Die inneren Gegensätze. Die Probleme und die Individualität

[749] Seit Athen zur Zeit Solons und dann unter Pisistratos aus dem Sonderdasein eines Kantonstaats herausgetreten war, hatte es Einflüsse und Anregungen von überall her in Fülle aufgenommen. Aber an seiner Eigenart hatte es festgehalten, sich dem Fremden nicht willenlos hingegeben, sondern es sich assimiliert und innerlich umgewandelt: es war etwas Neues, was in Athen in die Erscheinung trat, in Staat und Religion, in Dichtung und Kunst. Die Demokratie hat die von der Tyrannis geschaffenen Grundlagen wohl erweitert, aber nicht verlassen. Mächtig hatte sich die Staatsidee erhoben, mit neuem, bisher ungeahntem Inhalt erfüllt durch die gewaltigen Aufgaben der Zeit, bereit, alle Seiten des Lebens zu umfassen und zu durchdringen; und eben deshalb stand die heimische Religion und mit ihr die alte Sitte noch unerschüttert. Alle Strömungen der religiösen Entwicklung von Hellas fanden [749] sich in der attischen Staatsreligion vereinigt: die individuell ausgeprägten Gottheiten der Adelszeit und der homerischen Welt, die mystischen Kulte der Volksreligion, die geheimen Offenbarungen der orphischen Theologie. Auch fremde Dienste nahm man bereitwillig auf, so die wilde thrakische Kriegsgöttin Bendis und den phönikischen Adonis. Über all diesen Gestalten erhob sich beherrschend die gewaltige Göttin der Burg, Zeus' Tochter Athena, die lebendige Verkörperung Athens und all seiner Interessen, des Staats und der Industrie, des Kriegs und der Marine, und vor allem der ethischen und politischen Ideale, welche das Volk bewegten. Wie hätte man an dem Dasein dieser Götter zweifeln können, wo sie tagtäglich ihren mächtigen Schutz so sichtbar erwiesen? Peinlich gehorchte man den Weisungen, welche Apollo, der untrügliche Prophet des Zeus, zu Delphi durch den Mund der Pythia verkündete; auch bei anderen Orakeln suchte man Belehrung, so in Dodona und selbst beim Ammon in der Libyschen Wüste (Aristoph. av. 716). Auch die Sprüche der Weissager standen in hohem Ansehen und sind bei der Gründung von Thurii (o. S. 675f.) und ähnlichen Unternehmungen sorgfältig befolgt worden – freilich erfuhr man oft genug, wie viel Unzuverlässigkeit und Trug ihnen anhaftete. An den Segen für dieses und jenes Leben, den die Göttinnen von Eleusis und Dionysos, als sie noch auf Erden weilten, in geheimen Riten offenbart hatten, klammerte man sich mit gläubigem Herzen. »Dreimal glücklich jene Sterblichen,« sagte Sophokles (fr. 753), »die diese Weihen geschaut haben, ehe sie in den Hades gehen; denn für sie allein gibt es hier ein Leben, den anderen ist alles dort schlimm.« Wehe dem, der es wagen sollte, die Mysterien zu profanieren oder dem Ungeweihten zu enthüllen! In den Weihen, den Reinigungen und Speisegeboten der Orphik und verwandter Lehren suchten nicht Wenige ihr Heil; wie stark diese Strömung war, zeigen viele Dramen des Euripides (Hippolytos, Kreter u.a.) und später die Schriften Platos. Aber das sind doch wieder nur einzelne Kreise; das Volk als Ganzes ist mit seinen Interessen völlig dem Diesseits zugewandt. Zwar ist es heilige Pflicht, die Toten zu ehren, auch ist man überzeugt, daß sie den Nachkommen Segen spenden aus ihren Gräbern, wie sie die [750] heimsuchen, die ihnen versagen, was ihnen zukommt. Aber zu einem lebendigen Unsterblichkeitsglauben hat sich das nicht verdichtet. Mit der Bestattung oder Verbrennung löst sich der Mensch in seine Elemente auf, die Erde nimmt den Leib, der Äther die Seele, den Lebenshauch; nur seine Taten, sein Nachruhm überlebt den Menschen, sonst ist sein Dasein mit dem Tode vorbei932. – Aber um so mächtiger sind die Forderungen, die das Leben, die menschliche Gemeinschaft, der Staat hier auf Erden an jeden Einzelnen stellt. Noch herrscht die alte Zucht, der Glaube an Ehrbarkeit und Rechtlichkeit, die Pflicht der unbedingten Hingabe des Bürgers an den Staat. Auch wer sich im Innern über die Sittengebote hinwegsetzte, mußte sie wenigstens mit den Lippen bekennen. Die bildende Kunst, das Drama, die Leichenrede suchen diese Anschauungen zu verkörpern; immer von neuem führt die Tragödie in den Gestalten des Theseus und der Athena dem Volk die sittlichen Ideale vor, an die es glaubt oder wenigstens glauben möchte. Eine tiefe Kluft trennt Athen von der innerlich zersetzten, aufgeklärten und staatlos gewordenen ionischen Welt; trotz zahlreicher Übereinstimmungen in Sitte und Kunst, trotz der altererbten, durch die Schöpfung des Reichs mächtig gesteigerten materiellen und kulturellen Verbindung steht Athen um 460 den festländischen Griechen und selbst der spartanischen Bürgerschaft noch weit näher als den Bündnern in Asien. Aus dem Ernst seiner Überzeugungen machte man kein Hehl. Einzelne Zweifel und Spöttereien mochte man dulden; aber als Diagoras von Melos, ein chorischer Dichter, der früher selbst die Macht der Götter verherrlicht hatte, durch trübe Lebenserfahrungen verführt, in einer Schrift, den »vom Turm stürzenden Reden«, die Existenz der Götter leugnete, da sie die Frevel der Menschen unbestraft ließen, ächtete man ihn für das ganze Reichsgebiet, wie die Tyrannen und die medischen Unterhändler, und setzte einen Preis auf seinen Kopf; [751] auch die Peloponnesier forderte man auf, an seiner Verfolgung teilzunehmen933.

Der herkömmliche Jugendunterricht in Athen (vgl. o. S. 408., 744) war durchaus auf die Ideale der alten Zeit gerichtet; was in anderen Staaten Alleinbesitz des Adels oder der Reichen war, sollte er dem gesamten Volke übermitteln. Gymnastische und musische Ausbildung (im weitesten Sinne, sowohl ästhetisch wie sittlich) waren die Aufgaben der Erziehung. Der junge Athener lernte Turnen und andere körperliche Übungen als Vorbereitung für die Wettkämpfe und den Krieg, Tanzen, Singen und Zitherspiel, Lesen und Schreiben und die Kenntnis der Schätze der alten Poesie. An ihnen [752] bildeten sich zugleich die religiösen und sittlichen Anschauungen; die großen Dichter waren die inspirierten Verkünder aller höheren Weisheit und aller Moral. Damit war der Knabe, so glaubte man, genügend vorbereitet für die Ausübung seiner Bürgerpflichten. Was er außer der Einprägung der sittlichen Grundsätze noch etwa nötig hatte, um ein Amt zu bekleiden oder in der Volksversammlung zu wirken, das ließ sich nicht lehren, er mußte es aus Eigenem erwerben oder sich an dem Beispiel der Älteren bilden; und was er für sein Gewerbe brauchte, lernte er vom Vater oder vom Lehrmeister. Der Gedanke einer methodischen Schulung für das praktische Leben lag der Erziehung ebenso fern wie der einer Schulung des Verstandes oder gar einer Übermittlung wissenschaftlicher Kenntnisse. Auch das spätere Leben bot dazu zunächst noch wenig Anlaß. Man vernahm wohl von den seltsamen Männern, welche in der Fremde, in Ionien und Italien, eine wunderliche Weisheit verkündeten und alle Dinge im Himmel und auf Erden gar anders erklärten, als die geheiligte Tradition lehrte, man verspürte auch wohl eine mit unheimlicher Scheu gemischte Neugierde, etwas Genaueres davon zu erfahren, und wenn einzelne von ihnen, wie Parmenides und Zeno aus Elea (u. S. 865ff.) und später Diogenes von Apollonia und Hippo von Samos (u. S. 876), nach Athen kamen, mochten ihre Vorträge starken Zulauf und manche Gläubige finden. Aber eine tiefere Wirkung konnten sie nicht ausüben; dazu trat ihr in sich geschlossenes und apodiktisch vorgetragenes Weltsystem den Anschauungen der Menge viel zu unvermittelt gegenüber. Ihre Schriften vollends waren den Laien so gut wie unverständlich. Auch Anaxagoras von Klazomenä, der sich um 460 dauernd in Athen niederließ, hat zwar einen Schülerkreis um sich gesammelt und einem Perikles den festen inneren Halt gegeben; aber der Masse blieben er und seinesgleichen immer fremd und unverständlich. Noch geringer vielleicht war die Wirkung, welche die Fortschritte der technischen Wissenschaften, der Medizin, Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Ingenieurwissenschaft üben konnten. Wo die Ergebnisse einmal vor das große Publikum traten, wie in den Kuren bedeutender Ärzte oder in Metons Kalender und Wasserleitung (u. S. 845), [753] wurden sie wohl angestaunt; aber im übrigen galten diese Männer, oft nicht ohne eigene Schuld, für eine Art Charlatans (u. S. 882), und niemandem, den sein Beruf nicht darauf anwies, kam es in den Sinn, sich das Wissen der Fachleute anzueignen. – Im übrigen Griechenland dachte man nicht viel anders, selbst nicht in der aufgeklärten ionischen Welt. Einem so lebhaft interessierten und an Kenntnissen die meisten seiner Zeitgenossen so weit überragenden Mann wie Herodot von Halikarnaß, der sein Geschichtswerk kurze Zeit, nachdem Meton seinen Kalender aufgestellt hatte, in Athen selbst geschrieben hat, ist die wahre Länge des Jahres und das Wesen des griechischen Schaltsystems gänzlich unklar (I 32. II 4). Ebensowenig weiß er etwas von der Kugelgestalt der Erde; daß die Sonne in Indien des Morgens am heißesten scheint (III 104), ist ihm ebenso selbstverständlich wie der Erfahrungssatz, daß, wenn es geschneit hat, es innerhalb fünf Tagen regnen muß (II 22). Dagegen, daß bei der Umschiffung Afrikas den Phönikern die Sonne zur Rechten, im Norden, gestanden habe, hält er für erlogen (IV 42), wenn es auch einige Leute glauben. Die Finsternisse sind ihm Wundererscheinungen: von ihren Ursachen hat er keine Ahnung, obwohl er selbst erzählt, daß bereits Thales eine Sonnenfinsternis vorausverkündet hat (I 74). Den Fachgelehrten waren diese Dinge längst bekannt; aber von den Laien wußten es höchstens einige wenige, wie Perikles, der Freund des Anaxagoras. Noch dem Thukydides ist es nicht über allen Zweifel erhaben, daß eine Sonnenfinsternis nur bei Neumond eintreten kann (II 28). Auch schwierigere Rechnungen richtig auszuführen wird Herodot sehr schwer und gelingt ihm nicht immer. In dieser vollständigen Ignorierung der Ergebnisse der fachwissenschaftlichen Forschung repräsentiert Herodot offenbar den Standpunkt des gebildeten Atheners und überhaupt der gebildeten Hellenen seiner Zeit. Nur um so bezeichnender ist es, daß die jedem Reisenden auffallende und daher populär gewordene Frage nach den Ursachen