene staatlose Kultur, die alles auf das religiöse Problem zuspitzt und alles andere von sich ablehnt, hier das Streben nach Universalität, nach voller Erfassung des gesamten menschlichen Lebens, getragen von einem mächtigen schöpferischen Staat, der mit den größten welthistorischen Aufgaben ringt. Vielleicht läßt sich der Gegensatz dahin fassen, daß es sich im Judentum um das [782] Verhältnis der Gottheit zum Menschen handelt, im Griechentum um das des Menschen zur Gottheit, als eins der vielen Probleme des menschlichen Lebens, allerdings eins, das noch eine beherrschende Stellung über allen anderen behauptet und durch feste Glaubenssätze beantwortet wird, nicht durch Sätze wissenschaftlicher Erkenntnis. Die volle Lösung der Aufgaben des Historikers war bei dieser Weltanschauung noch unmöglich. Freilich ist Herodot weit entfernt von dem religiösen Pragmatismus des Judentums, der die Tatsachen nach den Forderungen des Glaubens modelt; aber die treibenden Kräfte des geschichtlichen Lebens darzulegen ist er nicht imstande; es genügt ihm bei den großen Entscheidungen, daß das Schicksal oder die Götter es so gewollt, die Orakel es so voraus verkündet haben. Allerdings will Herodot seine Leser nicht nur unterhalten, auch nicht nur ihre Kenntnisse erweitern, sondern zugleich sie politisch belehren; aber eine Wissenschaft ist ihm die Geschichte nicht. Die Art, wie Thukydides die Probleme stellt und beantwortet, würde ihm völlig unverständlich gewesen sein. Selbst zu den Versuchen einer schärferen Charakteristik der Persönlichkeiten, wie sie gleichzeitig Ion und Stesimbrotos unternahmen (o. S. 766), finden sich bei ihm keine Ansätze. So beruht der einzigartige Reiz seines Werks vor allem auf seinem epischen Charakter, auf den anmutigen und treffenden Schilderungen von Land und Leuten, auf dem eminenten Erzählertalent des Verfassers. – Von der Dichtung dagegen fordern wir nicht wissenschaftliche Erkenntnis, sondern ein ideales Abbild des menschlichen Lebens mit all seinen Wirren und Leidenschaften und Kämpfen, und diese Aufgabe kann ein poetischer Genius wie Sophokles um so vollkommener lösen, gerade weil er in seinem Glauben fest ist, aber die Realitäten des Lebens als gegebene Tatsachen anerkennt. Darum kann er auch die Sage nehmen, wie sie überliefert ist. Er ringt nicht mit dem Stoff wie Äschylos und wie vom entgegengesetzten Standpunkt aus Euripides, er korrigiert ihn weder aus rationalistischen noch aus ethischen Motiven, sondern formt ihn nur für die poetischen Bedingungen des Dramas. In jeder Sage, die er ergreift, findet er das Substrat für die Schilderung menschlicher Probleme und Charaktere und des gewaltigen [783] Menschenschicksals. Eben darum ist er der menschlichste der großen attischen Tragiker, derjenige, der trotz der Fremdartigkeit mancher seiner Stoffe auf eine ferne Zeit und ihr Empfinden am unmittelbarsten zu wirken vermag.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 767-784.
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