Ergebnisse der naturphilosophischen Entwicklung. Die neuen praktischen Aufgaben.

Das Erziehungsproblem

[881] Dem größeren Publikum stehen die »Weisen« zunächst fremd gegenüber. Aufsehen freilich haben sie erregt. Manche hielten es für ihr Recht, sich schon durch ihr äußeres Auftreten, durch phantastische Kleidung und goldenen Haarschmuck nach Art der Rhapsoden der Menge als etwas Besonderes anzukünden, so Empedokles und Hippodamos von Milet1021 und dann die Sophisten. Auch ein Künstler wie Parrhasios hat seine von der Sitte abweichende üppige und weichliche Lebensweise stolz zur Schau getragen, wie so manche Künstler der Renaissancezeit. Viele Ärzte glaubten das marktschreierische Wesen nicht entbehren zu können, um die Kunden anzuziehen. Der wahrhaft tüchtige Arzt freilich wird sich von allem Derartigen fernhalten. Wohl mag er stolz sein auf sein Wissen und sein Können – »dies ist ein Denkmal der Weisheit des Aineios, des besten Arztes«, lautet die Inschrift eines Marmordiskus mit seinem Bilde, das ein Großoheim des Hippokrates in Athen geweiht hat1022 –, aber in seinem Auftreten hat er alles Auffallende und Anmaßende zu meiden: er soll seinen Körper pflegen und sich anständig kleiden und parfümieren, und vor allem in seinem Benehmen und seiner Gesinnung sich als einen gebildeten, besonnenen und zuverlässigen, humanen Mann bewähren, [881] lauten die Vorschriften der Schrift »Vom Arzte«. Für den echten Weisen vollends ist das charlatanartige Treiben eines Empedokles undenkbar; er lebt nur sich und seiner Gedankenwelt. Den Athenern hat das schlichte, beschauliche Leben des Anaxagoras, an dem alle irdischen Interessen spurlos abglitten, einen gewaltigen Eindruck gemacht, und zumal der Gleichmut, mit dem der Greis den Tod seines einzigen Sohnes gefaßt ertrug1023. Aber es waren doch seltsame Menschen, ein Heraklit, Anaxagoras, Demokrit, die ihr Vermögen vernachlässigten oder verschenkten und, statt sich mit realen Aufgaben des Erwerbes oder der Politik zu befassen, ihr Leben lang über Dinge grübelten, die den Menschen nichts angingen und von denen er nichts wissen konnte1024. Die alten Staatsmänner, die die Legende als die Sieben Weisen zusammenfaßte, werden dem Volk zu weltflüchtigen Theoretikern. Wie von Hippokrates von Chios mit Recht oder mit Unrecht behauptet wurde, er sei zwar ein guter Mathematiker geworden, aber er habe sein Vermögen durch sein Ungeschick verloren1025, so erzählte man von Thales, er habe zwar einmal, um den Menschen zu zeigen, daß er seine Kunst wohl praktisch verwerten könne, wenn er nur wolle, eine Teuerung vorausberechnet und dadurch ein großes Vermögen gewonnen, aber auch, er sei, als er nach den Sternen guckte, in eine Grube gefallen. Das galt von allen seinesgleichen; es waren halb komische, halb unheimliche Gestalten. Auch ein Mann wie Meton, so Bedeutendes er in seiner Praxis leistete, gilt der Komödie doch nur als ein phantastischer Prahlhans1026.

Zunächst haben die Weisheitslehrer unmittelbar nur auf einen engen Schülerkreis gewirkt, der sich ihnen ganz hingab, daneben aber, wie wir gesehen haben, ununterbrochen eine rege Wechselwirkung[882] aufeinander geübt, die zu immer neuen Systembildungen Anlaß gab. Dem größeren Publikum dagegen waren ihre Schriften notwendig so gut wie unverständlich. Allmählich aber begannen ihre Lehren größeres Interesse zu erregen. Sie selbst versuchen statt in mystischer, halb prophetischer Sprache, vielmehr in klaren, allgemein faßlichen Sätzen zu schreiben, welche methodisch vorwärtsschreitend ihre Lehren jedem Laien faßbar machen (so Anaxagoras, Diogenes u.a.); sie lesen ihre Bücher dem Publikum vor und erläutern sie in öffentlichen Vorträgen, nicht nur an ihrem Wohnsitz, so Anaxagoras in Athen, sondern auch in der Fremde, wie Parmenides und Zeno, als sie nach Athen kamen; begeisterte Schüler suchen für die allein wahre Erkenntnis weithin Propaganda zu machen. Die geistige Entwicklung, die wir in Athen kennengelernt haben, hat ihre Analogien in allen griechischen Gauen; der denkende Teil des Publikums, dem die überkommenen Anschauungen nicht mehr genügen, sucht Aufklärung bei den Männern, die ihr ganzes Leben der Untersuchung dieser Probleme gewidmet haben. So wird etwa um die Mitte des 5. Jahrhunderts das Publikum allmählich reif für theoretische Diskussionen. Für Euripides gewinnt jedes System Interesse, das ihm zugänglich wird, und er hat bald aus diesem, bald aus jenem seinen Personen Gedanken in den Mund gelegt, ohne doch in seinem rastlosen, aber nie zur Befriedigung gelangenden Drang nach Erkenntnis irgendeinem sich hingeben zu können; umgekehrt wird der samische Staatsmann Melissos ein überzeugter Anhänger der eleatischen Lehre, die er gemeinverständlich zu entwickeln sucht. Auch die Fachgelehrten, die Mediziner voran, müssen den allgemeinen Fragen nähertreten, teils weil sie selbst empfinden, daß sie mit der Empirie ohne Stellungnahme zu den Prinzipien der Naturlehre nicht auskommen, teils weil das Publikum von ihnen ein rationelles System und als Einleitung ihrer Praxis einen theoretischen Vortrag verlangt. Aber nur um so stärker tritt die Schattenseite der ganzen bisherigen Entwicklung hervor. Systeme standen in Fülle zur Auswahl, jedes das andere ausschließend, jedes mit dem Anspruch, die reine Wahrheit und den unfehlbaren Leitfaden für alle Naturerkenntnis zu bieten. Man brauchte nur zuzugreifen, nur die Konsequenzen [883] für jeden Einzelfall und jede Einzelwissenschaft zu ziehen; erforderlich war dafür nicht mehr, als daß man vor keiner Folgerung zurückschreckte, mochte sie auch aller Erfahrung und allem gesunden Menschenverstand noch so arg ins Gesicht schlagen. Eine Reihe guter Beobachtungen und einzelne verwendbare Experimente hatten die Systematiker wohl gemacht, aber daraus sofort die universellsten Konsequenzen gezogen. Der Weg, der allein die Naturwissenschaft weiterführen konnte, die gewissenhafte und zurückhaltende Erforschung des Einzelnen und die fortwährende Kritik des Ergebnisses an der Hand des Experiments, war noch nicht gefunden. Das lag noch ganz außerhalb des Interesses der Zeit: nicht Einzelerkenntnis wollte man, denn das Einzelne interessierte höchstens dann, wenn es aus irgendeinem Grunde auffallend und paradox erschien, sondern die Natur als Ganzes wollte man begreifen. Durchweg ging man sofort aufs Allgemeine; dem hierfür aufgestellten Grundsatz mußten die Einzeldinge wohl oder übel sich unterordnen. Man darf sich dadurch nicht beirren lassen, daß, wie es bei der Überfülle von Hypothesen kaum anders sein konnte, bald dieser, bald jener der alten Physiker einen Satz ausgesprochen hat, den die spätere Naturwissenschaft als richtig erwiesen hat; denn im Zusammenhang ihrer Systeme waren die uns als richtig geltenden Sätze nicht mehr wert als jeder andere. Mit vollem Recht haben Hippokrates und seine Schüler ausgesprochen, daß es ganz gleichgültig sei, welcher dieser Hypothesen man folge: ob man die Welt für eine Mischung des Warmen und Kalten, oder von Wasser und Erde, oder für Variationen eines Urstoffs erkläre, ob man sie aus einer Unzahl qualitativ verschiedener, vom Verstande bewegter Urelemente oder aus einem Wirbel stofflich gleichartiger Atome ableite. Wissenschaftlich standen alle diese Erklärungen auf gleicher Linie; die Probleme, die man lösen wollte, waren für die Zeit überhaupt noch nicht lösbar, ja oft kaum formulierbar. Daher endet das Jahrhundert der Naturphilosophie in vollständigem Bankrott. Die Verheerung, die dadurch in den Geistern angerichtet wurde, liegt in den medizinischen Schriften dieser Zeit (ca. 450-400) deutlich vor Augen (o. S. 848f.): das Ergebnis war lediglich, daß alle gesicherten Resultate, zu denen ein[884] methodisches Fortschreiten auf den Bahnen der Einzelforschung, der Technik oder »Kunst« im Gegensatz zur Wissenschaft oder »Philosophie«, gelangt war, verlorenzugehen drohten und durch willkürliche Theoreme, nach denen man die Tatsachen modelte, über den Haufen geworfen wurden. Ohne die energische Reaktion der folgenden Epoche, wie sie auf medizinischem Gebiet Hippokrates vertritt, wäre die griechische Wissenschaft, deren Fundamente doch bereits gelegt waren, in wüster Phantasterei zugrunde gegangen. Es war in der Tat so, wie Hippokrates sagt, hierin sich vollständig mit Sokrates deckend: »wenn jemand über die nicht sichtbaren und nicht sicher erklärbaren Dinge (τὰ ἀφανέα τε καὶ ἀπορεόμενα), wie z.B. über die in der Luft (die Gestirne) und unter der Erde, etwas zu sagen unternimmt, bedarf er der Hypothese, und wenn jemand auch ihr Wesen wirklich ausspräche und erkennte, so kann doch weder der Redende selbst noch die Hörenden Sicherheit erlangen, ob es wahr ist oder nicht. Denn es gibt kein Maß, an das man sie halten und an dem man sie messen und so zu sicherer Erkenntnis gelangen könnte« (de vet. med. 1). Zur Lösung dieser Fragen war eben die Wissenschaft noch nicht reif. So grundverschieden die Motive sind, aus denen von der einen Seite der populäre Wahn, der eine Untersuchung dieser Probleme für einen Eingriff in Dinge hält, die den Göttern vorbehalten sind, von der anderen die wissenschaftliche Forschung die Forderung aufstellt, man solle von diesen Fragen ablassen, und so bedeutend für die zukünftige Entwicklung die Keime sind, die in den alten Spekulationen ruhen, die Forderung selbst ist richtig: die Wissenschaft muß umkehren, wenn sie nicht zugrunde gehen soll; sie muß sich erst die Grundlagen erobern und durch gewissenhafte Selbstzucht das Denken erziehen, um hier weiterkommen zu können. Dafür gibt es, abgesehen von der technischen, in altbewährten Bahnen weiterschreitenden Fortbildung der praktischen Wissenschaften nur zwei Mittel, die beiden großen Errungenschaften, die die bisherige Weisheitslehre gewonnen hat: auf der einen Seite die Pythagoreische Mathematik, auf der anderen die systematische Untersuchung der Begriffe auf der Grundlage der eleatischen Ontologie, aber belebt von dem zündenden Feuer der Gedanken Heraklits.

[885] Mit diesem theoretischen Ergebnis der bisherigen Entwicklung verbinden sich nun aber die neuen praktischen Aufgaben, die das Leben stellt. Die philosophische Problemstellung hatte sich bisher auf die Aufgabe beschränkt, das Wesen der Welt zu erfassen, sei es physikalisch, sei es begrifflich: sie ging auf in Naturlehre und Ontologie. Hier den alten Glauben durch ein neues Wissen, durch Erkenntnis zu ersetzen, war ihr Ziel. Daher konnte sie, mochte sie im übrigen zur Religion stehen, wie sie wollte, sich zu den Gottheiten des Volkes nur ablehnend verhalten; höchstens als populäre Einkleidungen der kosmischen Erscheinungen und Kräfte oder der metaphysischen Begriffe konnte sie sie gelten lassen. Es ist schon erwähnt worden, daß der Versuch, sie in dieser Weise zu deuten und so auch in der heiligen Geschichte einen Kern zu retten, im Anschluß an die Homererklärung wiederholt unternommen ist. Bei den an der überlieferten Religion festhaltenden Massen mochten die kosmischen Spekulationen gelegentlich schweren Anstoß erregen; aber eine Umdeutung der Götter und der Sagen war man längst gewohnt und übte sie gerade in gläubigen Kreisen selbst, bewußt und unbewußt; und solange die weitergehenden Theorien auf einen engen Kreis beschränkt blieben und nicht provozierend auftraten, blieb auch die Reaktion aus. Die Probleme dagegen, welche den Menschen als solchen am unmittelbarsten berühren, die praktischen Fragen seines Verhaltens zu den Mitmenschen und zur Götterwelt, die Ethik und die Politik, lagen allen Philosophien, mit Ausnahme der zugleich ein praktisches Ziel erstrebenden mystischen Systeme des Pythagoras und Empedokles, völlig fern. Der wahre Weise, wie Anaxagoras, verkörpert auch in seiner Lebenshaltung das sittliche Ideal; er mag im Gespräch, wie der Dichter, die ethischen Begriffe des Volkes zu heben und zu läutern und nicht nur durch sein Beispiel, sondern auch durch das Wort erzieherisch zu wirken versuchen, aber seine eigentliche Aufgabe bilden diese Fragen nicht. Nur Heraklit nimmt auch hier eine Sonderstellung ein; wie seine Weltauffassung ausgeht von den Gegensätzen in der Menschenbrust und in der menschlichen Gesellschaft, so hat er ihr Walten auch im Menschenleben verfolgt und daher auch die ethischen, sozialen, religiösen Fragen berührt. Indessen [886] von da zu einer systematischen Untersuchung dieser Fragen, die mehr wäre als eine Zusammenstellung allgemeiner Betrachtungen und Lebensregeln, ist noch ein weiter Schritt; und diesen hat trotz aller seiner Originalität auch Heraklit nicht getan. So hoch ihm seine eigene Individualität steht, so stolz sie, die das Denken der Weltvernunft zu erfassen vermag, der Menge entgegentritt: die Individualität des einzelnen Menschen als solchen ist ihm noch völlig gleichgültig; ja das Problem, das in dem Vorhandensein denkender Individuen liegt, deren jedes sich selbst als Mittelpunkt der Welt betrachtet, hat er überhaupt nicht empfunden, so wenig wie irgendeiner der großen Denker seiner Zeit. Gerade in einer pantheistischen Weltbetrachtung, der die Einzelseele nur ein Ausfluß des Allgemeinen ist, sei es des bewegenden Elements, sei es des Denkens an sich, sei es der einen alleinexistierenden Substanz, die zugleich Sein und Denken ist, war für eine derartige Betrachtung überhaupt kein Raum. Nicht durch organische Entwicklung auf dem Boden der Philosophie sind diese Probleme erwachsen, sondern sie ist durch die geistige Entwicklung der Nation gezwungen worden, ihre alte Richtung zu verlassen und sich Fragen zuzuwenden, deren Erörterung bisher, von der fachmännischen Forschung kaum beachtet, neben ihren Untersuchungen einherlief. Daher ist denn auch der erste Grieche, der das Opfer einer Religionsverfolgung wurde, Diagoras von Melos (o. S. 751f.), nicht ein Philosoph gewesen, sondern ein Dichter, der durch trübe Lebenserfahrungen, nicht durch vernunftmäßige Spekulationen, sich gedrängt fand, seine religionsstürzenden Reden in die Menge zu werfen.