der Nilüberschwemmung den Schriftsteller zwingt, selbst eine natürliche Erklärung zu versuchen. Er verwirft die Deutungsversuche der Älteren, darunter den des Anaxagoras, der die richtige Erklärung aus der Schneeschmelze der äthiopischen [754] Berge gefunden hat, und fällt dafür dem phantastischen System des Diogenes von Apollonia zum Opfer, das eben in diesen Tagen in Athen einen großen Eindruck gemacht hatte. Im Anschluß an seine Lehre von dem Urprinzip der Luft erkennt er in den Winden die weltbeherrschenden Mächte: sie treiben im Winter die Sonne aus ihrer natürlichen Bahn nach Süden und zwingen sie dadurch, das Wasser, das sie im Sommer aus allen Flüssen an sich ziehen kann, allein dem Nil zu entnehmen. – Herodots Verhalten ist bezeichnend für das naive Selbstvertrauen, mit dem die Gebildeten alle Zeit die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung beiseite zu schieben geneigt sind, wenn sie der eigenen Meinung widersprechen; es zeigt aber auch, wie die Probleme, gegen die man die Augen verschließt, sich doch nicht abweisen lassen und gebieterisch zwingen, eine Lösung zu versuchen.

Mehr Interesse und Verständnis fand die von Ionien ausgehende rationalistische Behandlung der Überlieferungen. Hekatäos' Schriften wurden viel gelesen und fanden zahlreiche Nachfolger; die populären Erzählungen aus alter und neuer Zeit, welche die Geschichtenerzähler vortrugen und Herodot in seinem Werk gesammelt hat, sind sämtlich vom Rationalismus durchtränkt, wo immer auf griechischem oder barbarischem Boden sie spielen mögen. Göttliche Einwirkungen werden dadurch nicht ausgeschlossen; aber die Wunder werden durchweg in natürliche Vorgänge und menschliche Veranstaltungen umgesetzt, mag man von Krösos oder Kyros, von Herakles oder Pisistratos erzählen. Herodot billigt Hekatäos' Deutungen durchaus und geht in den Konsequenzen noch weiter934. Daß die Heroen Göttersöhne seien, ist Schwindel; sie stammen von gefallenen Mädchen ab. Kultur und Religion haben die Griechen von den viel älteren orientalischen Völkern übernommen, vor allem von den Ägyptern. Die Götter existieren und sind gewaltige reale Mächte, die zu verletzen oder deren Mysterien zu enthüllen man sich um so peinlicher scheuen muß, da eine sichere Erkenntnis auf diesem Gebiet nicht zu erlangen [755] ist, also an allem, was von ihnen erzählt wird, etwas Wahres sein kann: »Ich glaube«, sagt Herodot (II 3), »daß alle Menschen über die göttlichen Dinge gleich viel wissen.« Die Pelasger, die Urbevölkerung Griechenlands, haben sie noch ohne Namen verehrt, »denn die hatten sie noch nicht gehört«. »Woher jeder Gott abstammt oder ob sie alle von Ewigkeit her existierten und wie sie gestaltet sind, das wissen die Griechen sozusagen erst seit gestern und vorgestern; denn ihre Theogonie haben ihnen vor nicht mehr als vierhundert Jahren Hesiod und Homer gemacht, und diese haben den Göttern die Beinamen gegeben, Ehren und Berufe unter sie verteilt und ihre Gestalt angegeben« (II 52f.). Diese Ansichten hat Herodot in den letzten Jahren der Perikleischen Zeit mündlich und schriftlich in Athen vorgetragen, und wir wissen, wie großen Anklang er gefunden hat. Auf ähnliche Anschauungen werden die lokalen Geschichtsforscher durch die Widersprüche der poetischen und lokalen Traditionen und das Streben nach Veranschaulichung der Überlieferung überall gedrängt, auch wenn sie, wie etwa Pherekydes von Leros, der den Hesiod überarbeitete, durchaus religiös und gläubig gestimmt sind.

Das spezifische Athenertum dagegen hat sich auch hier möglichst ablehnend verhalten. Zum Teil liegt das an dem religiösen Charakter seiner Schöpfungen, des Dramas, der Leichenrede, der bildenden Kunst, die die mythische Tradition nicht kritisieren, sondern darstellen sollen; aber mit vollem Bewußtsein wird durchweg der Standpunkt der Gläubigkeit festgehalten, wie es sich für die gottesfürchtigste Stadt von Hellas geziemt. Und doch zeigt sich auch hier, wo immer man die älteren Schöpfungen mit den jüngeren vergleicht, im Grunde dieselbe Erscheinung, die Beiseiteschiebung des Wunders und des Übernatürlichen, die Herausbildung des rein Menschlichen in der Fassung und der Behandlung der dramatischen Probleme so gut wie in den Gestalten der bildenden Kunst. Die ganze Entwicklung des Äschylos ist ein ununterbrochenes Fortschreiten in dieser Richtung (o. S. 430f.); die jüngeren Meister aber, Sophokles und Euripides, so verschieden sie ihre Aufgabe erfassen, suchten von Anfang an in dem mythischen Stoff das menschliche Problem; ihre Gestalten [756] denken und handeln wie moderne Athener, nicht mehr wie Heroen einer fernen Vorzeit. Das volle Leben der Gegenwart ist es, was sie in ihren Dramen zu gestalten streben; erst innerhalb dieses Rahmens gewinnt für sie das religiöse Problem eine fundamentale Bedeutung, weil ihm eine solche im Leben eines jeden Menschen zukommt.

Aber wo immer man in das Leben hineinschaut und es in seinen Tiefen zu fassen sucht, stößt man auf die schwersten Probleme, auf Widersprüche, die unlösbar erscheinen. Die Welt ist nicht so einfach zu begreifen, wie der naive Glaube wähnt. Auf die Dauer konnte auch Athen sich nicht gegen die Zweifel und Bedenken absperren, welche seit Hesiod und Stesichoros den alten Glauben erst umgestaltet, dann in seinen Grundfesten erschüttert hatten und denen jetzt schon weite Kreise der Gebildeten in Ost und West zustimmten. Die freie Diskussion in Staat und Gesellschaft weckte überall die Kritik und den Zweifel; die jüngere Generation zumal schritt ohne viel Bedenken hinweg über die Sätze, die den Älteren als unumstößlich galten. Die radikale Demokratie war ein Ideal, durch das der alte Streit um die beste Gestaltung des Staats endgültig gelöst sein sollte; und innerhalb wie außerhalb Athens hatte sie durch ihre Prinzipien wie durch ihre Erfolge zahlreiche überzeugte Anhänger gefunden. Aber die Gegner waren nicht bekehrt, der Streit wollte nicht verstummen, und immer deutlicher wurden, je länger sie bestand, die Gebrechen, die auch ihr anhafteten, selbst dem befangenen Blick erkennbar: eine theoretische Diskussion über den besten Staat, wie sie nach Herodot beim Sturz des Magiers die sieben Perser geführt hatten (III 80ff.), konnte nur mit dem Ergebnis enden, daß jede der drei Staatsformen, Monarchie, Oligarchie, Demokratie, ebensoviel Mängel wie Vorzüge habe, daß das Problem daher unlösbar sei. Noch war der Bürgersinn eine lebendige Macht, und auf dem Schlachtfeld von Tanagra hatten die Aristokraten willig ihr Blut für den Staat verspritzt, dessen innere Gestaltung sie auf das heftigste bekämpften; eben durch die Größe seiner Aufgaben blieb Athen vor den blutigen Katastrophen bewahrt, welche so viele andere Staaten zerfleischt hatten. Aber der Gedanke [757] wurde doch laut, ob es von den Gegnern der bestehenden Ordnung zu verlangen sei, daß sie ihre Interessen derselben aufopferten, ob es nicht ihr Recht und ihre Pflicht sei, eine Umgestaltung des Staatswesens herbeizuführen, und sei es auch mit Hilfe des Landesfeinds. Noch galt das Sittengesetz als feste unverbrüchliche Norm, die die Götter den Menschen auferlegt hatten; aber oft genug führt es zu den schwersten sittlichen Konflikten, wie sie in typischer Gestalt der Fall des Orestes vorführt. Und auf Schritt und Tritt lehrte die Erfahrung, daß es Leute genug gab, die sich skrupellos darüber hinwegsetzten, ohne daß die göttliche Strafe sie ereilte. »Es ist arg«, sagt Sophokles einmal (fr. 103), »daß es den Gottlosen und schlechtem Reis Entstammten gut geht, während die Braven und Edelgeborenen im Unglück leben. So hätte das Schicksal (δαίμονες) es nicht für die Sterblichen einrichten sollen: die Frommen müßten einen sichtbaren Gewinn von den Göttern erhalten, die Ungerechten eine sichtbare Strafe, kein Schlechter sollte glücklich sein.« Aber nur zu oft ist das Gegenteil der Fall; die einfältige Rechtlichkeit und Ehrlichkeit erliegt im Leben, im Staat, vor Gericht, der rücksichtslose und verschlagene Egoist triumphiert. Ist es da richtig, wenn der Mensch all seine Interessen den sittlichen Geboten unterordnet? Sind Gesetz und Sitte überhaupt eine absolute, gottentstammte Norm für den Menschen? Bei jedem Volk und in jeder Stadt lauten sie anders, und jeder hält die seinen für die richtigen: die Kallatier in Indien verzehren ihre Eltern, wenn sie zum Sterben kommen, die Griechen verbrennen sie, und auch durch die größten Geschenke, erzählt Herodot (III 38), konnte Darius keine von beiden bewegen, den gegenteiligen Brauch anzunehmen. So erweist sich wohl, daß Pindar recht hat, wenn er die Sitte als den König aller bezeichnete; aber ist diese Sitte dann noch mehr als willkürliche Menschensatzung? Bestimmt doch jeder Staat durch seine Gesetzgebung nach Belieben, was hinfort Recht sein soll. Man erzählt, daß der junge Alkibiades (geb. 450) seinen Vormund Perikles einmal gefragt habe, was Gesetz sei; auf die Antwort, es sei das, was die gesetzgebende Gewalt bestimme, weist er nach, daß ein solches Gesetz wie in der Monarchie und in der Oligarchie [758] so auch in der Demokratie nichts anderes sei als Willkür des Trägers der gesetzgebenden Gewalt, ein von dem Stärkeren den Abhängigen aufgelegter Zwang, daß sich also Gesetzlichkeit von Gewalt und Gesetzlosigkeit in nichts unterscheide (Xen. Mem. I 2,40ff.). Von solchen Ansichten war der Weg nicht weit zu der Konsequenz, daß Recht und Gesetz den Einzelnen sittlich nicht binden, auch wenn er sich tatsächlich ihnen fügen muß, daß es für ihn keine andere Richtschnur gibt als seinen persönlichen Vorteil, und daß, wer sich durch ethische Grundsätze betören läßt, auf den Namen eines Weisen keinen Anspruch erheben darf, mag ihn die blinde Menge noch so sehr bewundern. Ausgesprochen haben das zu allen Zeiten nur einzelne; um so zahlreicher waren die, welche bewußt und unbewußt danach handelten, im privaten wie im öffentlichen Leben.

Noch schwerer vielleicht wiegen die religiösen Bedenken. Oft genug scheint sich die unmittelbare Wirksamkeit der göttlichen Mächte im Leben der Men schen und der Staaten handgreiflich zu erweisen. Die heilige Geschichte illustriert sie durch zahlreiche Exempel, und Herodot findet sie in den historischen Ereignissen auf Schritt und Tritt, so daß ihm, auch wenn er nicht zu erkennen vermag, wer und wie beschaffen im Einzelfalle das göttliche Wesen ist, doch Existenz und Eingreifen der Götter in die Geschichte über jeden Zweifel erwiesen ist. Dasselbe gilt von den Orakeln der Götter und auch von den Sprüchen menschlicher Weissager. »Wo Bakis die Ereignisse der Schlacht von Salamis so deutlich vorherverkündet hat«, sagt er VIII 77, »bin ich nicht imstande, die Wahrheit der Weissagungen zu bestreiten, und will nicht den Versuch machen, sie herunterzureißen. So wage denn weder ich selbst, mich auf die Diskussion über Weissagungen einzulassen, noch dulde ich es von anderen.« Aber eben diese Worte beweisen, wie lebhaft damals die Diskussion über diese Fragen im Gang war. Auch bei Sophokles erkennt der Chor im »Ödipus« an, daß über menschliche Weissagungen eine sichere Entscheidung nicht möglich ist (v. 498ff.); freilich lehrt gerade hier der Ausgang, daß Tiresias durch seine Kunst die Wahrheit richtig erkannt hatte. An der unbedingten Zuverlässigkeit der [759] Orakel vollends ist für Sophokles kein Zweifel; mehr als eines seiner Dramen (Ödipus, die Aleaden u.a.) erweist sie. Indessen wer nicht so religiös gestimmt war, konnte zahlreiche Fälle anführen, wo die Göttersprüche, statt dem Menschen die rechte Weisung zu geben, nur Unheil angestiftet und ihn durch ihre Zweideutigkeit erst recht in die Irre geführt hatten; und nicht jeder beruhigte sich wie Herodot bei der gekünstelten Rechtfertigung, die man von Delphi aus für das Verhalten des Orakels gegen Krösos und beim Zuge des Xerxes in Umlauf setzte. Der Zweifel, ob es überhaupt zuverlässige Weissagungen und Orakel gibt, führt weiter zu dem Zweifel an der Existenz des göttlichen Weltregiments überhaupt. Seine spezifische Färbung erhält dieser Zweifel, genau wie bei den Juden, die um die gleiche Zeit aufs ernstlichste mit demselben Problem rangen (o. S. 186. 213.), durch den Konflikt zwischen dem Gottesglauben und dem ethischen Postulat. Die optimistische Anschauung der Zeit der Sieben Weisen, daß die Götter nach den Forderungen der ewigen Gerechtigkeit ihr Regiment führen, den Guten belohnen, den Bösen strafen, hat in Attika niemals Wurzel schlagen können; vielmehr war hier die alte volkstümliche Anschauung lebendig geblieben, welche in ihnen gewaltige, unheimliche Wesen sah mit wilden Leidenschaften und unbezwinglichen Trieben. Zwar haben sie den Menschen viele Segnungen verliehen, Athen vor allem die Frucht des Feldes, den Ölbaum und den Wein und alle Künste der Gesittung und den hehren Segen der Mysterien. Auch das Sittengebot haben sie ihnen auferlegt samt allen Satzungen des Kultus und äußerer und innerer Reinheit, und streng ahnden sie ihre Übertretung. Aber sie selbst handeln nicht nach sittlichen Gesetzen, und peinlich wachen sie über ihrer Sphäre; sie haben den Menschen in die Nöte des irdischen Lebens gebannt und treiben ihr Spiel mit ihm, und wehe dem, der sie beleidigt, der ihnen die Ehren versagt oder ihnen gleich zu werden sucht, und sei es auch nur durch übermäßiges Glück. Die düstere Auffassung vom Leben, welche bei Hesiod zuerst zum Durchbruch kommt, beherrscht die in Attika ausgebildeten Lehren der Orphik vollkommen (Bd. III2 S. 686. Die Theodizee, welche in hartem Ringen Äschylos wieder [760] und wieder versucht hatte, vermochte auf die Dauer keine Lösung zu gewähren; zu sehr widersprach sie den offenkundigen Erfahrungen. »Ich weiß, daß jede göttliche Macht neidisch und geneigt ist, das Bestehende zu stürzen«, sagt Solon bei Herodot, sehr im Widerspruch mit den Ansichten des geschichtlichen Solon; das Geschick des Kandaules, des Krösos, Apriës, Polykrates, Xerxes und so vieler anderer mächtiger Herrscher erweist immer aufs neue die Wahrheit dieses Satzes. »Besonnene Erwägung«, läßt Herodot den Artabanos zu Xerxes sagen, »ist wohl das Beste, was der Mensch leisten kann, und hebt seinen persönlichen Wert; aber eine Garantie gegen das Schicksal gibt sie nicht. Du siehst, daß Gott die überragenden Tiere mit dem Blitz trifft935 und nicht prunkend einherstolzieren läßt, die kleinen aber ärgern ihn nicht. Ebenso richtet er immer auf die größten Häuser und Bäume seine Geschosse; denn Gott liebt, alles Überragende zu stutzen. So kann auch ein großes Heer durch ein kleines vernichtet werden, wenn Gott neidisch einen Schrecken oder einen Donner auf sie wirft, so daß sie unwürdig ihrer zugrunde gehen. Denn Gott läßt niemanden hoch denken als sich selbst.« Als Xerxes beim Übergang über den Hellespont sein Heer mustert, preist er zunächst sich glücklich, dann aber bricht er in Tränen aus, weil ihm in den Sinn kommt, daß von all den Myriaden nach hundert Jahren keiner mehr am Leben sein wird. »Und noch bejammernswerter ist es«, sagt Artabanos, »daß in diesem kurzen Leben kein einziger Mensch so glücklich ist, daß er nicht oftmals wünschen wird, lieber tot zu sein als lebend. Unglücksfälle und Krankheiten stören das Dasein und machen, daß das Leben, so kurz es ist, lang erscheint. So ist das Leben eine Last und der Tod die erwünschteste Zuflucht für den Menschen; Gott aber, der ihn die Süße des Daseins hat kosten lassen, erweist sich eben dadurch als neidisch.« »Nichts als Schatten und Traumbilder sind die Menschen«, sagt Sophokles (Aias 125; vgl. fr. 859), fast mit denselben Worten wie Pindar am [761] Ende seines Lebens (o. S. 429); »ohne Übel dürfen nur die Götter leben« (fr. 860). Kein Wort wird von Sophokles und Euripides häufiger wiederholt als der Satz, in den bei Herodot Solon seine Weisheit zusammenfaßt, daß vor dem Tode kein Mensch glücklich zu preisen ist, weil jede Stunde den Umschwung bringen kann. Töricht, so klagt der neunzigjährige Sophokles, wer sich ein langes Leben wünscht, zu den Sorgen und Mühen der Jugend: »Mord und Aufruhr, Zwietracht, Kampf und Neid«, auch noch die Nöte des kraftlosen, ungeselligen, freundlosen Alters. Nur zu wahr ist die alte Weisheit Homers, daß nie geboren zu sein das glücklichste Los ist, das nächste, gleich nach der Geburt zu sterben.

Wenn dem so ist, hat es dann irgendwelchen Sinn, die Götter zu ehren und ihre Gebote auf sich zu nehmen? Sind sie es überhaupt, die das Weltregiment führen, und nicht vielmehr ein blindes Ungefähr oder die Moiren, das unerbittliche Schicksal, dem, wie schon Homer weiß – wenn er es auch nicht zu einer konsequenten Weltanschauung durchgebildet hat –, auch die Götter unterliegen, das Uranos und Kronos vom Thron gestoßen hat und Zeus' Regiment bedroht, der Zwang (Ananke), den die Orphik als die allbeherrschende Macht nennt, auf die der Delphische Apollo selbst sich berufen hat, als er sein Verhalten gegen Krösos zu rechtfertigen versuchte (Herod. I 91)? Was der Polemik des Xenophanes gegen die Götter des Epos zugrunde liegt, was Diagoras zu seinem Verderben offen ausgesprochen hat, daß ungerechte und daher unsittliche Götter keine Götter sind, das haben viele empfunden und zur Richtschnur ihres Handelns gemacht. Wenn die Götter versagen, wenn sie überhaupt nicht sind oder ohnmächtig oder launisch und unberechenbar sind, so bleibt als einziges, was dem Menschen in diesem Leben helfen kann, seine eigene Persönlichkeit, die Kraft seines Mutes und vor allem seine Intelligenz. Lebenserfahrung und richtige Einsicht in die beherrschenden Mächte des Lebens zu gewinnen, ist die Aufgabe des klugen Mannes; dann mag es ihm gelingen, das Glück dauernd an sich zu fesseln und in allen Stürmen des Lebens sich zu behaupten. Aus eigener Kraft etwas zu leisten, das ist das Höchste, was der Mensch erreichen kann; dann mag er die Götter Götter [762] sein lassen. Im »Bellerophon«, einer spätestens etwa um 430 aufgeführten Tragödie, schildert Euripides den Himmelsstürmer, der die Götter zur Verantwortung ziehen will wegen ihres Regiments, der ihnen vorhält, daß grausame und meineidige Tyrannen im Glücke schwelgen, während gottesfürchtige Städte der Übermacht der Frevler erliegen, ohne daß die Götter ihnen helfen. »Und da sagt man, daß im Himmel Götter sind? Sie sind nicht, nein, wenn nicht die Menschen töricht den alten Fabeln Glauben schenken wollen« (fr. 286). Sophokles hat zeitlebens den entgegengesetzten Glauben mit äußerster Energie vertreten; aber wenn er im »Aias«, vielleicht dem ältesten seiner erhaltenen Stücke, den Satz ausspricht: »ich behaupte, daß dies und überhaupt alles, was die Menschen trifft, das Werk der Götter ist«, so muß er hinzufügen: »wer diese Ansicht nicht bekennen will, der mag bei seinem Sinn bleiben und ich bei dem meinen« (v. 1036ff.), zum Beweis, wie stark damals bereits der fromme Glaube bestritten ward.

