Drittes bis sechstes Kriegsjahr. Platää. Mytilene. Krieg im Westen

[60] Seit dem Scheitern der Friedensverhandlungen mit Sparta im Sommer 430 ging der Krieg seinen Weg weiter. Im Jahre 429 haben die Peloponnesier von einer neuen Verheerung Attikas Abstand genommen; statt dessen wandte Archidamos sich gegen Platää. Die Aufforderung, sich den Verbündeten anzuschließen oder wenigstens neutral zu bleiben, oder wenn man, eingekeilt zwischen Athen und Theben, das nicht wage, die Stadt auf die Dauer des Krieges zu räumen und Land und Habe den Spartanern gegen eine feste Abgabe zu verpfänden, wiesen die Platäer zurück, im Vertrauen auf das Versprechen Athens, sie in der Not nicht zu verlassen – worin freilich bei der Übermacht des Belagerungsheeres die Hilfe bestehen sollte, wird, seit in Athen die Überzeugung durchgedrungen war, daß man eine Feldschlacht in keinem Falle wagen dürfe, schwerlich jemand haben angeben können. Aber allerdings blieb den Platäern kaum eine Wahl; nahmen sie die gebotenen Bedingungen an, so fielen sie Theben und dem böotischen Bunde anheim und waren dafür den Rachezügen Athens ausgesetzt wie Megara; und überdies hatten sie gleich zu Anfang des Krieges sich auf die Belagerung eingerichtet und Weiber und Kinder und wer sonst nicht kriegsfähig war, nach Athen in Sicherheit gebracht. So begann etwa im Mai 429 die regelrechte Belagerung. Platää war ein kleines Landstädtchen, wie es deren Hunderte in der Griechenwelt gab; größere Bedeutung hatte es nur dadurch, daß es die Hauptstraße von Böotien nach Megara beherrschte und daß es (abgesehen von dem Athen untertänigen Gebiet von Oropos) der einzige Fleck böotischer Erde war, der Thebens Suprematie nicht anerkannte. [60] Alles in allem hatte es zur Zeit 400 waffenfähige Bürger. Dazu kam eine athenische Besatzung von 80 Mann. Alles andere, auch die Sklaven, bis auf 110 Weiber zum Backen und Kochen, hatte man nach Athen geschafft. Durch die Gunst der Lage ist es dieser kleinen Garnison möglich gewesen, über zwei Jahre lang sich gegen die gewaltige feindliche Übermacht zu behaupten. Platää lag am Nordrande eines flachen Vorsprungs des Kithäron, der zur Ebene ziemlich steil abfällt. So war der Ort überall sonst durch Abhänge gegen einen Sturm geschützt, nur an der Südseite hing er mit dem ansteigenden Plateau zusammen. Gegen diesen Punkt richtete Archidamos seine Angriffe; er ließ einen Damm aufschütten, um die Belagerungsmaschinen heranzubringen. Aber den Platäern gelang es, die Arbeiten fortwährend zu stören und zugleich die Stadt durch Erhöhung der Festungsmauer und weiter durch eine zweite Mauer im Inneren zu schützen. Als auch ein Versuch, die Stadt in Brand zu stecken, gescheitert war, blieb Archidamos, zumal da er sein großes Heer nicht länger zusammenhalten konnte, nichts übrig, als auf einen Sturm zu verzichten und Platää durch eine Umwallung mit innerem und äußerem Graben abzusperren und zu belagern, bis der Hunger sein Werk getan hatte. Eine ausreichende Besatzung von Peloponnesiern und Thebanern wurde zurückgelassen, die übrigen Kontingente in ihre Heimat entlassen (Sept. 429)64.

[61] Währenddessen haben die Athener versucht, den Krieg auf der Chalkidike zum Abschluß zu bringen. Potidäa wurde mit attischen Kleruchen besiedelt65; gegen die Aufständischen auf dem Rumpf der Halbinsel aber ging ein Korps von 2000 Hopliten und 200 Reitern unter Xenophon und zwei anderen Strategen in See, das durch Leichtbewaffnete aus dem Küstenlande verstärkt wurde. Aber nach anfänglichen Erfolgen erlitten sie bei Spartolos eine schwere Niederlage durch die Chalkidier und Bottiäer; 430 Athener, darunter sämtliche Feldherren, fanden den Tod. Athen hat darauf versucht, mit Hilfe des Thrakerkönigs Sitalkes (s.S. 37) der Rebellen Herr zu werden. Sitalkes rückte zu Anfang des Winters 429 mit einem gewaltigen Heere, angeblich einem Schwarm von 150000 Mann, über den Strymon und durch das Päonerland vor; er beabsichtigte zugleich in Makedonien gegen Perdikkas zugunsten des Amyntas, eines Sohnes des Philippos (Bd. IV 1, 724), zu intervenieren, und, durch eine attische Flotte unterstützt, die Chalkidier anzugreifen. Nicht nur die Nächstbedrohten, sondern ganz Hellas geriet in Angst über die Barbarenmacht, die Athen aufgeboten habe, um es niederzutreten. Auch in Athen selbst mochte man besorgt werden; und darin wohl mehr als in dem Zweifel, ob Sitalkes sein Versprechen wirklich halten werde, wird der Grund liegen, weshalb die athenische Flotte nicht entsandt wurde. Bald zeigte sich, wie schwer eine große Truppenmasse eines unorganisierten Staates im Felde zusammenzuhalten und zu schwierigen Operationen zu verwerten war. Nachdem Sitalkes einen Monat lang das makedonische Land am Axios und dann das chalkidische Hinterland verwüstet und eine Anzahl Städte berannt hatte, ging ihm der Proviant aus, und seinen Truppen begannen die Strapazen des Winterfeldzuges unbequem zu werden; überdies gewann Perdikkas Sitalkes' Neffen Seuthes, der auf die Entschlüsse des Königs großen Einfluß hatte, durch Geld und das Versprechen, ihm seine Schwester zur Gemahlin zu geben. So zog der Thrakerkönig ab, und die Gefahr verlief sich ebenso rasch, wie sie gekommen war66.

