Machtmittel und Vorbereitungen

[25] Als die Kunde von dem Kriegsentschluß der Peloponnesier durch die griechische Welt ging, war die Erwartung allgemein, daß binnen kürzester Frist, schlimmstenfalls in zwei bis drei Jahren, Athen der Übermacht erliegen würde: es schien Tollkühnheit, daß es den Krieg überhaupt aufzunehmen wagte und nicht lieber, auf was für Bedingungen es auch sein mochte, von seiner Macht zu retten suchte, was seine Gegner ihm großmütig noch etwa lassen würden. So ging man mit regem Eifer in den Kampf. Auf Spartas Seite stand der peloponnesische Bund, der die ganze Halbinsel nebst Megara und dem korinthischen Kolonialreich (Ambrakia, Leukas, Anaktorion) mit Ausnahme von Argos und den achäischen Küstenstädten umfaßte – diese suchten zunächst neutral zu bleiben;[25] nur Pallene, die Nachbarstadt Sikyons, schloß sich sofort den Peloponnesiern an. Im Norden Attikas standen der böotische Bund unter Theben, der phokische Stammverband (vgl. Bd. IV 1, 585) mit Delphi, und die Lokrer von Opus seit dem Abfall von Athen 446 mit Sparta im Bunde und leisteten Zuzug20. Mit voller Energie trat vor allem Theben in den Krieg ein, da es an der Vernichtung des verhaßten Nachbarn mindestens dasselbe Interesse hatte wie Korinth. Im Frühjahr 431 sollte das Bundesheer am Isthmos zusammentreten, zwei Drittel des Gesamtaufgebots eines jeden Staates, insgesamt mindestens etwa 30000 vollgerüstete Hopliten, dazu Reiter der Böoter, Phoker und Lokrer; von hier aus wollte man zum Angriff auf Attika vorgehen, der, wie man glaubte, sofort zur Entscheidung führen mußte21.

Wer freilich unbefangen das Verhältnis der Kräfte überschaute22 wie König Archidamos, mußte sich sagen, daß es sehr fraglich sei, ob man auf diesem Weg zum Ziel gelangen könne. Wenn die Athener so töricht waren, sich auf eine Landschlacht einzulassen, dann war alles gut; aber eben das wußten die Athener auch, und der Feldherr, der an ihrer Spitze stand, war der Mann dazu, sie trotz aller leidenschaftlichen Erregung des Moments bei dem richtigen Entschluß festzuhalten. Die Verwüstung Attikas war ein mächtiges Druckmittel in den diplomatischen Verhandlungen gewesen, und doch hatte sie hier vollständig versagt; wurde sie ins [26] Werk gesetzt, ohne daß sie die Athener zur Schlacht verlockte, so verlor sie alle Wirkung. Sie war wohl lästig, aber die Grundlagen der attischen Macht tangierte sie nicht. Ein Angriff auf Athen selbst mit seinen gewaltigen Festungswerken, die zu verteidigen die Bürgerwehr völlig ausreichte, war unmöglich, ebenso eine Aushungerung, da sie ihre Lebensmittel nicht vom Lande, sondern von der See er hielt. Handel und Industrie, auf denen der Wohlstand Athens beruhte, wurden durch den Einfall kaum irgendwie geschädigt, und von einer Erschütterung des Reichs, aus dem es seine Einkünfte bezog, konnte vollends keine Rede sein, solange es die See beherrschte, trotz aller Aufstandsgelüste der in ihrer Isolierung ohne fremden Beistand ohnmächtigen Bündner. So war die absolute Überlegenheit zu Lande für die Verbündeten fast nutzlos; wollten sie wirklich den Kern der attischen Macht treffen, so mußten sie Athen zur See entgegentreten. Dazu aber waren die Schiffe, welche Korinth mit seinen Kolonien, Megara, Elis und die übrigen Küstenstaaten aufbringen konnten, völlig außerstande, sowohl der Zahl, wie in noch höherem Grade dem Material und der taktischen Ausbildung nach; selbst einer an Zahl weit schwächeren attischen Flottenabteilung konnten sie nicht die Spitze bieten, geschweige denn sich auf die hohe See hinauswagen. Der Gedanke, während des Krieges eine leistungsfähige Flotte zu schaffen und womöglich gar den Athenern durch höhere Soldzahlung die Matrosen zu entziehen, welche sie auf den Inseln und in der Fremde warben, konnte wohl gelegentlich einmal geäußert werden; ihn in die Tat umzusetzen war so gut wie unmöglich; dazu fehlten sowohl die Geldmittel wie die politische Energie. Je länger der Krieg sich hinzog, desto mehr mußte die innere Schwäche der Verbündeten hervortreten, das Fehlen einer festen Konsistenz und einer alle Kräfte zu einem Ziel zusammenfassenden Leitung ihres Bundes, die Gegensätze zwischen den einzelnen Staaten, vor allem aber die politische und ökonomische Rückständigkeit ihrer Organisation dem modernen Staatswesen gegenüber. An Mannschaften hatte man Überfluß, und ein großes Heer aufzubieten war eine Kleinigkeit; aber es länger als wenige Wochen unter der Fahne zu halten, war unmöglich, nicht nur wegen der Schwierigkeiten der Verpflegung, sondern vor allem, weil die [27] peloponnesischen Bauern zu den Erntearbeiten nach Hause mußten. Der bevorstehende Krieg, das mußte sich alsbald zeigen, »war weniger eine Sache des Kampfes als der Geldmittel«. Auf finanziellem Gebiet aber waren Athens Bedürfnisse auf Jahre hinaus gedeckt; bei den Peloponnesiern dagegen besaß vielleicht Korinth einen leistungsfähigen Staatsschatz, aber Sparta und die arkadischen Bauerngemeinden kannten einen solchen kaum dem Namen nach. Wohlhabende Leute gab es eine große Zahl; aber ihr Reichtum steckte im Grundbesitz, und zum Steuerzahlen war nirgends Neigung vorhanden, ja wenn eine Vermögenssteuer ausgeschrieben war, wurde sie nicht nur in Sparta in ganz unzulänglicher Weise durchgeführt. »Wer selbst sein Feld bestellt, ist leichter bereit, seinen Leib als sein Geld dem Staat zur Verfügung zu stellen; denn in der Schlacht mit dem Leben davonzukommen, vertrauen sie, aber ob nicht ihr Vermögen vor dem Ende des Kriegs aufgezehrt sein wird, dessen fühlen sie sich nicht sicher, zumal wenn er sich wider Erwarten in die Länge zieht.« Ohnedies mußte der Wohlstand im Peloponnes auf die Dauer immer mehr zurückgehen: die Feldarbeiten wurden durch die Einziehung der Bauern immer aufs neue gestört, die Sperrung der See und des Handels aber mußten alsbald eine empfindliche Steigerung der Preise und zugleich einen Rückgang des Absatzes herbeiführen, zumal da auch der Peloponnes überseeisches Getreide nicht mehr entbehren konnte23. Wohl lagen im Bereich der Verbündeten gewaltige Geldsummen in den Tempeln von Olympia und Delphi; aber der Gedanke, die tot daliegenden Massen Edelmetalls durch staatliche Anleihen in ein nutzbares Kapital zu verwandeln, der in Athens Finanzpolitik vollkommen durchgeführt war, konnte vielleicht von den Korinthern einmal geäußert werden; an seine Ausführung war bei den wirtschaftlichen und religiösen Anschauungen der Peloponnesier nicht zu denken. Hatten sich doch sogar die Ionier im Kampf gegen Persien zu einer solchen Maßregel nicht entschließen können (Bd. IV 1, 283).

[28] Größere Aussichten schien das Streben zu bieten, durch Allianzen die eigenen Kräfte zu verstärken. Mit Perdikkas und den Chalkidiern stand man bereits im Bunde; aber so willkommen es war, daß Athen hier mit ernstlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, so unmöglich schien eine direkte Unterstützung. Dagegen durfte man auf sicheren Erfolg hoffen, wenn Persien in den Kampf eintrat24. Das Bedenken, mit dem Landesfeind zusammenzugehen, an dem im letzten Grunde der vorige Krieg gescheitert war, trat jetzt, wo Sparta alle Kräfte für das nächste Ziel aufbieten mußte, alsbald zurück. Im Jahre 430 sind Gesandte von Sparta und Korinth nach Susa abgegangen; als Vermittler zog man einen zu Sparta neigenden Bürger des seit alters mit Persien verbündeten Argos heran. Aber weder der Hof von Susa noch die kleinasiatischen Satrapen zeigten Neigung, den Frieden mit Athen zu brechen; sie trauten offenbar der Situation nicht und wollten nicht nochmals einen großen Aufwand nutzlos aufs Spiel setzen. – Erfolgreicher ließen sich die Verhandlungen mit den Griechen Unteritaliens und Siziliens an25. Immer bedenklicher machte sich auch hier das Übergewicht Athens fühlbar; daß jetzt Korkyra tatsächlich von ihm abhängig geworden war, glich den Verlust Thuriis reichlich aus und enthielt eine unmittelbare Bedrohung der Selbständigkeit des Westens. Athen hat denn auch kein Bedenken getragen, sofort mit Rhegion und Leontini in ein Bündnis zu treten und ihnen seinen Schutz zu versprechen (Bd. IV 1, 731); beide Städte und ebenso Segesta konnten ihm keine Hilfe bringen, gaben ihm aber jederzeit die Möglichkeit, auf Sizilien aggressiv vorzugehen. So lag für Syrakus und seine Bundesgenossen, vor allem Lokri und Selinus, Grund genug vor, in den Krieg einzutreten. Sie gingen denn auch bereitwillig auf die spartanischen Vorschläge ein und versprachen Geld und Schiffe in großer Zahl; bis das bereit sei, wollte man den Verkehr [29] mit Athen in vorsichtigen Formen fortsetzen. So konnten die Peloponnesier träumen, alsbald eine große Flotte, bis zu 500 Schiffen, in See zu stellen. Aber in Wirklichkeit geschah gar nichts; die Sikelioten exportierten nach dem Peloponnes zwar Getreide, das dieser dringend brauchte, da ihm die Zufuhr vom Pontos und aus Cypern und Ägypten durch Athen gesperrt wurde; aber im übrigen hatten sie daheim nähere Sorgen, und sobald es an die Ausführung gehen sollte, schwand die Neigung, Kräfte und Geld für das weitaussehende Unternehmen herzugeben.

Diesen Vorbereitungen gegenüber verfuhren die Athener nach Perikles' Ratschlägen. Sie setzten Heer und Flotte in Verteidigungszustand und trafen die nötigen Vorkehrungen zur Sicherung ihres Reiches. Von dem Schatze der Athena wurden 1000 Talente (5440000 Mark) für den Notfall festgelegt und bei Todesstrafe verboten, den Antrag, sie anzugreifen, einzubringen, es sei denn, daß die Feinde mit einer Flotte Athen selbst angreifen sollten. Ebenso wurden alljährlich die 100 besten Trieren ausgemustert und samt den zugehörigen Trierarchen für den gleichen Notfall zurückgestellt26. So blieben für die Kriegsführung noch 5000 Talente (27200000 Mark) – etwa 600 Talente hatte bereits der korkyräische Krieg und der Feldzug gegen Potidäa gekostet – und 300 Trieren disponibel27. Um sich bei der zu erwartenden Verwüstung Attikas das nötige Getreide zu sichern, wurde der Getreidehandel des attischen Reiches völlig im Piräus konzentriert: in den Hellespont wurde eine Kommission von Aufsichtsbeamten geschickt, die dafür zu sorgen hatte, daß alles bei Byzanz durchpassierende pontische Getreide nur nach Athen verschifft wurde, es sei denn, daß einer Gemeinde das Privileg erteilt war, einen bestimmten Betrag vorweg einzuführen. Von allem im Piräus ankommenden Getreide wurden zwei Drittel für Athen reserviert, nur ein Drittel durfte [30] wieder ausgeführt werden; und die »Getreidewächter« hatten über die Kornhändler scharfe Kontrolle zu führen, um die Brotpreise niedrig zu halten28. – Zuverlässige Verbündete29 besaß Athen nur in Platää und in den Messeniern von Naupaktos, die beide nicht bestehen konnten, wenn Athen erlag. Mit den Thessalern wurde der alte Bund erneuert, und wenigstens im Jahre 431 haben die meisten thessalischen Städte Athen Reiterei zu Hilfe geschickt, wie 457 bei Tanagra. Argos dagegen hielt sich neutral; bei den starken Rüstungen der Peloponnesier hatte es keinen Anlaß, den dreißigjährigen Frieden mit Sparta zu brechen30. Außerdem aber hatte Athen jetzt [31] eine neue Machtsphäre im Westen gewonnen. Die Akarnanen mit Ausnahme von Öniadä waren seit Phormios Feldzug gegen Ambrakia (Bd. IV 1, 730.) mit Athen verbündet, ebenso die ozolischen Lokrer, die aber zunächst am Kriege nicht teilnahmen. Dagegen stellte Korkyra Bundeshilfe in Aussicht; es mußte fürchten, Korinth zu erliegen, wenn die Peloponnesier siegten. Seinem Beispiel folgte Zakynthos, während die Städte von Kephallenia sich noch zurückhielten. – Wenn Perikles die Notwendigkeit erkannt hatte, den Krieg defensiv zu führen und jede Feldschlacht zu vermeiden, so war damit in keiner Weise gemeint, daß Athen in Passivität versinken solle. Im Gegenteil, wenn die Peloponnesier Attika verwüsteten, so konnte Athen ihnen durch seine Flotte, durch Überfälle und Verheerungen der Küstengebiete mindestens ebenso empfindlichen Schaden zufügen. Im übrigen galt es, jede Gelegenheit zu ergreifen, wie sie der Lauf der Dinge bieten würde, um den Feinden bald hier, bald da Abbruch zu tun; auch größere Unternehmungen, wenn sie Erfolg verhießen und die Gefahr nicht zu groß war, sollten durchaus nicht ausgeschlossen sein. Nur das ergab sich aus Perikles Plan, daß die Entscheidung nicht in direktem Kampf der beiden Hauptstaaten gegeneinander gesucht werden dürfe; man mußte sich auf die Nebenschauplätze wenden, ja solche schaffen, die Feinde in immer neue Schwierigkeiten verwickeln, vor allem aber die Seeherrschaft Athens mit vollster Energie behaupten und den Feinden nicht gestatten, sich zur See überhaupt zu rühren. Dann konnte man alles andere ruhig der Zeit überlassen; der Moment mußte kommen, wo die materiellen Mittel der Gegner erschöpft und ihre Energie erlahmt war und sie, in der Erkenntnis, daß sie das Ziel des Krieges niemals erreichen konnten, Athen Bedingungen boten, die es in Ehren annehmen durfte. So werde es »sogar ganz leicht« sein, den Krieg zum siegreichen Ende zu führen31.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 25-32.
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