So erhebt sich auf allen Gebieten zunächst das Problem, und hinter diesem wieder die Individualität und die Frage nach ihrem Recht. Die alte Zeit, zuletzt Pindar, hatte die Bedeutung der »angeborenen Art« des vornehmen Mannes im Gegensatz zur Masse unumwunden anerkannt; die Erzählungen von den Tyrannen und Staatsmännern des 6. Jahrhunderts sind voll von Zügen, die ihre Geschicklichkeit und Intelligenz in ein helles Licht setzen, wenn ihnen auch der Versuch, ein einheitliches Gesamtbild der Einzelpersönlichkeit zu zeichnen, noch völlig fernliegt. Die Demokratie mit ihrem Gleichheitsprinzip hat diese Anschauungen eher zurückzudrängen gestrebt, gerade weil sie einem jeden freien Spielraum gewährt und gleiche Rechte einräumt. Das souveräne Volk handelt als Einheit und fühlt sich als solche (o. S. 523ff.). Aber in seinem Leben und Treiben entfalten sich all die verschiedenartigen Charaktere, mit denen man rechnen muß, wenn man wirken oder einen Vorgang verstehen will. Die Tragödie zeichnet diese Gestalten in immer reicherer Fülle, je mehr sie ins wirkliche Leben greift; die Heroenfiguren des Epos, an denen noch Äschylos festhielt, werden umgebildet in moderne Menschen, wie sie auf dem Markt, vor Gericht, in Rat und Volksversammlung dem Dichter [763] und seinem Publikum tagtäglich vor Augen treten. Da ist der stolze Held, der nur durch eigene Kraft etwas leisten will – »denn mit Hilfe der Götter kann auch, wer nichts ist, Macht gewinnen« – und deshalb von den Göttern in die Selbstbetörung des Wahnsinns gestürzt wird (Aias), der hochmütige Prahlhans, der brutal auftritt, solange er die Macht hat, aber dabei weichlich und schwach ist und feige zurückzuckt, sobald ihm ein Gegner mutig entgegentritt (Menelaos), der blinde Seher, der im Vollbewußtsein seines Prophetentums leidenschaftlich aufbraust, wenn man ihm nicht glaubt oder gar ihn des Eigennutzes und der Geldgier beschuldigt (Tiresias), weiter der verschlagene, überall die krummen Wege vorziehende Intrigant (so wird Odysseus gewöhnlich gebildet), der korrekte Biedermann, der gegen alle Gebote der Religion und des Staats die tiefste Devotion zeigt, aber wenn er zur Macht gelangt ist, an dem, was er in seiner Borniertheit für angemessen erachtet, unentwegt festhält, um seine Charakterfestigkeit zu demonstrieren (Kreon in der »Antigone« und im »Ödipus«), das vertrauensselige Glückskind, das blind ins Verderben hineinrennt (Ödipus), der Parvenu, der seine Stellung im fremden Staate durch ein glänzendes Ehebündnis sichern will und sich mit gleißenden Reden über seine sittlichen Verpflichtungen hinwegsetzt (Iason), der tugendstolze Jüngling, der die Weiber verachtet, mit seiner Keuschheit prunkt, nur von ritterlichen Tugenden etwas wissen will und die Speisegebote der Orphik als das Ideal der sittlichen Reinheit betrachtet (Hippolytos), und daneben der ehrliche, wahrhaft adlige Held, der seinen geraden Weg geht und nur den Geboten der Sittlichkeit folgt, mag dabei herauskommen was da will (Neoptolemos im »Philoktet«), und der Staatsmann, der es versteht, die wahren Interessen des Gemeinwohls mit den Sittengesetzen zu vereinigen (Odysseus im »Aias«, Theseus). Die Dienerschaft, die Herolde, die Sklaven werden mit ihren Gebrechen und auch mit den edleren Seiten ihres Wesens und ihrer Empfindungen vorgeführt, auch die Frauen beginnen ihr inneres Wesen zu enthüllen und auf der Bühne die Welt zu zeigen, in der ihr Leben sich abspielt (o. S. 748). Zunächst schafft das Drama nur Charaktertypen; es verleiht seinen Personen die bezeichnenden [764] Züge um des menschlichen Problems willen, welches der Dichter in dem Sagenstoff findet oder in ihn hineinträgt, weil es im Leben der Gegenwart sich ihm aufdrängt. Erst ganz allmählich gewinnen diese Charaktere ein selbständiges Leben auch abgesehen von dem Problem; sie beginnen sich auszugestalten mit den persönlichen Zügen des Einzelmenschen. Die Eigenart des individuellen Porträts beginnt sich einen Platz zu erobern wie in der bildenden Kunst, so auf der Bühne. Es ist ebenso bezeichnend wie naturgemäß, daß ein stärkerer Realismus auf beiden Gebieten zuerst da hervortritt, wo er auch im Leben sich unverhüllt zeigt, in den niederen Sphären (so in Ansätzen schon bei Äschylos in der Kilissa der »Choephoren«; auch sein Hermes im »Prometheus« ist bereits der Vorläufer der Euripideischen Herolde); daher hat das sizilische Lustspiel und sein Fortsetzer, der Mimos (o. S. 619), ihn früher und eingehender entwickelt als das Drama Athens.

In der Politik und im Kriege haben die Massen immer an dem Satze festgehalten, daß sie selbst, der Souverän der Demokratie, allein die Entscheidung gäben, so laut auch die Tatsachen dagegen redeten. »Wie verkehrt urteilt man in Hellas«, sagt Euripides in der »Andromache« (um 428 v. Chr.), »wenn ein Sieg erfochten ist, hält man ihn nicht für das Werk der Kämpfenden, sondern der Feldherr trägt den Ruhm davon; obwohl er mit zehntausend anderen seinen Speer schwingt und nicht mehr getan hat als jeder andere, gilt er für mehr. Da sitzen sie würdevoll in den Ämtern und glauben mehr zu sein als das Volk und sind doch nichts; das aber ist weit einsichtiger als sie, wenn es sich nur zu Mut und Entschluß aufraffen kann.« Derartige Deklamationen kehren wieder, solange es eine Demokratie in Athen gegeben hat. Freilich, wenn den Staat ein Unglück betrifft, dann wälzt der Demos sofort die Schuld ab auf die unfähigen und verräterischen Staatsmänner, Gesandten, Feldherrn, und zieht sie für ihren schlechten Rat zur Verantwortung. Aber auch bei den Erfolgen ist es nicht anders. Mag man sagen was man will, man weiß sehr wohl, daß Marathon in erster Linie das Werk des Miltiades ist, Salamis das des Themistokles, die Eurymedonschlacht das Kimons. [765] Wie jede bestehende Staatsform hat auch die athenische Demokratie das Bestreben, sich nicht nur als allein vernünftig, sondern auch als allein legitim und daher als uralt hinzustellen, als Schöpfung des Solon und womöglich des Theseus; aber wer könnte verkennen, daß die Demokratie, wie sie ist, die Schöpfung des Perikles ist? Er hat sich dadurch die Herrschaft über Athen und sein Reich gewonnen und sich dem Volk unentbehrlich gemacht; und will man die entscheidende Gewalt der Persönlichkeit kennenlernen, so braucht man nur in eine Volksversammlung zu gehen, in der er das Wort er greift. So wendet sich der Persönlichkeit der leitenden Staatsmänner und Feldherrn ein stets wachsendes Interesse zu, nicht nur ihren politischen Taten, sondern auch ihren persönlichen Erlebnissen, ihrer Eigenart, wie sie sich im öffentlichen und im privaten Leben kundgibt. Schon erwächst daraus eine besondere Literaturgattung. Etwa um 430 hat der Rhapsode und Homerexeget Stesimbrotos von Thasos eine Schrift verfaßt, die von den attischen Staatsmännern Themistokles, Kimon, Thukydides, Perikles handelte und zahlreiche gehässige Anekdoten über sie mitteilte. Dabei mögen politische Tendenzen, die Abneigung des Bündners gegen Athen, vielleicht auch der Sturm gegen Perikles' Stellung mitgewirkt haben. Frei von jeder derartigen Beimischung dagegen waren die etwa gleichzeitig erschienenen Memoiren des tragischen und elegischen Dichters Ion von Chios. In anspruchsloser Form erzählte er von den bedeutenden Männern, denen er in seinem Leben begegnet war, einem Kimon, Äschylos, Sophokles, Perikles, teilte interessante Tischgespräche mit und versuchte die Art, wie sie sich im Leben gaben, in lebendiger Erzählung festzuhalten. Seine Schrift ist nur um so bezeichnender, da ihm eine prinzipielle Stellungnahme zu der Frage nach der geschichtlichen Bedeutung der Persönlichkeit völlig fernlag. Diese Frage, die Frage nach den Bedingungen und den Grenzen ihrer Wirksamkeit, die alle Geschichtsauffassung beherrscht, ist vor allem an der bedeutendsten Gestalt erörtert worden, welche die Griechenwelt gesehen hatte, an Themistokles. Er hatte Athen groß gemacht; aber daß er selbst groß werden konnte, verdankte er doch nur Athen. »Allerdings«, soll er dem Athener, [766] der ihn schmähte, geantwortet haben, »wenn ich in Belbina (einem Miniaturstaat auf einer Insel unweit der attischen Küste) geboren wäre, würde ich nicht zu Ehren gekommen sein; aber du bist es auch nicht, obwohl du ein Athener bist.« Auch die Frage wurde eifrig verhandelt, ob seine Bedeutung auf Naturanlage oder auf Erziehung, auf dem Umgang mit einem weisen Mann beruhe. Seine Neider und Feinde mochten sich trösten, daß er den entscheidenden Gedanken bei Salamis anderen entwendet habe, daß er, wie Stesimbrotos behauptete, seine Weisheit dem Anaxagoras und Melissos verdanke; die innerste Überzeugung ließ sich doch nicht ersticken, daß seine Leistungen sein eigenstes Werk, die Schöpfung einer alle anderen überragenden staatsmännischen Persönlichkeit waren. Hatte er sich doch als eine solche, als eine selbständige Macht erwiesen, auch noch als er gestürzt und ganz allein auf sich angewiesen war936.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 749-767.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schlegel, Dorothea

Florentin

Florentin

Der junge Vagabund Florin kann dem Grafen Schwarzenberg während einer Jagd das Leben retten und begleitet ihn als Gast auf sein Schloß. Dort lernt er Juliane, die Tochter des Grafen, kennen, die aber ist mit Eduard von Usingen verlobt. Ob das gut geht?

134 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon