Letzte Kämpfe und Friedensschluß

[121] So war innerhalb weniger Monate ein vollständiger Umschwung eingetreten. Wenn Athen auch Pylos, Kythera, Nisäa, die Halbinsel Methana behauptete, so war dafür zum ersten Male Bresche in sein Reich gelegt; und gleichzeitig hatte die Schlacht bei Delion erwiesen, daß der Erfolg von Sphakteria nicht ein Beweis der Überlegenheit Athens gewesen war, sondern ein von Demosthenes und Kleon mit Geschick ausgenutzter Glücksfall, durch den Athen sich hatte verleiten lassen, den Bogen zu überspannen. Jetzt stellte sich das richtige Verhältnis wieder her: die attische Offensive brach vollständig zusammen, und Brasidas' Erfolge zeigten, was die Gegner erreichen konnten, wenn sie wirklich mit Energie und Umsicht vorgingen. Noch dazu hatten die Sikelioten die Athener nach Hause geschickt, ohne daß sie etwas dagegen zu tun vermochten. Kleon tobte und wütete; der Reihe nach zog er die unglücklichen Feldherren [121] vor Gericht, Pythodoros, Sophokles, Eurymedon, Thukydides, und ließ sie zu Verbannung und Geldstrafen verurteilen. Aber wenn er meinte, die schwache Defensive in Thrakien hätte einem kühnen Feldherrn gegenüber, der sich sein Angriffsobjekt beliebig wählen konnte, imstande sein müssen, jeden Punkt zu decken, oder gar die Forderung aufstellte, die Feldherren auf Sizilien hätten mit ihren 60 Schiffen und 600 Hopliten die geeinte Insel bekämpfen und erobern sollen, so bewies er nur, daß er kein Staatsmann war, sondern ein demagogischer Schreier, dem jeder reale Maßstab und alles Gefühl für die auf ihm ruhende Verantwortung abging132. Man versuchte allerlei, um der Not entgegenzuwirken. Eine Gesandtschaft unter Amynias ging nach Thessalien, um das alte Bündnis wiederherzustellen und die Penesten gegen ihre zu Brasidas neigenden Herren aufzuwiegeln133. Auch die Hilfe des Thrakerfürsten scheint man aufs neue erhofft zu haben; aber Sitalkes war im November 424 im Kampf gegen die Triballer (in Serbien) gefallen, und sein Neffe und Nachfolger Seuthes – der beschuldigt wird, den Oheim beseitigt zu haben – ließ sich trotz der von Athen ihm dekretierten Ehren nicht zur Aufgabe der Neutralität bewegen134. Gegen die Bundesgenossen wurde die Kontrolle verschärft [122] und nicht wenigen reichen und verdächtigen Männern der Prozeß gemacht – ihr eingezogenes Vermögen kam zugleich der Ebbe im Staatsschatz zugute. Die Friedensfreunde daheim beschuldigte man lakonischer Gesinnung und des Strebens nach der Tyrannis135. Aber wie sehr die Kriegspartei sich sträuben mochte, sie hielt die Zügel nicht mehr in den Händen, weder in der Kriegsführung noch im Inneren. Ihre Gegner kamen wieder in die Höhe, vor allem Nikias, dessen bedächtige Umsicht sich in den letzten Feldzügen im Gegensatz zu dem verwegenen Draufgehen des Demosthenes und Hippokrates glänzend bewährt hatte, neben ihm Laches. Die Friedensstimmung wuchs von Tag zu Tage; es ist für die politische Situation ungemein bezeichnend, daß die Komödie sich im Winter und Frühjahr 423 der direkten politischen Angriffe völlig enthielt und statt dessen gegen die modernen Zeitströmungen wandte136. Im Publikum konnte sich sogar die Meinung bilden, Aristophanes habe sich aus Angst vor neuen Verfolgungen mit Kleon versöhnt, eine Ansicht, die er dann im nächsten Jahre schlagend widerlegt hat137.

