Epos und Lyrik. Die Musik und der Dithyrambos

[819] Zu dem regen Leben, welches alle Gattungen der bildenden Kunst ergriffen hat, steht der Niedergang der meisten Dichtungsarten in charakteristischem Gegensatz. Der neue kraftvolle Aufschwung, den das Epos in der theologischen Dichtung der Pisistratidenzeit noch einmal genommen hatte, erlosch mit dem Abschluß des Systems und mit der politischen Wendung, welche das geistige Leben der Nation auf andere Bahnen führte; das alte Epos aber, das in den Händen der berufsmäßigen Deklamatoren schon lange nur noch kümmerlich fortgebildet wurde, war um dieselbe Zeit auch äußerlich völlig zum Abschluß gelangt. Zwar haben ionische Dichter im 5. Jahrhundert und auch später noch versucht, alte und neue Stoffe in derselben Weise zu behandeln, so nach den Perserkriegen Panyassis von Halikarnaß die Taten des Herakles und die Urgeschichte Ioniens, gegen das Ende des Peloponnesischen Krieges Chörilos von Samos den Perserkrieg, sein Rivale Antimachos von Kolophon die thebanischen Sagen. Aber wenn auch einzelne Partien dieser Dichtungen ein achtungswertes poetisches Talent verrieten und z.B. Antimachos einen feinempfindenden Leser wie Plato gefesselt hat, so waren sie doch alle nur künstliche Belebungsversuche eines innerlich abgestorbenen Stils voll gelehrter Nachahmung der alten Muster; wo der Quell echter Poesie in den alten Epen so lebendig floß, konnte das Kunstepos für das geistige Leben der Nation keine Bedeutung gewinnen. Aber auch die lyrische Poesie stirbt in all ihren Zweigen ab. Die eigentliche Lyrik – im modernen, nicht im antiken Sinn –, die im Zeitalter der Sieben Weisen auf der Höhe stand, das Liebeslied, die politischen Lieder, das Trinklied und die Spruchdichtung der Elegien, hat im 5. Jahrhundert nur noch Nachzügler aufzuweisen, die größere Wirkung so wenig zu erzielen vermochten wie die Epiker: so die Trinklieder des Ion von Chios und des Atheners Dionysios Chalkûs (o. S. 675), die Elegie des Melanthios auf Kimon (o. S. 234), [819] und später die Lehrgedichte des Euenos von Paros und des Kritias von Athen. Auch die Satire des Iambos hat in Hipponax von Ephesos zur Zeit des Darius (Bd. III2 S. 737 ihren letzten namhaften Vertreter. In voller Blüte steht dagegen zur Zeit der Perserkriege die künstlichste Gattung der Lyrik, die Chordichtung der Siegeslieder, der Festgesänge und Dithyramben; neben den Meistern Simonides und Pindar dichten Bakchylides, Timokreon, Diagoras (o. S. 751f.), später Ion von Chios und andere, ferner die Frauen Korinna von Tanagra und Telesilla von Argos (o. S. 300) in demselben Stil. Aber mit Pindars Tode (bald nach 446) war auch die ser Zweig der Dichtung innerlich ausgelebt. Die Siegeslieder für preisgekrönte Athleten kamen aus der Mode; nach Festliedern zu Ehren der Götter, nach kitharödischen Nomen und vor allem nach Dithyramben dagegen ist das Bedürfnis ständig gewachsen. Welchen Bedarf an derartigen Liedern allein der attische Staat alljährlich forderte, haben wir schon gesehen (o. S. 741f.). Die übrigen Gemeinden konnten sich ebensowenig auf den überlieferten Liedervorrat beschränken, selbst Sparta brauchte für die Karneen (Eurip. Alk. 449) und andere Feste neue Lieder neben den alten; so hat z.B. Bakchylides für ein spartanisches Fest einen Dithyrambos über die Taten des Idas verfaßt. Aber als Dichtung hat die ganze äußerst umfangreiche Literatur der späteren Chorlyrik weder höheren Wert besessen noch größere Wirkung geübt.

Es wäre wenig zutreffend, wollte man diese Erscheinung auf ein Schwinden der dichterischen Begabung oder gar des Interesses an der Poesie zurückführen. Im Gegenteil, Poeten gab es in Hülle und Fülle, und das Interesse der Menge war so rege wie je, nicht nur in Athen, wo die ästhetische Diskussion und die Erörterung der Fragen nach Aufgabe, Gestaltung und Wirkung der Dichtung eifrig betrieben wurde und uns aus der Literatur der Zeit überall entgegentönt, sondern allerorten, wo griechisches Leben bestand. Aber die älteren Dichtungsarten waren in der Tat erschöpft, inhaltlich wie formell; der höchste Ausdruck war gefunden, den kein Nachfolger übertreffen konnte und den nachzuahmen vollends ein hoffnungsloses Bemühen war. Wie wäre z.B. ein Fortsetzen der Pindarischen Weise denkbar! Schon daß die letzte Gattung der [820] Lyrik, die sich schöpferisch behauptet hat, die schwerflüssige, stark manierierte Pindarische Chorlyrik gewesen ist, zeigt, daß man am Ende der Entwicklung stand. Wenn er auch die Neubearbeitung der schon unzählige Male behandelten Sagenstoffe mit neuen und tiefen Gedanken zu erfüllen vermochte, das eigentlich Maßgebende bleibt doch die Form, der unerwartete, nicht selten gesuchte und gekünstelte Ausdruck. Bei den Dichtern zweiten Ranges tritt das nur um so deutlicher hervor; Bakchylides z.B. greift in seinen Dithyramben, aber auch in seinen Epinikien beliebig irgendeine Situation aus Hesiod oder einem anderen Epos heraus, die er breit und gefällig ausmalt, um dann mitten in der Erzählung ebenso abrupt abzubrechen, wie er eingesetzt hat. So konnte, da man nun einmal alljährlich eine gewaltige Anzahl neuer Chorgesänge brauchte, als Ergebnis nicht ausbleiben, was schon Pratinas von Phlius (Bd. III2 S. 730 bekämpft hatte: die Musik gewann die Alleinherrschaft.

Die Entwicklung der griechischen Musik hat seit den Zeiten Terpanders mit der Dichtung mindestens gleichen Schritt gehalten; es ist die empfindlichste Lücke für unsere Erkenntnis des hellenischen Lebens, die auch das volle Verständnis der Lyrik und des Dramas stark beeinträchtigt, daß sie für uns fast vollständig und unwiederbringlich verloren ist964. Nur von den äußeren Daten ist uns wenigstens einiges erkennbar. Nach den Perserkriegen hat sie einen ähnlichen Aufschwung genommen wie die bildende Kunst; die Instrumente wurden vervollkommnet, vor allem der Tonbereich der Kithara durch Vermehrung der sieben Saiten Terpanders auf neun und elf mindestens verdoppelt, neue Tonleitern und Kompositionsweisen für sie wie für die Flöte erfunden. Der bahnbrechende Neuerer scheint Phrynis von Mytilene gewesen zu sein, der Schüler des Aristokleides, des letzten bedeutenden Vertreters der Terpandrischen Schule, der noch zur Zeit der Perserkriege [821] blühte965. Phrynis zur Seite steht Melanippides von Melos. Unter der großen Schar der attischen Dichterkomponisten der Zeit des Peloponnesischen Krieges tritt vor allem Kinesias hervor. Seit etwa 420 mögen Timotheos von Milet (geb. 447/6, gest. 357/6)966 und Philoxenos von Kythera (geb. 440/39, gest. 380/79) aufgetreten sein, deren Wirksamkeit weit in das nächste Jahrhundert hineinreicht. Auch theoretisch beginnt man sich mit der Musik zu beschäftigen; wenn Pythagoras und seine Schüler in der musikalischen Harmonie ein Abbild der das Weltall beherrschenden, abstrakt in den Zahlen hervortretenden Ordnung sahen, so hat Damonides von Athen (o. S. 532) die ethische und politische Wirkung der Musik und der einzelnen Tonleitern und Melodien darzulegen versucht – ein Thema, welches dann die Philosophen eingehend weitergeführt haben. Gegen Ende des Jahrhunderts schrieb Glaukos von Rhegion das erste Werk über Musikgeschichte. Zwischen den einzelnen Künstlern herrschte ein ebenso lebhafter Wettstreit wie in der bildenden Kunst; jeder suchte seinen Vorgänger zu überbieten und seiner individuellen Richtung den Sieg zu verschaffen. Gemeinsam aber war allen die ununterbrochene Steigerung der Ausdrucksfähigkeit und Selbständigkeit der Musik. Die Texte verfaßten sie sich in der Regel selbst, und die meisten von ihnen mögen sich für ebenso gottbegeisterte und tiefsinnige Poeten gehalten haben wie Pindar oder die großen Tragiker. Aber tatsächlich war der poetische Wert ihrer Dichtungen meist äußerst gering. Gelegentlich gelang es, eine mythologische Situation farbenreich und pikant auszumalen – so in dem berühmten »Kyklops« des Philoxenos (nach 400); aber im allgemeinen überwog ein leeres Phrasengeklingel mit manierierten, innerlich nichtssagenden Sentenzen; durch gehäufte Beiwörter und gezierte und unverständliche [822] Wendungen suchte man den Eindruck der Gedankentiefe hervorzurufen. In der Tat war die Dichtung lediglich zum Substrat der musikalischen Komposition geworden. Man wird die Entwicklung am besten mit dem modernen Lied oder richtiger noch mit der modernen Oper vergleichen: der Text gibt nur die allgemeine Stimmung, die der Gesang selbständig ausführt, und bald wird auch dieser abhängig von der Instrumentalmusik. Für die späteren dithyrambischen Aufführungen werden daher die Flötenspieler die Hauptpersonen.

Die neue Musik hat sowohl wegen ihrer verhängnisvollen Rückwirkung auf den Text wie prinzipiell wegen ihres weichlichen und sentimentalen Charakters im Gegensatz zu der herben Art des alten Stils den heftigsten Widerstand erfahren – einen Widerstand, der auch in der bildenden Kunst nicht gefehlt haben kann, wo die Schulen des Kalamis und Pythagoras und die der modernen Künstler aufeinanderstießen. Die Vorwürfe, die schon Pratinas erhob, sind über ein Jahrhundert lang nicht verstummt. Vom Standpunkt der alten Kultur aus machte man ihr nicht mit Unrecht zum Vorwurf, daß sie Sittlichkeit und Charakter untergrabe und namentlich auf die Jugend verderblich wirke: die Versenkung in alle menschlichen Empfindungen und Leidenschaften, welche jede Gemütsstimmung und jede Ausschreitung zu rechtfertigen schien, mußte den Anhängern des Alten sittlich ebenso verwerflich und verhängnisvoll erscheinen wie politisch. In Sparta, wo man zwei Jahrhunderte früher Terpander mit Begeisterung aufgenommen hatte, machte man kurzen Prozeß: man gestattete den modernen Musikern das Auftreten, aber man verbot ihnen die modernen Instrumente und schnitt dem Phrynis und Timotheos die überschüssigen Saiten aus der Leier. Die Entscheidung fiel jedoch auch hier in Athen. Die Musiker stammten aus allen Teilen Griechenlands und zogen von Ort zu Ort, von Fest zu Fest; aber wenn sie in Athen Zulaß fanden und das athenische Publikum gewannen, hatte ihre Sache für ganz Hellas gesiegt, mochten die übrigen Staaten sich noch so lange sträuben. Der Sieg, den Phrynis im Jahr 456 an den Panathenäen gewann, war von ähnlicher Bedeutung wie dreizehn Jahre vorher der des Sophokles über Äschylos. [823] Auch äußerlich gelangt die neue Stellung der Musik zum Ausdruck; während die musikalischen Aufführungen bisher auf dem offenen Tanzplatz des Theaters stattgefunden hatten, baute Perikles für sie ein Konzerthaus, das Odeon (o. S. 686). Die Komödie hat den Kampf noch jahrzehntelang fortgesetzt und die moderne Musik auf das heftigste angegriffen und persifliert; die große Masse des Publikums hat ihr zugestimmt, nicht nur weil es ihr recht geben mußte, daß die neue Musik das ursprüngliche Verhältnis zur Poesie umkehre und daher den Tod der Poesie bedeute, sondern mehr noch, weil es im stillen Herzen das verhängnisvolle Element sehr wohl empfand, das in ihr lag. Auf allen Gebieten rang die alte Kultur mit der neuen, aber nirgends kam der Gegensatz für die Empfindung so unmittelbar zum Ausdruck wie hier. Auch wer es nicht klar aussprechen konnte, fühlte doch, von welchen Gütern er unwiederbringlich Abschied nahm, wenn er der modernen Richtung sich hingab. Aber eben deshalb konnte keine Polemik und kein Hohn und kein Zischen die Entwicklung hemmen. Die neuen Melodien und die neue Kunstweise lockten die Empfindung unwiderstehlich, trotz aller Opposition des Verstandes; sie brachten wie nichts anderes die geheimsten Triebe und Gefühle der modernen Kultur zum Ausdruck, die Emanzipation des Individuums mit all seinen Leidenschaften und seinen Schwächen so gut wie mit allen Tiefen der subjektiven Empfindung. So war das Ergebnis von vornherein besiegelt; die moderne Musik hat nicht nur den Dithyrambos und die kitharödischen Aufführungen erobert, sondern von hier aus auch die Tragödie und schließlich selbst die Komödie. Seit dem 4. Jahrhundert beherrscht sie unumschränkt den ganzen weiteren Verlauf der antiken Kultur; sie ist schließlich selbst in so abgelegene Winkel wie die kretischen Bergstädte gedrungen, in denen doch selbst Homer und die ältere Lyrik kaum Eingang gefunden hatten967.



Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 819-825.
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