Wir haben gesehen, wie in der athenischen Demokratie eine stets regere und durchgebildetere Diskussion entstand, welche alle Grundlagen der alten Ordnung, Recht und Sitte, Religion und Moral in Frage stellte und in ihren Grundfesten erschütterte. Alle Einrichtungen des Staats und der Gesellschaft wirkten dabei zusammen. In der Volksversammlung und im Gericht wurden die Fragen tagtäglich angeregt; der rege geistige Verkehr nahm sie auf, das Drama gestaltete seine Stoffe nach diesen Problemen. Im Gegensatz gegen die Vertreter der alten Zeit und ihrer einheitlichen Weltanschauung warf sich die jüngere Generation, geführt [887] von Euripides, ganz in die neue Strömung: der unerschütterlichen Überzeugung, die jene festzuhalten sich bemühten, stellte sie den Zweifel, die Negation entgegen. Der Gedanke, der Heraklits Weltanschauung bestimmte, setzt sich hier in die Praxis um: jeder menschliche Begriff und jede menschliche Satzung hat ein Doppelantlitz, auf jedes Problem lassen sich zwei Antworten geben, die sich gegenseitig aufheben – eine Erkenntnis, die im öffentlichen wie im privaten Leben jede schwierigere Verhandlung aufs neue lehrte und die Euripides in seinen Dramen mit vollendeter Kunst angewandt hat. Was herkömmlich ist und für recht gilt, beruht nur auf Konvention, auf dem νόμος: «nach der Satzung glauben wir an die Götter und scheiden für unser Leben Recht und Unrecht» (Eurip. Hek. 800). Die Vorschriften des Gesetzes mögen unentbehrlich sein für die menschliche Gesellschaft und diese daher gezwungen sein, sie aufrechtzuerhalten; aber naturnotwendig und unumstößlich sind sie nicht. Damit ist die feste Norm aufgehoben, deren Existenz und Erkennbarkeit gerade für die theoretische Begründung der Demokratie die unentbehrliche Voraussetzung bildete; an Stelle der in den Grundbegriffen der Weltordnung und des Sittengesetzes gegebenen Richtschnur tritt das subjektive Belieben, an Stelle der Wahrheit das Meinen. In jedem einzelnen Falle muß man nicht das an sich Richtige sagen und tun – denn etwas Derartiges gibt es überhaupt nicht –, sondern das, was den gegebenen Umständen und den eigenen Zielen und Wünschen entspricht; sonst erliegt man im Kampf des Lebens. So tritt die einzelne Persönlichkeit in ganz anderer Weise in den Mittelpunkt als früher. Die eigenen Ansprüche und Interessen durchzusetzen, hat sie zu allen Zeiten gestrebt; eben darauf beruht ja alles menschliche und alles geschichtliche Leben; aber die Schranken, die ihr bisher in der allgemeinen Überzeugung und auch in der eigenen Brust des Handelnden Grenzen setzten, werden jetzt aufgehoben; sie tritt mit dem Anspruch hervor, allein berechtigt zu sein, und sucht diesen Anspruch theoretisch zu begründen.

Damit treten aber ganz neue Forderungen an die Ausbildung des einzelnen Individuums hervor. Die bisherige, auf den Grundlagen [888] der alten Weltanschauung ruhende und vom Staat organisierte Erziehung genügt nicht mehr; wer sich in den von Grund aus veränderten sozialen und politischen Verhältnissen der neuen Zeit behaupten, wer gar seine Persönlichkeit durchsetzen und zur Macht gelangen will, bedarf einer ganz anderen Schulung des Geistes. Das Erziehungsproblem tritt in den Mittelpunkt der geistigen Bewegung: die Erziehung, welche die moderne Zeit fordert, muß individuell gestaltet sein und nicht in der Ausbildung homogener Bürger, sondern in der vollen Entfaltung der Einzelpersönlichkeit ihre Aufgabe sehen. Dieser hat sie die Mittel zu gewähren, deren sie für den Kampf des Lebens bedarf. Das wichtigste Erfordernis ist die Beherrschung des Wortes, die Kunst der Überredung, die, wenn sie nicht die Wahrheit darzulegen vermag, doch den Schein der Wahrheit hervorruft und dadurch ihr Ziel weit sicherer erreicht als alle richtige Einsicht, wenn ihr die Fähigkeit abgeht, andere zu überzeugen. Die Bewegung, die in Athen zum entscheidenden Kampf um die Gestaltung der hellenischen Kultur erwächst, hat die ganze griechische Welt ergriffen; mit Ausnahme von Sparta, wo der Staat und das Interesse der herrschenden Klasse mit rücksichtsloser Energie jedes Eindringen einer neuen Strömung unterdrückte, sind überall die gleichen Voraussetzungen vorhanden, wenn auch in verschiedener Intensität. Die gleichartige Entwicklung Siziliens haben wir früher kennengelernt (o. S. 619f.). So tief wie in Athen die Probleme zu fassen, entsprach weder dem Temperament der Bevölkerung noch den wirren politischen Verhältnissen; dafür hat sich hier aber die praktische Redekunst vor Gericht früher zu einer Technik der Kunstmittel und der Advokatenkniffe ausgebildet, mittels deren man auf Erfolg hoffen konnte, und mit ihr ist zugleich der praktische Beruf der Redenschreiber und Redelehrer ins Leben getreten. Das war nur ein Bruchteil, und zwar ein ziemlich untergeordneter, der großen Aufgabe, deren Lösung man forderte: es galt eine Kunst zu schaffen, welche auf Grund methodischer Ausbildung des Denkens und der kunstgerechten Handhabung der Sprache allen Situationen des Lebens im kleinen wie im großen genügte. »Was mühen wir Sterblichen [889] uns ab um all die anderen Wissenschaften und erforschen sie, anstatt lieber die Überredungskunst, die doch die alleinige Herrscherin über die Menschen ist, fleißig bis zu Ende durchzulernen und Lohn dafür zu zahlen, damit man überzeugen und dadurch zugleich sein Ziel erlangen kann?« Als Euripides um 425 v. Chr. der Hekabe diese Worte in den Mund legte (v. 814ff.), war seine Forderung bereits im Begriff, sich zu erfüllen; sie sind nur ein Widerhall des Kampfes um die neue Bildung und die neue Kunst, aus dem diese ganze Tragödie erwachsen ist. Dieselbe Hekabe, die hier mit Aufbietung aller Kunstmittel überreden zu können wünscht, flucht an anderer Stelle »der undankbaren Zunft derer, die die Ehren des Volksredners erstreben; möchte ich sie doch nie kennenlernen, die sich nichts daraus machen, den Freunden zu schaden, wenn sie nur der Menge zu Gunst sprechen« (254ff.); sie spricht von »der Satzung (dem Gesetz), die für alle in gleicher Weise gilt, Freie wie Sklaven« (291f.; vgl. 800), von dem angeborenen Adel des tüchtigen Menschen, der keinem Unglück und keiner Versuchung erliegt, aber wohl durch die Erziehung gehoben werden kann: »denn gute Erziehung umschließt auch den Unterricht im Edlen; wenn jemand das wohl gelernt hat, weiß er, was schimpflich ist, und kann es an der Richtschnur des Guten messen« (595ff.). Eben diese Richtschnur zu finden, die neue Kunst, die gesteigerte intellektuelle Bildung sich anzueignen, ohne den Adel des Menschen und die Begriffe des Rechten und Guten und Schönen zu verlieren, das ist die kulturelle Aufgabe, die zu lösen die unter Perikles' Staatsleitung heranwachsende Generation berufen war.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 881-890.
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