Verfassungsänderung und Rüstungen in Athen

[263] Auf Athen war die Kunde von der Vernichtung der Heere auf Sizilien wie ein Wetterschlag niedergefahren. Immer noch hatte man die trüben Berichte für übertrieben gehalten und die Hoffnung nicht sinken lassen; jetzt wollte man selbst den Augenzeugen kaum glauben, daß wirklich alles ganz und gar verloren und vernichtet sei. Als endlich kein Zweifel mehr blieb, bemächtigte sich dumpfe Verzweiflung der Gemüter. Die Hilfsmittel waren erschöpft, die Verluste an Geld, Schiffen, Mannschaften nicht wieder zu ersetzen; schon sah man im Geiste das attische Reich zusammenbrechen, die feindliche Flotte in den Piräeus einlaufen und gleichzeitig die Landheere gegen die Stadt vorrücken. Deutlich lag vor Augen, wohin die bisherige Richtung der Politik geführt hatte, die gegen alle Warnungen der Besonnenen, des Nikias und seiner Genossen, taub geblieben war: eine Reaktion bereitete sich vor, von den Radikalen wandte sich die Strömung der Massen den Gemäßigten zu. Die Urheber [263] und Förderer der Expedition nach Sizilien, untergeordnete Antragsteller wie Demostratos (s.S. 213, 1), Propheten und Zeichendeuter, die einen glücklichen Ausgang verkündet hatten, fielen, auch wenn man sie nicht zur Verantwortung zog, der allgemeinen Verwünschung anheim. Die eigentlichen Führer der extremen Demokratie, die in den letzten Jahren das Regiment geführt hatten, wie Peisandros und Androkles, wußten sich zu decken: hatten doch nicht sie selbst das Unternehmen beantragt, dessen Gewinn sie hatten einheimsen wollen, sondern ihr Gegner Alkibiades. Manche unter ihnen, vor allen Peisandros233, folgten jetzt der veränderten Strömung und lenkten insgeheim allmählich ins konservative Fahrwasser ein. Zum ersten Male empfanden auch die Radikalen, was es bedeute, daß der Staat kein wirkliches Regierungsorgan besaß und die entscheidenden Beschlüsse lediglich von der jeweiligen Majorität der Volksversammlung abhingen. Man setzte daher, um die Wiederkehr ähnlicher Übereilungen zu verhüten, ein vorberatendes Kollegium von zehn Probulen ein, die aus den ältesten und angesehensten Bürgern gewählt werden sollten. In ihre Hände wurde die eigentliche Entscheidung über die Politik und auch die Leitung der Finanzen gelegt; dem Rat verblieb nur die Ausführung, dem Volk nur die Sanktionierung ihrer Entschlüsse. Die neuen Staatsleiter waren freilich Greise wie der Tragiker Sophokles und Hagnon, die der verzweifelten Situation, in der der Staat sich befand, unmöglich gewachsen sein und die unentbehrliche Autorität nicht gewinnen konnten. Aber wenigstens den guten Willen hatte man gezeigt, und mit Eifer ging man daran, zu retten, was noch zu retten war, und sich für eine Verteidigung bis aufs äußerste zu rüsten234.

[264] Für die Verluste an Mannschaften freilich ließ sich ein Ersatz nicht beschaffen. Die Gesamtzahl der Bürger der drei oberen Klassen war von dem Bestand des Jahres 431, 34000 Männer vom 20. Jahre aufwärts, durch die Pest und die Verluste im Kriege auf etwa 20000 herabgesunken; dazu kamen noch ein paar Tausend wohlhabende Metöken. Das Hoplitenheer, das man daraus aufbringen konnte, und die Reserve aus den älteren Jahrgängen und den Epheben war jetzt durch die Verteidigung der Hauptstadt und des Landes vor den Toren gegen die Besatzung von Dekelea und den ununterbrochenen Wachtdienst auf der Mauer vollständig in Anspruch genommen. Auch die ärmere Bevölkerung hatte jetzt, anders als im Archidamischen Kriege, durch die Vernichtung der nach Sizilien gesandten Flottenmannschaft die schwersten Verluste erlitten – unter den Ruderern mögen etwa 15000 attische Theten und Metöken gewesen sein. Was übrig blieb, brauchte man um so dringender für die Bemannung der Flotte, da infolge der Ebbe der Finanzen und bald auch, seit dem Eingreifen Persiens in den Krieg, der Konkurrenz der jetzt zahlungskräftigeren Gegner die Anwerbung fremder Ruderer immer schwieriger wurde. So war es unmöglich, Theten in größerer Zahl auf Staatskosten auszurüsten und in das Hoplitenheer einzustellen; nur die Epibaten der Kriegsschiffe wurden jetzt fast ausnahmslos aus den Theten entnommen – damit hatte man bereits im Jahre 415 begonnen (s.S. 218). Aber eine größere Feldarmee für Operationen außer Landes aufzustellen war fortan kaum noch tunlich; eigentlich ist nur noch ein einziges Mal, im Jahre 410 für Thrasylos' Feldzug nach Ionien (s.S. 323), der Versuch dazu gemacht worden. Jetzt rächte sich die engherzige Politik der attischen Demokratie gegen die Bündner; wie ganz [265] andere Leistungen wären möglich gewesen, wenn das Reich wirklich eine politische Einheit gebildet hätte und die athenische Regierung über seine militärischen Kräfte frei hätte verfügen können. Der Gedanke, die Schranken zwischen Herrschern und Untertanen aufzuheben und aus Athen und den Bündnern einen einzigen Staat und ein Volk zu machen, ist in den Nöten der Zeit allerdings ventiliert worden (Aristoph. Lys. 571ff., vgl. Bd. IV 1, 664). Aber jetzt war es dazu zu spät; eine vollständige Umwälzung der Bundesordnung ließ sich nicht ins Werk setzen, wo der Vorort um seine Existenz kämpfte und bei allen Untertanen die antiathenische Partei den Moment herbeisehnte, wo sie sein Joch abschütteln konnte.

Indessen das eigentlich entscheidende Machtmittel für die Kriegführung war, wie Perikles immer betont hatte, das Geld; und auch damit war es schlimm bestellt. Im Schatz lagen außer dem Reservefonds von 1000 Talenten nur noch geringe Summen. Die Leistungen des Reiches konnten nach der Umwandlung der Tribute in einen Zoll (s.S. 243f.) jetzt, wo man auf die Stimmung der Bündner Rücksicht nehmen mußte, um so weniger vermehrt werden. Von Steuerquellen blieb nur die Eisphora235. Aber so starke Anforderungen man an das Vermögen der Bürger stellte (vgl. Bd. IV 1, 742), ihre Erträge mußten fortwährend zurückgehen, seit die Landbevölkerung tatsächlich ihren Grundbesitz verloren hatte, die Geschäfte durch die Desertion der Sklaven (s.S. 243) und die stets steigende Heranziehung der freien Arbeiter zum Flottendienst zurückgingen und alsbald auch der Handel durch den jetzt ausbrechenden Seekrieg schweren Schaden erlitt. Man suchte die Ausgaben zu reduzieren; aber die Hauptposten, die Besoldung der Ämter und Richter und die Kosten der Feste, konnte man jetzt, wo die gesamte Bevölkerung des Landes in die Mauern zusammengedrängt und größtenteils erwerbslos war, unmöglich wesentlich beschränken236. Vielmehr [266] mußte man jetzt auch der Besatzungsarmee tagtäglich Sold zahlen und vermutlich gar bald beginnen, wie den als Hopliten eingestellten Theten, so auch den verarmten Zeugiten von Staats wegen die Rüstung zu liefern oder doch zu ergänzen. – Trotz dem allem raffte man sich alsbald aus der tiefen Niedergeschlagenheit auf: die Feinde waren noch nicht so weit, daß sie zum entscheidenden Schlage hätten ausholen können, und Athens Sache schien noch nicht verloren. Man beschaffte Bauholz und begann den Bau einer neuen Flotte; zum Glück stand man mit Makedonien, wo eben jetzt nach Perdikkas Tode sein Bastard Archelaos sich der Regierung bemächtigt hatte, seit 415 wieder in guten Beziehungen und konnte von hier die Ruder beziehen (Bd. IV 1, 724.)237. Die Besatzung an der lakonischen Küste, Kythera gegenüber (s.S. 245), wurde eingezogen und außer Kythera lediglich der Posten in Pylos festgehalten238, dafür aber Sunion befestigt, um die Getreidezufuhr längs der Küste gegen Streifscharen aus Dekelea zu sichern. Weiter traf man alle Vorsichtsmaßregeln, um die Bündner in Abhängigkeit zu halten. Die Strömung blieb durchaus konservativ: bei den Strategenwahlen im Frühjahr 412 wurde, neben angesehenen Männern gemäßigt demokratischer Richtung wie Strombichides, dem Sohn des Diotimos, Diomedon, Leon und vielleicht Nikias' Bruder Eukrates239, auch ein eifriger Anhänger der aristokratischen Partei, gewählt, den Aristophanes schon 422 als Gesinnungsgenossen des Antiphon nennt (vesp. 1302, s.S. 92, 1), nämlich Phrynichos, der Sohn des Stratonides, der sich aus niederen Verhältnissen emporgearbeitet und zunächst als Anwalt in Staatsprozessen einen Namen gemacht hatte, aber auch mehrfach als Sykophant verurteilt [267] war240; ferner seine Gesinnungsgenossen Onomakles, Skironides, Charminos – freilich mochten diese damals vor dem Volk noch zum Teil als überzeugte Demokraten auftreten.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 263-268.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Bjørnson, Bjørnstjerne

Synnöve Solbakken. (Synnøve Solbakken)

Synnöve Solbakken. (Synnøve Solbakken)

Vor dem Hintergrund einer romantisch idyllischen Fabel zeichnet der Autor individuell realistische Figuren, die einerseits Bestandteil jahrhundertealter Tradition und andererseits feinfühlige Persönlichkeiten sind. Die 1857 erschienene Bauernerzählung um die schöne Synnöve und den hitzköpfigen Thorbjörn machte Bjørnson praktisch mit Erscheinen weltberühmt.

70 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon