Die Kunst

[806] Am sinnfälligsten tritt der gewaltige Aufschwung, der Griechenland mit den Perserkriegen erfaßt hat, in der bildenden Kunst zutage950. Zwischen den Giebelskulpturen von Ägina und den Tyrannenmördern des Antenor auf der einen Seite, den Meisterwerken Myrons auf der anderen liegen etwa fünf, zwischen den Giebeln von Olympia und den Skulpturen des Parthenon höchstens etwa zwei Jahrzehnte. Drei große Bildner in Erz und Marmor [806] standen in dem Jahrzehnt nach dem Xerxeszuge auf der Höhe des Schaffens: Onatas von Ägina, Kalamis, vielleicht ein Böoter, und Pythagoras, der Samier aus Rhegion (o. S. 630). Die beiden ersten, die Künstler des Viergespanns und der Renner, die Hieron zum Dank für seine Siege nach Olympia gelobt hatte und sein Sohn Deinomenes ausführen ließ, müssen, so scheint es, im wesentlichen noch als Vertreter des archaischen Stils betrachtet werden, der in ihnen das Letzte und Höchste schuf, was die in ihm verkörperte Richtung hervorbringen konnte. Freilich hat Kalamis (der noch um 450 tätig war, o. S. 609, 2) die Steifheit des alten Stils, die aus dem Streben her vorging, die Würde des dargestellten Gegenstandes zu wahren, bereits überwunden und seinen Götterbildern und Siegesstatuen bei aller Geschlossenheit der Haltung einen hoheitsvollen Ausdruck voll innerer Kraft eingehaucht. Wesentlich lebensvoller noch müssen die Werke des Pythagoras gewesen sein, vor allem seine zahlreichen Siegerstatuen in Olympia. Bei ihm ist ein ständiges Fortschreiten in der lebendigen Durchdringung des Stoffs und der Wiedergabe des plastischen Gedankens deutlich erkennbar: seine berühmtesten Werke, die Statue des Leontiskos (452) und die eines Pankratiasten in Delphi, gehören zu seinen spätesten Schöpfungen. Ein unablässiges Studium der Natur führte zu immer treuerer Wiedergabe der Körpergestalt, der Bewegungen, des Ausdrucks: von Pythagoras' Philoktet in Syrakus rühmte man, daß der Beschauer den Schmerz der Wunde mitempfinde.

Wenn diese Meister, an die sich eine große Schar weiterer Namen anreiht: die Athener Hegias, Kritios und Nesiotes (o. S. 473), die Ägineten Ptolichos und Glaukias, Pantias von Chios, Akestor von Knossos u.a., etwa den italienischen Künstlern der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entsprechen, so treten neben ihnen überall schon die großen Genien auf den Plan, welche der Kunst neue, weitere Bahnen eröffnen. Sicher seit 456, vielleicht aber schon zwei Jahrzehnte früher, hat Myron aus Eleutherä, dem attischböoti schen Grenzkastell, Siegerstatuen für Olympia gearbeitet; in den fünfziger Jahren erreicht Phidias die Höhe seines Ruhms: um 450 wird er nach Olympia berufen (o. S. 508), 447 beginnt der [807] Parthenonbau. Etwas jünger ist Polyklet von Argos, der wahrscheinlich schon 460, sicher seit 452 olympische Siegerstatuen ausführt, und um 420, nach dem Brande des Heräon von Argos (423), das Goldelfenbeinbild der Hera geschaffen hat. Zahlreiche Genossen, Rivalen und Jüngerscharen sich um die drei großen Meister. Neben Phidias stehen die Parier Kolotes, der in Olympia mit ihm zusammen arbeitete, und sein Lieblingsschüler Agorakritos, ferner der Kreter Kresilas aus Kydonia, und von Jüngeren der Athener Alkamenes (noch nach 403 tätig), der von den Alten ihm zunächst gestellt wird. Der gleichen Richtung gehörte Paionios von Mende an, der nach dem Nikiasfrieden die Nike der Messenier und Naupaktier in Olympia geschaffen hat. Myrons Schule wird von seinem Sohne Lykios fortgesetzt; auch die Athener Kallimachos und später Demetrios (tätig noch in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts) scheinen ihr anzugehören. Zahlreiche Schüler kennen wir von Polyklet, darunter seinen Bruder Naukydes und seinen Sohn Patrokles, ferner Phradmon von Argos und viele andere.

Um dieselbe Zeit hat sich die Malerei eine selbständige Stellung unter den großen Künsten errungen. Zwar wissen wir von größeren Wand- und Tafelgemälden auch schon aus älterer Zeit in Olympia und namentlich in Ionien – so hat Mandrokles von Samos, der Baumeister der Brücke des Darius (o. S. 106), den Übergang des Königs über den Bosporos in einem Gemälde dargestellt, das er in das Heräon seiner Vaterstadt weihte –, und einzelne Künstlernamen werden uns genannt, wie Kleanthes von Korinth und Kimon von Kleonä; aber im allgemeinen entwickelt sich die Malerei – richtiger gesagt, die farbige Umrißzeichnung – in der älteren Zeit nur als Kleinkunst, auf kleinen Marmortafeln (πίνακες) und in der Dekoration der Tongefäße, wo sie sich, wetteifernd mit dem Reliefschmuck der Tempelwände, der Gräber, kostbarer Truhen u.ä., in der Darstellung bewegter Szenen aus dem Leben und der Sage ausbilden kann. Sonst erscheint sie nur als Dienerin der Plastik, in der Bemalung der Figuren und der Hinzufügung von Detail, das diese räumlich nicht ausdrücken konnte. Zu einer zweiten monumentalen Kunst, welche auf der [808] Fläche dieselben Aufgaben ebenso vollkommen löst wie die Plastik im Raum, hat erst Polygnotos von Thasos (o. S. 507) die Malerei erhoben951. Wenn dem Relief die Aufgabe zufällt, die Außenflächen der Monumentalbauten zu schmücken, so ist seit ihm und durch ihn das Gemälde als der würdigste Schmuck der Innenräume anerkannt. In Athen hat er mit seinen Genossen und Schülern Mikon und Panainos die Wände der Halle des Peisianax (o. S. 509), des Theseusheiligtums, des Anakeions ausgemalt, in Delphi die von den Knidiern erbaute Lesche, ferner Tempel in Platää und Thespiä. Die tiefgreifende Wirkung seiner Schöpfungen tritt uns nicht nur in der gleichzeitigen Vasenmalerei entgegen, sondern ebensosehr in der Plastik, von den Skulpturen des Parthenon bis zu den Reliefs lykischer Gräber (Heroon von Trysa-Gjölbaschi o. S. 148) und attischer Goldköcher, die nach Skythien verkauft wurden. Auch wo sie die Plastik begleitet und ergänzt, wird die Malerei selbständig; die Schranken am Thron des olympischen Zeus hat Phidias' Bruder (oder Neffe) Panainos mit mythologischen Gemälden geschmückt. Auch Phidias und Polyklet selbst haben sich als Maler versucht. Der innere Aufschwung der neuen Kunst geht mit raschen technischen Fortschritten Hand in Hand. Polygnot hat seine Figuren noch mit satten Farben ohne Schattierung oder Abtönung gemalt, so daß seine Gemälde eigentlich farbige Zeichnungen sind, so gut wie die der Vasen. Die nächste Generation, vertreten vor allem durch den »Schattenmaler« (σκιαγράφος) Apollodoros von Athen, den ersten bedeutenden Tafelmaler, führt Schattierung und Abtönung der Farben ein und ermöglicht dadurch die Wiedergabe der plastischen Gestaltung, die bisher nur das Relief geben konnte, auch auf der Fläche952. So ist die Bahn geöffnet für die großen Meister, [809] die im Peloponnesischen Krieg auftreten: Zeuxis (Zeuxippos)953, den Bürger der Tarentinischen Pflanzstadt Heraklea (o. S. 678), der um das Jahr 430 zuerst nach Athen kam, und seinen Rivalen Parrhasios von Ephesos954.

Schon dieser flüchtige Überblick der äußeren Daten zeigt, wie sehr Athen in den Mittelpunkt gerückt ist. Große Weihgeschenke, Götterbilder und Tempel lassen auch andere Staaten ausführen, und Athleten, welche sich Siegerstatuen bestellen, gibt es allerorten mehr als in Athen; an Reichtum der aufgehäuften und ständig sich mehrenden Kunstschätze kommt auch jetzt kein Ort der griechischen Welt Olympia und Delphi gleich. Aber frisches, unablässig vorwärts schreitendes Leben pulsiert fast ausschließlich in Athen, nirgends so wie hier ist die Kunst eine Sache des ganzen Volks; die gesamte Bürgerschaft nimmt Teil an ihren Aufgaben, an der Diskussion ihrer Probleme und Fortschritte. So stellt denn auch Athen Aufgaben, wie sie nirgends sonst geboten waren, nicht nur durch die Zahl und den Umfang der Denkmäler, welche seit Perikles in rascher Folge geschaffen wurden, sondern mehr noch durch ihren Inhalt. Schon die Aufgabe, welche die wiederhergestellte Republik dem Antenor und dann 478 zum zweiten Male dem Kritios und Nesiotes stellte, ein Denkmal der beiden Tyrannenmörder zu schaffen, erschloß der Kunst ein ganz neues Gebiet. Nicht ruhende Idealfiguren, wie bisher in den Götterbildern und Siegerstatuen, waren hier zu schaffen, sondern zwei Menschen in gespanntester Bewegung, ein Mann und ein Jüngling, beseelt von einem hohen Gedanken, im Moment der kühnen Tat, der sie ihr Leben opfern und die die Demokratie wie keine andere verherrlicht hat. Jede der beiden Gestalten steht selbständig da; aber durch ihr Zusammenwirken, durch den Kontrast ihrer Bewegungen sind sie zu einer Gruppe verbunden, und zum ersten Male kann die monumentale Kunst eine plastische Tiefenwirkung erstreben – Aufgaben, wie sie bisher nur das Relief und die Giebelskulptur zu lösen versucht und [810] doch immer nur unvollkommen gelöst hatte. Gewaltig hat dies Vorbild auf die ganze weitere Entwicklung nachgewirkt; es führt unmittelbar dazu, daß Myron nun auch den Sieger im Wettkampf nicht mehr als ruhig im Bewußtsein seiner Vollkraft dastehenden Jüngling bildet, sondern in vollster Anspannung seiner Kraft im schwierigsten Moment seiner Aufgabe, den Diskoswerfer, wie er die Scheibe schleudert, den Wettläufer, wie er mit Einsetzung des letzten Atemzugs am Ziel anlangt. Inzwischen aber trat Athen mit noch ganz anderen Aufgaben an die Kunst heran: die erste Großmacht der Welt galt es zu verherrlichen durch die Heldentaten der Ahnen, der Götter und Heroen des Landes, der Kämpfe des Perserkriegs, in dem Festzuge des Parthenonfrieses das gesamte Volk in idealer Gestalt vorzuführen, in den Götterbildern das Ideal, welches in diesem Staat lebte, sinnfällig vor Augen zu stellen. Der belebende Hauch dieser Aufgaben erfaßte die gesamte Kunst. Da ist es begreiflich, daß aus ganz Griechenland sich nach Athen drängte, wer den Beruf zu künstlerischer Tätigkeit in sich spürte, Maler wie Bildhauer. Nur in Athen konnte Polygnot den Boden finden für die Entfaltung der in ihm ruhenden Kräfte, nur hier bot sich Zeuxis und Parrhasios eine Stätte umfassender Wirksamkeit. Und von Athen aus trugen die Künstler, Einheimische wie Fremde, das neue Ideal hinaus in die gesamte griechische Welt; wenn irgendwo, so gilt von der Kunst, daß Athen die Erziehungsstätte für ganz Hellas geworden ist, und sie lehrt zugleich, wie dies Wort zu verstehen ist.

Auch sonst spiegelt sich die veränderte Weltlage in der Kunst wieder. Ionien liegt wie im politischen so auch im künstlerischen Leben völlig darnieder; Talente und selbst Genies wie Polygnot, Agorakritos, Parrhasios haben die Inseln und das asiatische Festland noch hervorgebracht, aber wie Herodot gehen sie nach Athen und gehören geschichtlich ganz diesem an. Einen einzigen selbständigen ionischen Künstler wußten die antiken Kunstgelehrten zu nennen, der ebenbürtig den großen Meistern der Plastik an die Seite zu stellen sei, Telephanes von Phokäa; aber sie müssen hinzufügen, daß er so gut wie verschollen sei, weil er nur für Thessalien und für die Perserkönige gearbeitet habe (o. S. 113, 2). [811] Auch der Westen hat es zu keiner selbständigen Kunst gebracht, trotz Pythagoras und Zeuxis und trotz des regen Kunstsinns, der sich uns namentlich in den Münzen dokumentiert; hier wird durchaus der attische Einfluß herrschend. Aber auch im Peloponnes, im 6. Jahrhundert einer Stätte regster Kunstübung, die sich in zahlreichen, mit den Ioniern rivalisierenden Schulen manifestierte, ist das selbständige Leben geschwunden. Wo sich noch einmal eine Sonderrichtung zeigt, wie in den Giebelskulpturen von Olympia (um 460) – mögen sie nun auf heimischem Boden erwachsen sein, mag in ihnen eine fremde lokale Schule, etwa, wie vielfach vermutet ist, die Kunst der Kykladen, noch einmal Gelegenheit gefunden haben, sich zu betätigen –, da vermag sie nur wenig erfreuliche Produkte eines ausgesprochenen Übergangsstils zu schaffen, eine Verbindung archaischer Formen mit einem seltsamen und unschönen Realismus; sie waren zur Zeit ihrer Entstehung bereits rückständig. Die einzige Stadt nicht nur des Peloponnes, sondern ganz Griechenlands, die neben Athen eine selbständige Kunstschule erzeugt hat, ist Argos, die zweite große Demokratie der griechischen Welt. Das ist doch nicht nur Wirkung des Zufalls, der hier in Polyklet einen künstlerischen Genius zur Welt kommen ließ; hätte ihm die Heimat nichts geboten, so würde wohl auch er sich nach Athen gewandt haben. Vielmehr müssen wir annehmen, daß auch in Argos das öffentliche Leben der Kunst einen fruchtbaren Nährboden bot, wenngleich nicht so stark wie in Athen. Auch der scharfe Gegensatz, in dem Polyklets Kunst trotz aller Gemeinsamkeit zu der der athenischen Meister steht, darf wohl zur Charakteristik von Argos verwendet werden. Beide sind im Vollbesitz der Technik, beide suchen das neue Ideal zu verwirklichen. Aber was Polyklet schafft, ist doch nur die künstlerische Umgestaltung und Vollendung des alten griechischen Ideals, das in den Herzen der Peloponnesier so feste Wurzel geschlagen hatte: seine typischen Siegergestalten, der Doryphoros und der Diadumenos, zeigen keine bewegte Handlung, sondern die ihrer geschlossenen Kraft sich bewußte, ruhig vorschreitende Idealgestalt des hellenischen Jünglings.

Fragen wir, worin das Neue und der ungeheure Fortschritt [812] besteht, den die griechische Kunst und damit die Kunst überhaupt in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts gemacht hat, so ist zunächst auf den Fortschritt der Technik hinzuweisen, der Hand in Hand mit der durch ununterbrochenes Studium der Natur geschärften Vertiefung der Beobachtung er reicht wird. Mit Recht wurde hervorgehoben, daß eine lebenswahre und künstlerisch vollendete Gestaltung des Tieres eher gelungen ist als die des Menschen: die Rosse des Kalamis, die Kuh Myrons sind von keinem der Späteren übertroffen, ja kaum erreicht worden. Beim Tier war das Studium und die Nachbildung des Körpers und der Bewegung doch leichter als beim Menschen. Das künstlerische Sehen selbst wird ein total anderes; die Art des Anschauens wird durchbrochen, welche nicht nur die ältere griechische Kunst, sondern überhaupt alle bisherige, auch die ganze orientalische Kunst beherrscht hat, eine Anschauungsweise, die JULIUS LANGE als Prinzip der Frontalität bezeichnet hat. Alle älteren Kunstwerke sind auf eine einzige Ansicht berechnet; mögen sie im Profil oder en face gebildet sein, sie wollen nur von vorn gesehen werden, und sind daher im Grunde nichts anderes als ein plastisch ausgeführtes Flächenbild – eine Eigenschaft, die selbst in Myrons Diskobolos trotz der aufs höchste gesteigerten Bewegung noch erkennbar ist. Erst die neue Kunst, welche im 5. Jahrhundert ersteht, gewinnt den Sinn für die dritte Dimension, für die Tiefe, zunächst in der Plastik, dann mit der Einführung der Schattierung und der Farbenabtönung auch in der Malerei. Es ist, als ob man jetzt erst wirklich sehen gelernt hätte: die ganze unerschöpfliche Fülle der plastischen Gestaltung des beseelten Lebens erschließt sich dem Auge des Künstlers, und immer aufs neue ist er bemüht, wiederzugeben, was er geschaut hat. Eben darum tritt die leblose Natur auch jetzt noch völlig zurück. Der Mensch ist und bleibt die höchste Aufgabe der Kunst; für die Landschaft und ihre Stimmung hat man kaum irgendwelchen Sinn. In den Gemälden, von Polygnots großen Neuerungen an, wie im Relief wird sie nur angedeutet, soweit sie die Möglichkeit gibt, die Gestalten z.B. in bergigem Terrain in mannigfachster Bewegung vorzuführen und durch Einführung verschiedener Gründe das [813] Leben der Gesamtkomposition zu steigern. Durch die neue Fassung der künstlerischen Aufgabe wird die Figur, mag sie nun in ruhiger Haltung dargestellt sein, wie bei Polyklet und in den großen Götterbildern, oder in vollster Bewegung, wie in den Friesen und Metopen der Tempel oder in Myrons Werken, erst zu einer inneren Einheit; nicht darauf kommt es an, einen schönen oder idealen Kopf, eine ideale Brust, ein ideales Bein zu schaffen, sondern einen einheitlichen beseelten Menschen. Wenn die älteren Darstellungen bewegter Vorgänge, z.B. die kämpfenden und hinsinkenden Krieger der Giebel von Ägina, in der Gesamtgestaltung noch starke Fehler aufweisen, wenn selbst Myron im Diskobolos den Übergang von der Brust zum Unterkörper in der Muskulatur noch nicht richtig gebildet hat, so gelingt es der Zeit des Phidias, auch hier die vollendete Naturwahrheit zu erreichen. In den Reliefs und Gemälden, in den Giebelgruppen, vielfach auch in selbständigen plastischen Denkmälern schließen sich die Einzelgestalten dann wieder zu einheitlichen Gruppen zusammen. Hier bieten die Körperhaltung und der Faltenwurf des Gewandes Anlaß zu den mannigfachsten Kontrastwirkungen, die die ganze Fülle des bewegten Vorgangs dem Auge erschließen. Ein unerschöpfliches Thema fortwährender Variationen und neuer Effekte gewähren insbesondere die Kentauren- und Amazonenkämpfe, mit dem Gegensatz nackter Jünglinge und bekleideter Jungfrauen, mit der Aufgabe, das phantastische Mischwesen aus Mensch und Tier zu einer einheitlichen, lebensvollen Gestalt zu entwickeln. Schon die alte Kunst hat diese Vorwürfe gern gewählt, auch am Zeustempel von Olympia sind im Anschluß an die elische Lokalsage die Kentaurenkämpfe dargestellt; in der attischen Kunst dienen sie zur Verherrlichung Athens in der Sagenzeit. Aber allerorten wiederholen sie Bildhauer und Maler in immer neuen Gestaltungen, da kaum ein anderer Stoff ihnen einen so dankenswerten Vorwurf für die Entfaltung ihres Könnens bietet.

Die alte Kunst und die Kunst des Orients schafft feste Typen nach gegebenen Normen; sie wiederholt sich immer aufs neue in ermüdender und nie endender Monotonie; der Beobachtung und Gestaltung des Künstlers läßt sie innerhalb der feststehenden [814] Schranken nur geringen Spielraum. Die griechische Kunst des 6. Jahrhunderts sucht diese Schranken zu durchbrechen; der Künstler fordert das Recht seiner Individualität, er versucht seinen Gegenstand zu gestalten, wie er ihn schaut, sei es ein Gott, ein Heros, ein Athlet, sei es ein Kampf oder eine Szene aus dem Leben. In der neuen Kunst des 5. Jahrhunderts erreicht diese Entwicklung ihr Ziel; die Individualität des Künstlers wie die Individualisierung des Vorgangs ist voll entfaltet. Wie die Denkmäler des Orients das Gefolge des Herrschers in unendlichen Reihen zeigen, so ist dem Parthenonfries die Aufgabe gestellt, das gesamte Volk von Athen im festlichen Aufzuge der Panathenäen darzustellen; aber an Stelle der Einförmigkeit dort welche unendliche Fülle bewegtesten Lebens hier, nicht nur in den Scharen der Ritter, wo die letzten sich eben erst anschicken, ihr Roß zu besteigen, während die vorderen Reihen bereits im Galopp heransprengen, sondern ebensosehr im Festzug der Frauen, in der Prozession der Opfertiere, unter den zuschauenden älteren Männern, und nicht am wenigsten unter den Göttern, deren hohe Gestalten in der Mitte des Frieses thronend in ungezwungenstem Gespräch, in lebhaftester Unterhaltung, dem Feste zuschauen. Aber eben der Parthenonfries zeigt auch am deutlichsten die Grenze, welche die Kunst mit vollem Bewußtsein scharf innehält. Der Einzelvorgang wird individualisiert, nicht die Einzelpersönlichkeit. Unter all den Menschen des Festzuges ist kein einziger mit individuellen Zügen ausgestattet; es sind alles Menschen von Fleisch und Blut voll echten Lebens, die wir schauen, aber in der realen Welt hat auch der schönste Athener nicht so ausgesehen wie diese Gestalten. Wohl finden sich mannigfaltige Variationen der Haltung, des Ausdrucks, des Alters, aber jeder Porträtzug, jeder auf die gemeine Wirklichkeit mit all ihren Gebrechen und häßlichen Eigenschaften auch nur von fern hindeutende Zug fehlt. Es ist ein ideales Abbild des Volks, das uns vorgeführt wird, nicht das Volk des Alltagslebens, Menschen wie sie sein sollten, nicht wie sie sind, in eine höhere Sphäre gehoben, unter denen daher auch die Götter, dem irdischen Auge verborgen, aber dem Auge des Künstlers lebendig sichtbar, ihren Platz nehmen können.

[815] Auch wenn dem Künstler die Aufgabe gestellt ist, eine bestimmte Einzelpersönlichkeit darzustellen, verfährt er nicht anders. Es wäre verkehrt zu glauben, die großen Künstler der Zeit des Phidias und Polyklet hätten kein Porträt schaffen können, wo dies doch schon den Künstlern der Olympiagiebel möglich war – denn hier tragen manche der untergeordneten Gestalten deutlich ausgesprochene Porträtzüge. Auch von den Kentaurenköpfen der Parthenonmetoden sind manche offensichtlich nach dem Leben kopiert. Hier, in einer niederen Sphäre, hat das Individuelle, die irdische Gestalt mit ihren Gebrechen und Eigenheiten ein Recht zu erscheinen; aber der Künstler würde glauben, die Gabe, die Gott ihm verliehen hat, zu mißbrauchen, wollte er das in die Schöpfungen hineintragen, die dem Menschen sein Ideal vorführen sollen. Wir können mit voller Bestimmtheit aussprechen, daß keine der zahlreichen Siegerstatuen in Olympia aus dieser Zeit Porträtzüge getragen hat; in vielen Fällen hat der Künstler seinen Auftraggeber vielleicht nie gesehen, so wenig wie der Sänger, der ihm das Siegeslied dichtete. Die Idealgestalt eines Siegers in diesem oder jenem Wettkampf zu bilden, ist seine Aufgabe; was für ein Recht hätte der Einzelne darauf, daß seine individuellen Züge der Nachwelt bewahrt würden? Selbst die Göttergestalten, der Zeus, der Hephästos, der Poseidon, die Athena des Parthenonfrieses, die Athena Lemnia des Phidias, von der uns eine vorzügliche Nachbildung erhalten ist – die Gestalt des olympischen Zeus und der Parthenos können wir wohl ahnen, aber nicht schauen –, zeigen wohl eine leise Charakterisierung; aber die scharf ausgeprägten Göttertypen, welche die Späteren geschaffen haben, sind dieser Zeit noch fremd955; sie sind ein hoheitvolles Geschlecht, Idealgestalten, weit größer und mächtiger als die Menschen, aber im übrigen ihnen wesensgleich. Durch vortreffliche Nachbildungen kennen wir die von Kresilas gearbeitete Büste des Perikles. Wohl trägt sie individuelle Züge, namentlich in den Lippen und in den [816] kleinen Falten an den Augenbrauen; aber ein Porträt ist sie nicht, nicht einmal ein idealisiertes Porträt, sondern das Idealbild eines athenischen Staatsmannes, in dessen Gestalt sich verkörpert, was das ganze Volk bewegt, und auf dieses Idealbild sind einzelne Züge des Menschen Perikles andeutend übertragen. »Das bewundert man besonders an diesem Werke«, lautet das antike Kunsturteil, »daß der Künstler edle Männer noch edler darstellte«956. – Von der Auswahl der Gegenstände der Kunst gilt das gleiche. Der Künstler kann alles darstellen, aber er darf nur darstellen, was der Würde seiner Kunst entspricht. Das ist es, was Aristoteles957 meint, wenn er Polygnot einen ethischen Künstler nennt, während er dem Zeuxis das Ethos abspricht, und von jenem rühmt, er habe die Menschen vorzüglicher gebildet, als sie sind. Und doch war auch Zeuxis noch vom Kopieren eines Modells weit entfernt. Daß er für seine Helena die fünf schönsten Jungfrauen aus Kroton als Modelle ausgewählt und ihre Züge in seinem Gemälde vereinigt habe, mag Legende sein; aber sie charakterisiert nicht nur ihn, sondern die gesamte Kunst seiner Zeit. Daß der Künstler, da kein Mensch alle Vollkommenheiten der körperlichen Erscheinung in sich vereinigt, die Züge seiner Schöpfungen von überall her zusammenträgt, ist für Parrhasios wie für Sokrates, als sie sich über die Kunst unterhalten, selbstverständlich958.

So erkennen wir in der bildenden Kunst dieselbe Entwicklung wie im Drama. Wie hier zuerst das Problem auftaucht in seiner ganzen Vielgestaltigkeit und dann erst das Individuum, wie die Gestalten der Bühne in der Kunst des Äschylos und Sophokles Idealfiguren sind und die Kopie der gemeinen Wirklichkeit nur bei untergeordneten Figuren zulässig erscheint, so ist die Aufgabe der bildenden Kunst die Darstellung des bewegten Vorgangs an Idealgestalten. Auf die Dauer freilich konnte die Reaktion gegen diesen Idealismus hier so wenig ausbleiben wie dort. Schon in Myrons Kunst herrschte ein weit stärkerer Realismus als in der des Phidias959, [817] ebenso bei Kallimachos; dann hat Demetrios ihn weiter entwickelt. Allmählich wendet sich den individuellen Zügen auch der Menschennatur eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu; eine Richtung bildet sich, welche die Idealisierung verwirft und in der getreuen Nachbildung der Natur die Aufgabe der Kunst sieht, selbst in ihren häßlichen Zügen. In der Zeit des Euripides, um den Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs, beginnt diese Richtung hervorzutreten. Kallimachos, urteilen die Alten, konnte sich in Gewissenhaftigkeit nicht genug tun; seine tanzenden Lakonierinnen waren ein äußerst gefeiltes Werk, aber alle Anmut war durch die peinliche Sorgfalt verlorengegangen. Er hat sich selbst auf einem seiner Werke κατατηξίτεχνος genannt, »der die Kunst zerschmilzt«, d.h. durch Zierlichkeit auflöst960. Demetrios von Athen hat eine Statue des korinthischen Strategen Pellichos geschaffen, welche die unschöne Gestalt des Mannes getreu nachbildete961. Aus dieser Zeit sind uns denn auch Kopien wirklicher Porträts erhalten, so von Herodot und Thukydides. In der Malerei hat der Athener Pauson, der Maler des Häßlichen, dieselbe Richtung vertreten. Sein Beispiel zeigt uns, wie fremd und antipathisch die neue Auffassung den Zeitgenossen noch gewesen ist. Er war außerordentlich produktiv, aber er konnte es zu nichts bringen. Aristophanes hat ihn sein Leben lang (nachweisbar 425-388) wegen seiner Armut verspottet962, und Aristoteles fordert, daß man seine Gemälde der Jugend nicht zeigen solle963. Dennoch aber lag in dieser Richtung der Keim eines gesunden Fortschrittes auf das rein Menschliche hin, dessen Schwächen und Gebrechen sich nicht dadurch aus der Welt schaffen lassen, daß man sie ignoriert. Sie war die notwendige[818] Vorstufe zu der neuen Erweiterung des Gebietes der Kunst, welche das 4. Jahrhundert in einer zweiten Reihe großer Meister geschaffen hat.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 806-819.
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