[62] Einen Angriff zur See auf den Peloponnes haben die Athener in diesem Jahre unterlassen, offenbar infolge der Pest. Dagegen haben die Peloponnesier im Spätherbst einen Handstreich auf den Piräeus versucht. Mit 40 Kriegsschiffen, die bisher unbenutzbar auf der Werft des megarischen Hafens Nisäa lagen, wollte der lakonische Admiral Knemos, unterstützt von Brasidas und anderen Heerführern, bei Nacht den bei der Überlegenheit Athens nicht einmal in Verteidigungszustand gesetzten Piräeus überfallen. Das Unternehmen hätte vielleicht gelingen können; aber den Peloponnesiern selbst war nicht wohl dabei zumute. Sie wagten sich nicht über Salamis hinaus, und als am nächsten Morgen die attische Flotte in See ging, zogen sie sich schleunigst nach Megara zurück. Das einzige Ergebnis war, daß die Athener fortan vorsichtiger wurden und den Hafen bei Nacht sperrten und sorgfältig bewachten67. So zeigt das Jahr 429 in geradezu typischer Weise den Charakter des Krieges, in dem man stand: jeder der beiden Gegner ist auf seinem Gebiete dem anderen so absolut überlegen, daß jeder den Schauplatz meidet, auf dem der andere operiert, und ein Zusammenstoß gar nicht erfolgen kann. Der Krieg würde völlig zum Stillstand gekommen sein, wenn sich nicht auf Nebenschauplätzen die Möglichkeit zu partiellen Erfolgen geboten hätte. Der wichtigste dieser Nebenschauplätze war der Westen, die Inseln und Küsten des Ionischen Meeres, das Gebiet, aus dem die Kriegswolke aufgestiegen war. Schon im Sommer 430 versuchte eine starke peloponnesische Flotte unter dem spartanischen Admiral Knemos, freilich ohne Erfolg, Zakynthos zu unterwerfen68. Wichtiger noch war es, wenn es gelang, die Athener aus ihrer Stellung auf dem Festland, in Akarnanien und dem amphilochischen Argos (Bd. IV 1, 730), zu verdrängen. [63] Im Sommer 430 unternehmen die Ambrakioten, von den epirotischen Stämmen unterstützt, einen vergeblichen Angriff auf Argos. Im nächsten Jahr warf sich ein großes Heer der korinthischen Kolonien Ambrakia, Anaktorion, Leukas, unterstützt von zahlreichen Scharen aus Epiros und insgeheim auch von König Perdikkas – der trotz seines erzwungenen Bündnisses mit Athen (s.S. 37) viel lieber einen Sieg der Feinde gesehen hätte – sowie von 1000 Peloponnesiern unter Knemos auf Akarnanien69. Sie drangen auch in die Ebene des Binnenlandes ein; aber beim Angriff auf die feste Stadt Stratos am Acheloos erlitten sie durch das kopflose Vorgehen der Chaoner, eines epirotischen Stammes, eine vollständige Niederlage und mußten das Land räumen. Der attische Feldherr Phormio, der mit 20 Schiffen in Naupaktos stationiert war (s.S. 46), hatte den Akarna nen keine Hilfe bringen können, da er einer inzwischen von Korinth und Sikyon ausgerüsteten Flotte auflauern mußte. Trotz der mehr als doppelten Überzahl der Gegner – sie hatten 47 Schiffe aufgebracht – griff er sie am Ausgang des Golfes an und schlug sie mit Verlust von 12 Schiffen in die Flucht. Aber die übrigen gewannen die offene See und konnten sich mit den Schiffen des Knemos vereinigen und weitere an sich ziehen; eine Verstärkung dagegen, die von Athen dem Phormio gesandt wurde, verlor ihre Zeit bei einem Versuch, auf Kreta zu intervenieren. So konnten die Peloponnesier mit 77 Schiffen aufs neue in den Korinthischen Golf einlaufen, um die Scharte auszuwetzen. An der engsten Stelle des Golfs, bei der Landzunge von Rhion, an der achäischen Küste – auch die Achäer insgesamt hatten sich inzwischen dem peloponnesischen Bunde angeschlossen – nahmen sie Stellung, durch ein Landheer gedeckt. Aber Phormio, ein ergrauter Kriegsmann voll jugendlichen Feuers, wich nicht, überzeugt, daß die Athener zur See jedem an Zahl auch noch so überlegenen Gegner gewachsen seien und daß sie niemals vor einer feindlichen Flotte die See räumen dürften. Freilich gelang es ihm nicht, sie ins offene Meer hinauszulocken, wo die Athener frei hätten operieren können; vielmehr mußte er, als die feindliche Flotte in [64] den Sund hinein gegen Naupaktos vorging, ihr folgen, und wurde dabei hart am Lande angegriffen. Dabei verlor er neun Schiffe, die an den Strand gedrängt und genommen wurden; die übrigen elf aber konnten die offene See gewinnen und sich plötzlich auf die in Verwirrung geratenen Verfolger werfen; sie haben ihnen nicht nur die erbeuteten Schiffe bis auf eins, sondern auch noch sechs eigene abgenommen (Okt. 429). So hatte sich der entschlossene Mut des Feldherrn bewährt; die Disziplin und Tatkraft der Athener und vor allem ihre gewaltige Überlegenheit im Manövrieren den unerfahrenen und unbeholfenen Feinden gegenüber hatte sich im glänzendsten Lichte gezeigt. Diese wagten um so weniger den Kampf noch einmal aufzunehmen, da alsbald auch die 20 attischen Schiffe aus Kreta eintrafen. So konnte Phormio nach Akarnanien gehen und hier überall in den Städten die Stellung Athens stärken; ein Versuch freilich, Öniadä und Leukas zu erobern, den im nächsten Jahre sein Sohn Asopios unternahm, endete mit einer Niederlage und dem Tode des Führers70.

Im Frühjahr 428 wiederholte Archidamos den Einfall in Attika ohne weiteren Erfolg. Um so größere Aussichten aber boten sich, als kurz darauf Mytilene und mit ihm die kleineren Städte von Lesbos mit Ausnahme von Methymna Athen den Gehorsam kündigten: es war das erste Mal, daß eine von Athen abhängige Stadt den Mut hatte, der Lockung zu folgen, wel che das von Sparta verkündete Programm der Befreiung der Hellenen aussprach71. Die Mytilenäer hatten warten wollen, bis sie mit allen Vorbereitungen fertig waren; aber die Athener erhielten davon Kunde und sandten sofort 40 Schiffe nach der Insel, um womöglich durch einen Handstreich dem Abfall zuvorzukommen. Die Mytilenäer waren jedoch benachrichtigt und machten sich zur Abwehr bereit. Als jetzt aber die Stadt von der attischen Flotte blockiert wurde, schlug die Stimmung um; man versuchte zu einem erträglichen Abkommen zu gelangen und knüpfte Verhandlungen an. In Athen war man indessen von dem Abfall um so empfindlicher berührt, da die lesbischen Städte und Chios die einzigen Bundesgenossen waren, deren Autonomie [65] unangetastet geblieben war; sogar die aristokratische Verfassung hatte man bestehen lassen. So war die Erbitterung groß, und das Angebot wurde abgewiesen; man wollte die mächtige und fruchtbare Insel gründlich demütigen und Athens Herrschaft für alle Zukunft sichern. Die Mytilenäer empfanden selbst, daß sie nicht imstande sein würden, sich auf die Dauer zu behaupten; sie kämpften zwar zu Lande nicht ohne Erfolg gegen das schwache athenische Heer, aber sie wagten nicht, energisch vorzugehen; und bald erhielten die Athener von allen Seiten Zuzug, da die Bündner, sobald die Überlegenheit Athens offenkundig geworden war, sich beeilten, ihre Loyalität zu beweisen. Die einzige Hoffnung der Lesbier beruhte auf den Peloponnesiern. Diese machten denn auch im Hochsommer einen Versuch, ihnen durch einen zweiten Angriff auf Attika zu Lande und zur See, mit über den Isthmos gebrachten Schiffen, zu helfen, da sie annahmen, das durch die Pest geschwächte Athen werde nicht imstande sein, außer den 40 Schiffen bei Lesbos, und den 30, welche unter Asopios die Küsten des Peloponnes verwüsteten und im Westen operierten (s.S. 63), noch eine weitere Flotte aufzubringen. Sie wurden rasch eines Besseren belehrt: fremde Matrosen konnte man so schnell nicht beschaffen, aber die Athener zogen jetzt auch die Zeugiten des Landheeres zum Ruderdienst heran und fuhren mit 100 Schiffen nach dem Isthmos. Dagegen konnten die Peloponnesier nichts ausrichten. Von dem Landheer waren nur die Spartaner mobil; die Mannschaften der übrigen Staaten dagegen hatten mit der Ernte vollauf zu tun und trafen nur sehr spärlich ein. So mußten die Spartaner das Unternehmen aufgeben; Athen aber sandte im Herbst 428 noch 1000 Mann unter Paches nach Lesbos, die Mytilene auch von der Landseite einschlossen und die regelrechte Belagerung begannen.

Im nächsten Jahre, 427, versuchten die Peloponnesier aufs neue, durch einen Einfall in Attika, bei dem das Land nochmals gründlich verwüstet wurde, Mytilene Luft zu machen; zugleich sandten sie eine Flotte von 42 Schiffen unter Alkidas, die Stadt zu entsetzen. Diesen gelang es auch, nachdem sie viel Zeit an der peloponnesischen Küste verloren hatten, von Athen unbemerkt die asiatische Küste zu erreichen; aber inzwischen war die Katastrophe [66] eingetreten. Nach Mytilene hatte sich der spartanische Gesandte Salaithos durch die attische Umwallung durchgeschlichen und von den Plänen der Verbündeten Kunde gebracht: dadurch war der schon sinkende Mut neu belebt worden. Als aber die peloponnesische Flotte immer nicht erschien, gab auch er die Hoffnung auf; als letztes Rettungsmittel machte er den Versuch, durch eine allgemeine Volksbewaffnung aus eigener Kraft die Feinde zu bezwingen. Kaum jedoch hatte die Menge die Waffen in den Händen, als sie den Machthabern den Gehorsam weigerte und, da nicht mehr genügend Lebensmittel vorhanden seien, die Kapitulation forderte auf Bedingungen, wie sie jetzt noch erreichbar seien. So ergab sich die Stadt; alles was Paches gewähren konnte, war, daß die Entscheidung über das Schicksal der Bewohner dem athenischen Volk überwiesen und ihnen bis dahin ihr Leben zugesichert wurde. Auch jetzt noch hätte Alkidas mit der Flotte, die unmittelbar darauf bei Erythrä die asiatische Küste erreichte, Rettung bringen können, wenn er gewagt hätte, mit raschem Entschluß das ahnungslose athenische Heer zu überfallen. Aber ihm versagte der Mut: die Peloponnesier fühlten sich hier wie in dem Kampf bei Naupaktos und bei dem geplanten Überfall des Piräeus auf einem fremden Element, dem sie nicht trauten, und wo sie ihre Niederlage als gewiß voraussahen. Auch den Rat wies Alkidas ab, den Krieg nach Ionien zu tragen, die offenen Städte zu überfallen, sich mit dem Satrapen Pissuthnes von Sardes in Verbindung zu setzen und Persien in den Kampf zu ziehen; vielmehr kehrte er schleunigst nach dem Peloponnes zurück, von den nachsetzenden Schiffen des Paches nicht mehr erreicht, nachdem er die ionischen Gefangenen, die ihm unterwegs in die Hände fielen, abgeschlachtet und dadurch den Interessen der Verbündeten weit mehr geschadet als genützt hatte.

So hatte Athen trotz des Krieges den lesbischen Aufstand mit weniger Anstrengung und Gefahr niedergeworfen als zwölf Jahre vorher den von Samos. Aber wenn man früher den Abfall verbündeter Städte als etwas Unvermeidliches hingenommen und nach dem Siege zwar die für Athens Herrschaft notwendigen Einrichtungen energisch durchgeführt, aber in den Strafgerichten Maß [67] gehalten hatte, so war jetzt die Stimmung eine ganz andere. Der Krieg mit seinen Verheerungen, mit den Hinrichtungen der gefangenen Gegner, wie sie die Platäer und die Peloponnesier von Anfang an geübt hatten und die Athener alsbald nachahmten, führte zu einer stets steigenden Verrohung des sittlichen Gefühls; überdies war lebendig zum Bewußtsein gekommen, welche Gefahren der Aufstand hätte bringen können. So wurde der spartanische Führer Salaithos sofort getötet, ohne Rücksicht darauf, daß er sich erbot, für die Rettung Platääs zu wirken, wenn man ihn schone. Daß die rebellischen Potidäaten mit dem Leben davongekommen waren, hatte vor drei Jahren bereits lebhaften Unwillen erregt; jetzt forderte Kleon die völlige Vernichtung der besiegten Stadt, die Hinrichtung aller erwachsenen Männer, den Verkauf der Weiber und Kinder in die Sklaverei. Denn Athens Herrschaft sei eine Tyrannis und nur durch Gewalt zu behaupten; man bedürfe eines abschreckenden und erbarmungslosen Strafgerichtes, um den Untertanen die Neigung zum Abfall gründlich auszutreiben; lasse man sich vom Mitleid zur Milde verleiten, so würden die Rebellionen nie aufhören. Auch sei bei den Besiegten zwischen Aristokraten und Demokraten kein Unterschied zu machen, schuldig seien sie alle; hätte der Demos wirklich Athen die Treue wahren wollen, so hätte er sich gleich zu Anfang gegen die Oligarchen erheben müssen. Kleon setzte seine Ansicht durch. Aber unmittelbar nachher fanden Scham und Reue Eingang in weite Kreise über einen derartigen nie wieder gutzumachenden Beschluß, die brutale Vernichtung eines großen und ruhmreichen hellenischen Gemeinwesens durch die Stadt, welche die Trägerin der griechischen Kultur sein wollte. So wurde die Verhandlung am nächsten Tage noch einmal aufgenommen; und hier hat Diodotos, der Sohn des Eukrates (s.S. 51, 1), die Aufhebung des Beschlusses durchgesetzt. Er konnte darauf hinweisen, wie zweischneidig für Athens eigene Interessen eine derartige Maßregel sein werde, welche in Zukunft jede abgefallene Stadt zwingen würde, sich bis aufs äußerste zu verteidigen und lieber sich selbst zu vernichten, als sich zu ergeben. Mit geringer Majorität hat die Volksversammlung sich für den milderen Antrag entschieden; die Botschaft gelangte [68] gerade noch rechtzeitig nach Mytilene, als Paches an die Ausführung des ersten Beschlusses gehen wollte. Auch so war das Strafgericht noch hart genug. Über 1000 Mytilenäer, die gesamte Aristokratie, wurden auf Kleons Antrag hingerichtet. Der Grundbesitz auf der ganzen Insel, mit Ausnahme des treu gebliebenen Methymna, wurde eingezogen und in 3000 Hufen verteilt, von denen 300 den Göttern zugewiesen, die übrigen an attische Kolonisten verlost wurden. Die Ansiedler blieben jedoch in den Städten als Garnison konzentriert und daher wahrscheinlich auch im attischen Heerverband; das Land bestellten die Lesbier als Pächter gegen eine feste Abgabe von 2 Minen (181 M.) jährlich für jede Hufe. Die Mauern von Mytilene wurden niedergerissen, die Schiffe ausgeliefert, Verfassung und Gerichtsbarkeit nach dem für die Untertanen ausgebildeten Schema geordnet. Tribut dagegen haben die Städte von Lesbos nicht gezahlt, so wenig wie Samos (s. Bd. IV 1, 715); an seine Stelle war eben die Landabgabe getreten. Nur die auswärtigen Besitzungen von Mytilene an den troischen Küsten (Antandros, Hamaxitos, Larisa, Rhoiteion u.a.) und auf den Hekatonnesoi an der teuthranischen Küste (Pordoselene) traten fortan unter die tributären Bündner ein. Als später Flüchtlinge aus Lesbos den Versuch machten, sich in diesen Gebieten, vor allem in Antandros, festzusetzen, wurden sie 424 von den Athenern verjagt72.

Bald nach dem Fall Mytilenes hat sich Platää den Belagerern ergeben. Im Winter 428/7, als die Lebensmittel knapp zu werden begannen und jede Hoffnung auf Entsatz geschwunden war, war es [69] der Hälfte der Besatzung gelungen, in einer stürmischen Nacht die Umwallungsmauer zu übersteigen und sich nach Athen zu retten. Der Rest war nicht mehr imstande, sich ernstlich zu verteidigen, und so hätte die Stadt wohl erstürmt werden können, wenn nicht die Thebaner vorgezogen hätten, sie durch Kapitulation in ihre Gewalt zu bekommen, damit man sich im Friedensschluß darauf berufen könne, Platää habe sich freiwillig unterworfen. Als die ausgehungerte Besatzung sich ergab, haben die Spartaner ihnen versprochen, sie nur nach Richterspruch zu verurteilen; aber die Thebaner forderten ihren Tod, und die fünf spartanischen Richter stellten an jeden einzelnen lediglich die Frage, ob er seit Ausbruch des Krieges den Verbündeten irgendeinen Dienst erwiesen habe; wer mit nein antwortete, wurde getötet, etwa 200 Platäer und 25 Athener. Das Verfahren war angesichts der Schuld, die Platää zu Anfang des Krieges auf sich geladen hatte, und der Abweisung der von Sparta gebotenen billigen Bedingungen begreiflich genug, und Athen war gegen Mytilene und die spartanischen Gefangenen nicht anders vorgegangen; bezeichnend ist nur die spartanische Art, die Gewaltsamkeit mit dem Schein des Rechtes zu umgeben. – Platää wurde den Thebanern übergeben und von diesen dem Erdboden gleichgemacht. Daß Athen den treuen Bundesgenossen seinem Schicksal hatte überlassen müssen, ohne etwas für Ihn zu tun, war für seine Ehre sehr empfindlich; aber im übrigen kam politisch wie militärisch auf den Ort nicht viel an, und so hat denn der Erfolg der Verbündeten auf den Gang des Krieges gar keinen Einfluß geübt. Größere Aussichten eröffneten sich den Peloponnesiern in Korkyra. Die Intervention Athens und die starken Verluste im Kriege mit Korinth, welche vorwiegend die Wohlhabenden trafen, hatten den Einfluß der reichen Kaufmannschaft geschwächt und der demokratischen Menge, an deren Spitze der Demagoge Peithias stand, das Übergewicht gegeben; daher hat Korkyra im ersten Kriegsjahr Athen energisch unterstützt (s.S. 37). Dann aber trat ein Umschwung ein. Die Korinther entließen die Gefangenen aus der Schlacht bei Sybota (s.S. 11f.), 250 Männer meist aus reichen und vornehmen Häusern, gegen Bürgschaft in die Heimat. Hier begannen sie eifrig für die Rückkehr zu der alten Politik zu [70] wirken; hatte doch der Bund mit Athen nichts als Unheil gebracht, im Inneren die Herrschaft der Demokraten, nach außen den tatsächlichen Verlust der Unabhängigkeit und die Hineinziehung in einen großen Krieg, der Korkyras wahre Interessen in jedem Falle nur schädigen konnte. Das alles ließ sich vermeiden, wenn man ein billiges Abkommen mit Korinth traf, zu dem dies jetzt sehr bereit war. Die Gesinnungsgenossen daheim unterstützten die Zurückgekehrten. So trat Korkyra in völlige Passivität zurück; von 430 an hat es Athen nicht mehr unterstützt. »Die Korkyräer möge Poseidon vernichten auf ihren glatten Schiffen, da sie doppelzüngig gesinnt sind«, heißt es in einer attischen Komödie dieser Zeit (Hermippos fr. 63, 10). Im Jahre 427 war man so weit, daß mit athenischen und korinthischen Gesandten zugleich verhandelt und beschlossen wurde, man wolle zwar an dem Defensivbündnis mit Athen festhalten, aber das ehemals mit den Peloponnesiern bestehende Freundschaftsverhältnis wiederherstellen. Jetzt versuchten die Oligarchen, Peithias durch eine Anklage wegen Hochverrats zu beseitigen. Aber das mißlang; Peithias wurde freigesprochen und bewirkte nun, daß die Häupter der Gegenpartei, weil sie die Pfähle für ihre Weinpflanzungen in Holzungen geschlagen hatten, die dem Zeus und dem Alkinoos gehörten, zu einer kaum erschwinglichen Geldbuße verurteilt wurden. Dieser Prozeßkrieg war das Vorspiel zu einem blutigen Kampf zwischen den Besitzenden, die bisher das Regiment geführt hatten, und der Masse; zum ersten Male wieder, seit die alten Standeskämpfe der Tyrannenzeit zum Abschluß gelangt waren, entluden sich die Klassengegensätze in vernichtendem Bürgerkrieg. Die Oligarchen überfielen den Rat und stießen Peithias mit etwa 60 Anhängern nieder; dann setzten sie in der terrorisierten Volksversammlung durch, daß Korkyra sich für die Zukunft vollständig neutral erklärte. Doch das genügte den Heißspornen noch nicht; als eine Gesandtschaft von Korinth und Sparta eintraf, die vermutlich weitere Unterstützung in Aussicht stellte, griffen sie die Menge in ihren Quartieren an und drängten sie auf die Burg im Süden der Stadt und an der hylläischen Hafenbucht – im Westen der hügeligen Landzunge, auf der die Stadt lag – zurück; sie selbst setzten sich in der Unterstadt am Markt und dem Haupthafen (im[71] Norden der Stadt, südlich von der heutigen Stadt Korfu) fest, wo die großen Kaufherren ihre Wohnhäuser hatten73. Und nun kam es die nächsten Tage hindurch zu einer förmlichen Schlacht, bei der die Sklaven von beiden Seiten zur Freiheit aufgerufen wurden und die Oligarchen Hilfstruppen aus Epiros heranzogen. Der Demos siegte, die Gegner vermochten sich nur dadurch zu retten, daß sie die Häuser rings um den Markt in Brand steckten. Das korinthische Schiff mit den Gesandten machte sich aus dem Staube. Dafür traf am nächsten Tage von Naupaktos her ein attisches Geschwader von 12 Schiffen unter Nikostratos ein, mit 500 messenischen Hopliten. Denn in Athen hatte man die Gesandten, welche die Neutralität Korkyras anzeigten, festgesetzt und sofortige Intervention beschlossen; eine starke Flotte unter Eurymedon sollte dem Nikostratos in kürzester Frist folgen74. Nikostratos vermittelte und brachte auch eine Versöhnung der Parteien zustande; dafür schloß Korkyra jetzt ein Schutz- und Trutzbündnis mit Athen. Aber die Demokraten wollten sich ihrer Gegner entledigen: sie baten Nikostratos, ihnen fünf Schiffe dazulassen und dafür fünf korkyräische mitzunehmen, und hoben als Besatzung für dieselben die Anhänger der Gegenpartei aus. Dadurch kamen die Unruhen aufs neue zum Ausbruch; die Ausgehobenen und ihre Gesinnungsgenossen flüchteten in die Tempel, die Demokraten griffen zu den Waffen, mit Mühe verhinderte Nikostratos ein neues Blutbad. Die Oligarchen, 400 an der Zahl, willigten schließlich ein, sich auf eine Insel im Hafen (die heutige Festung von Korfu) bringen zu lassen.

Währenddessen waren die Peloponnesier nicht untätig gewesen. An der Küste von Elis sammelten sich 13 Schiffe aus Leukas und Ambrakia; mit ihnen verband sich die von der verunglückten [72] Expedition nach Lesbos (s.S. 66f.) zurückgekehrte Flotte des Alkidas. Als sie gegen Korkyra vorgingen, fanden sie alles in vollster Verwirrung. Die Korkyräer bemannten ihre Schiffe, so rasch es ging, und sandten sie in kleinen Abteilungen, wie sie fertig waren, gegen die Feinde; aber zwei gingen über, auf anderen gerieten sich die feindlichen Parteien in die Haare, 13 Schiffe wurden genommen; nur durch ihre auch hier bewährte Überlegenheit im Manövrieren konnten die 12 Schiffe des Nikostratos größeres Unheil verhüten. Hätten die Peloponnesier einen entschlossenen Führer gehabt, hätte Alkidas sich dem Rat des ihm beigeordneten Brasidas gefügt, so konnte ihnen der volle Erfolg kaum entgehen. Aber auch diesmal versagte dem spartanischen Nauarchen der Mut; er begnügte sich, den Süden der Insel zu verheeren. Darüber kam die Flotte unter Eurymedon heran, 60 Schiffe stark; und damit war es mit der Überlegenheit der Peloponnesier vorbei. Ihnen blieb nichts übrig, als schleunigst über Leukas vor den herannahenden Athenern zu flüchten. Da fielen denn auch die korkyräischen Demokraten über ihre Gegner her und schlachteten ab, wessen sie habhaft werden konnten. Sieben Tage lang dauerte das Morden; nicht wenige von den Oligarchen gaben sich in den Tempeln selbst den Tod, nur etwa 500 gelang es, auf das Festland zu entkommen. So war die Insel für Athen gerettet und die Kaufmannsaristokratie, die ihren Wohlstand geschaffen hatte, so gut wie vernichtet.

Im nächsten Jahre, 426, haben die Peloponnesier den Einfall in Attika infolge eines Erdbebens unterlassen. Statt dessen machte Sparta den Versuch, seinen Einfluß im Norden durch Gründung einer Kolonie Herakleia im Malierlande zu sichern, unweit des sagenberühmten Trachis, am Fuß der Bergkette, welche beim Thermopylenpaß ans Meer herantritt. Die neue Gründung sollte zunächst die umliegenden Ortschaften der Malier und Dorier gegen die Einfälle der Änianen und Ötäer schützen, zugleich aber auch den Stützpunkt für eine Operation gegen Euböa abgeben. Deshalb wurde sie im größten Maßstabe angelegt: sie sollte 10000 waffenfähige Bürger umfassen, wie das von Hieron gegründete Ätna (s. Bd. IV 1, 598); alle Hellenen mit Ausnahme der Feinde Spartas wurden[73] zur Beteiligung aufgefordert75. Auch stellten sich Ansiedler in großer Zahl ein; aber die Erwartungen erfüllten sich nicht. Die Thessaler hatten zwar, vielleicht unter stiller Einwirkung des hier einflußreichen Perdikkas, seit 431 am Kriege nicht mehr teilgenommen; aber die Suprematie über das Land bis zu den Thermopylen wollten sie sich nicht schmälern lassen. Daher haben sie Heraklea unablässig befehdet und seine Entwicklung gehindert; Sparta lag zu fern, um die Kolonie kräftig zu schützen, und die hingesandten Beamten waren beschränkte Menschen, die sich in die fremden Verhältnisse nicht finden konnten und durch engherzige Maßregeln die Stadt vollends herunterbrachten. So hat auch dies Unternehmen Sparta keinen Gewinn gebracht. – Inzwischen hatten die Athener mit dem Gesamtaufgebot des Kriegsheeres unter Hipponikos und Eurymedon einen Angriff auf das östliche Böotien unternommen, unterstützt von der Flotte unter Nikias. Aber obwohl der Landsturm von Tanagra geschlagen wurde, wagte man sich nicht weiter ins Land hinein, sondern kehrte unverrichteter Dinge wieder um – zum Teil vielleicht, weil eben um diese Zeit Demosthenes' Angriff auf Ätolien scheiterte76, zum Teil aus Scheu vor einer größeren Schlacht – das ist um so begreiflicher, da eben in diesem Jahre die Pest noch einmal mit erneuter Heftigkeit aufgetreten war. – Nicht mehr Erfolg hatte vorher schon ein Zug des Nikias gegen die bisher neutrale Insel Melos gehabt. Derartige Versuche, sein Machtgebiet und damit zugleich seine Einnahmequellen im Bereich des Ägäischen Meeres zu erweitern, hat Athen mehrfach unternommen, sowohl auf Kreta (s.S. 65) wie in Kleinasien, wo Melesandros 430 gegen die Lykier (s.S. 46), Lysikles (s.S. 51) 428 im Mäandergebiet gegen die Karer und die samischen Flüchtlinge aus Änäa (s. Bd. IV 1, 716) fiel. Weiter im Norden war Kolophon zu Anfang 430 zu den Persern abgefallen, die sich dann mit Hilfe der athenerfeindlichen[74] Partei auch seines Hafens Notion bemächtigten; wenigstens den letzteren hat Paches nach der Einnahme Mytilenes durch Überfall und treulosen Wortbruch wiedergewonnen77.

Größere Bedeutung gewann der Versuch der wie gewöhnlich um den Peloponnes gesandten Flotte, 30 Schiffe unter Demosthenes und Prokles, Athens Machtbereich im Westen zu erweitern. Unterstützt von Korkyra, Zakynthos, Kephallenia und dem Gesamtaufgebot der Akarnanen griff Demosthenes zuerst Leukas an; dann aber ließ er sich von den naupaktischen Messeniern zu einem Angriff auf ihre Nachbarn, die Ätoler, verleiten, der, wenn er geglückt wäre, den ganzen Westen der athenischen Suprematie unterworfen hätte. Dann ließ sich auch der Bund zwischen Athen und Phokis wiederherstellen und von hier aus ein entscheidender Stoß gegen Böotien ausführen. Da die Ätoler nur eine lockere Stammföderation bildeten (Bd. III2 S. 214f. 297ff.) und in offenen, weit durch die Bergtäler zerstreuten Dorfschaften wohnten, überdies nur in leichter Rüstung kämpften, schien das Unternehmen nicht schwer durchzuführen. Freilich erlebte Demosthenes gleich anfangs eine Enttäuschung: die Akarnanen und Korkyräer, so eifrig sie die Eroberung von Leukas betrieben hatten, wollten von derartigen weitaussehenden Plänen nichts wissen und ließen ihn im Stich. So schrumpfte seine Macht sehr zusammen: von Athenern hatte er nur die Besatzung der Schiffe bei sich, 300 auserlesene Hopliten und eine Anzahl Schützen, dazu die Messenier und Truppen von Kephallenia und Zakynthos. Mit diesem kleinen Heerhaufen fiel er, ohne die Landwehr [75] der ozolischen Lokrer abzuwarten – denn diese standen schon um der Stammfeindschaft gegen die Nachbarn willen auf athenischer Seite –, in Ätolien ein und nahm rasch eine Anzahl Dörfer. Aber als der ätolische Landsturm aus allen Gebirgstälern zusammenkam, zeigte sich alsbald, wie wenig in bergigem und waldigem Terrain ein Hoplitenkorps ohne genügende Unterstützung durch leichte Truppen gegen größere Massen Leichtbewaffneter auszurichten vermochte. Auf einen Nahkampf ließen diese sich nicht ein, aber auf dem Marsch wie beim Zurückweichen bedrängten sie die durch die schwere Rüstung behinderten Hopliten aufs äußerste; und als die attischen Schützen sich verschossen hatten, war die Stellung der Athener unhaltbar. Auf der Flucht erlitten sie vollends die schwersten Verluste; über ein Drittel der Athener, 120 Hopliten, darunter der Stratege Prokles, dazu ein großer Teil der Verbündeten, waren gefallen. Den Rest schickte Demosthenes, dessen Strategie abgelaufen war (August 426), nach Hause; er selbst traute sich nicht in die Heimat zurück, sondern blieb in Naupaktos.

Jetzt schien die Gelegenheit vorhanden, Athens Stellung im Westen zu vernichten. Die Ätoler verhandelten mit Korinth und Sparta, und im Herbst sammelte sich ein 3000 Mann starkes peloponnesisches Heer unter dem Spartaner Eurylochos in Delphi. Die ozolischen Lokrer, die Athens Sache für verloren hielten, traten meist zu ihm über, Naupaktos geriet in große Bedrängnis. Aber Demosthenes gelang es, die Akarnanen zur Entsendung eines Hilfskorps zu bewegen und dadurch die Möglichkeit einer Erstürmung der starken Festung zu vereiteln. Statt dessen beschloß man, den 429 gescheiterten Angriff auf Amphilochien (s.S. 64) wieder aufzunehmen78. Mit 3000 Hopliten und zahlreichen epirotischen Söldnern fielen die Ambrakioten in das Gebiet von Argos ein und besetzten den Hafenort Olpä; gleichzeitig rückte Eurylochos von Süden her durch Akarnanien heran. Die Amphilocher mußten ihre Hauptstadt verteidigen; sie fanden Hilfe bei den Akarnanen, die mit gesamter Macht nach Amphilochien zogen und den Demosthenes [76] aus Naupaktos zum Feldherrn beriefen. Er gelangte auf einem von Athen entsandten Geschwader von 20 Schiffen in den Golf von Olpä und brachte 200 messenische Hopliten und 60 attische Schützen mit sich. Eurylochos gelang es, sich mit den Ambrakioten zu vereinigen. So fanden sich starke Heeresmassen bei Olpä zusammen. Am sechsten Tage kam es zur Schlacht. Die Peloponnesier und Ambrakioten waren an Zahl den Gegnern beträchtlich überlegen; aber Demosthenes brachte durch einen in dem zerklüfteten Terrain in ihrem Rücken gelegten Hinterhalt den linken Flügel der Feinde unter Eurylochos in Verwirrung und schlug ihn vollständig. Dadurch wurden auch die schon siegreich vordringenden Ambrakioten zur Flucht gezwungen und schließlich das gesamte feindliche Heer unter schweren Verlusten nach Olpä zurückgeworfen. Menedaïos, der an Stelle des gefallenen Eurylochos getreten war, sah, da ihm zugleich die Flotte die See sperrte, keine Rettung mehr außer durch Verhandlungen; und als Demosthenes ihm und den Peloponnesiern freien Abzug bot, um die Ambrakioten isolieren und vernichten zu können, trug er keine Bedenken, darauf einzugehen und ins Gebiet der Agräer, eines selbständigen epirotischen Volksstammes in den Bergen (Bd. 2II 1, S. 272), abzuziehen. Die Ambrakioten, die ihm folgen wollten, erlitten durch die nachsetzenden Feinde schwere Verluste; und gleichzeitig wurde die Reserve die aus Ambrakia den Ihrigen zu Hilfe eilte, aber von der Katastrophe noch nichts wußte, von Demosthenes in der Morgendämmerung überfallen und fast vernichtet. Es wäre jetzt möglich gewesen, Ambrakia selbst in raschem Angriff zu nehmen; davon aber wollten die Akarnanen und Amphilocher nichts wissen, damit Athen nicht zu übermächtig würde. Aus eigenen Mitteln den Handstreich auszuführen, war Demosthenes zu schwach. Bald darauf schlossen die Akarnanen und Amphilocher mit dem in seiner Kraft gänzlich gebrochenen Ambrakia einen hundertjährigen Frieden, in dem sie sich gegenseitig Bundeshilfe zusagten, nur daß Ambrakia nicht verpflichtet war, gegen die Peloponnesier, und die anderen Kontrahenten, nicht gegen Athen zu Felde zu ziehen. Trotzdem war der Erfolg für Athen bedeutend genug. Zwar nicht seine Herrschaft, aber doch seine Vormacht im Westen war durch die Kämpfe auf Korkyra und [77] um das amphilochische Argos dauernd begründet; die Peloponnesier hatten aufs neue erwiesen, daß sie zur Durchführung eines größeren Unternehmens völlig unfähig waren, und auf Spartas Ehre war durch Menedaïos' treuloses Verhalten ein schwerer Makel gefallen. Mit reicher Beute konnte Demosthenes Anfang 425 nach Athen zurückkehren; statt des Prozesses, den er nach der Niederlage in Ätolien erwartet hatte, war sein Ruhm in aller Munde, und für das nächste Jahr 425/4 wurde er zum Strategen wiedergewählt79.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 60-78.
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