Um so stärker, sollte man meinen, hätte Sparta die Situation ausnützen können. In der Tat ist gar nicht abzusehen, welches Unheil es jetzt bereits über Athen hätte bringen können, wenn es mit voller Energie auf Brasidas' Wegen fortschritt und etwa den Versuch machte, den Krieg jetzt ernsthaft, zu Lande von Thrakien aus und zugleich durch eine Flottenrüstung, nach Asien hinüberzutragen [123] und Persien in den Kampf zu ziehen. Aber der Sinn der herrschenden Bürgerschaft war völlig gelähmt durch die Gefangenen in Athen; sie durch einen annehmbaren Frieden wiederzugewinnen und so den zusammengeschrumpften Bürgerstand vor einer empfindlichen Schwächung zu bewahren, war ihr einziges Trachten, dem allein alle Erfolge dienen sollten und dem die Interessen der Bundesgenossen rücksichtslos aufgeopfert wurden. Zum Führer der herrschenden Stimmung machte sich König Pleistoanax, der im Jahre 427 durch den Einfluß des von ihm gewonnenen delphischen Orakels zurückberufen war und nun die Friedenspolitik nur um so energischer vertrat, weil seine Feinde die Ursache der Niederlagen darin suchten, daß man den schuldbefleckten Herrscher wieder in die Heimat aufgenommen habe. So begannen im Winter 424/3 die Unterhandlungen von neuem. Kleons Einnuß war noch stark genug, um den Abschluß eines sofortigen Friedens zu hintertreiben; dafür boten die Unterhändler einen Waffenstillstand auf ein Jahr, um Zeit für weitere Verhandlungen zu gewinnen. Dem war auch die Kriegspartei nicht abgeneigt: so gewann man auf alle Fälle, da man zur Zeit nicht imstande war, dem Vordringen des Brasidas ernstlich entgegenzutreten, eine Frist für umfassendere Rüstungen. Auf Antrag des Laches wurden am 14. Elaphebolion (20. April) 423 die Vorschläge der Peloponnesier angenommen, welche überall den momentanen Besitzstand zugrunde legten und im Peloponnes Demarkationslinien festsetzten; die Zeit der Waffenruhe sollte benutzt werden, um währenddessen weiter über die Herstellung des Friedens zu verhandeln138.

Inzwischen war, unmittelbar nach dem Abschluß, die Stadt Skione an der Südküste von Pallene zu Brasidas abgefallen, und diesem war es gelungen, zur See von Torone aus einige Truppen hinüberzuwerfen. Natürlich wollten die Athener nicht anerkennen, [124] daß Skione in den Stillstand einbegriffen sei; aber Brasidas gab die Stadt nicht heraus und fand in Sparta Unterstützung. In Athen geriet man in hellen Zorn; ein von Sparta angebotenes Schiedsgericht wurde abgelehnt, ein Expeditionskorps ausgerüstet und ihm auf Kleons Antrag die Weisung gegeben, alle erwachsenen Männer in Skione umzubringen. Kurz darauf fiel auch das weiter westlich gelegene Mende ab. Brasidas durfte auf der Halbinsel nicht bleiben, die durch Potidäa fast wie eine Insel abgesperrt und Athens Übermacht zur See preisgegeben war. Daher führte er Weiber und Kinder aus beiden Städten zu Schiff nach Olynthos, ließ eine Garnison von 500 Hopliten und 300 chalkidischen Peltasten zurück und zog dann, da er weitere Operationen gegen Athen während des offiziellen Waffenstillstands doch nicht vornehmen durfte, dem Perdikkas im Krieg gegen Arrhabaios von Lynkestis (s.S. 118) zu Hilfe. Die Feinde wurden zunächst geschlagen; aber Brasidas wollte baldmöglichst nach der Chalkidike zurück, Perdikkas weiter vorwärts; und als dann eine illyrische Schar, auf deren Zuzug er gerechnet hatte, zu Arrhabaios übertrat und das makedonische Heer dadurch zu einer panikartigen Flucht gezwungen wurde, geriet Brasidas in schwere Bedrängnis. Nur durch die Überlegenheit fester Disziplin gegenüber den wilden Barbarenhaufen konnte er seine Truppen vor den nachsetzenden Feinden retten. So endete der Feldzug mit dem vollen Zerwürfnis der Verbündeten; Perdikkas schloß mit Athen aufs neue Frieden und Freundschaft139 und veranlaßte jetzt die Thessaler, einem heranrückenden spartanischen Nachschub den Durchmarsch zu sperren – auch athenische Gesandtschaften (s.S. 122) haben offenbar dazu mitgewirkt. – Inzwischen hatten Nikias und Nikostratos ein Heer von 1000 Hopliten und 600 Schützen, verstärkt durch thrakische Söldner und bundesgenössischen Zuzug, in Potidäa gelandet und Mende angegriffen. In der Stadt lagen die Parteien miteinander und mit dem spartanischen Kommandanten im Hader; nach ein paar Gefechten öffneten die Demokraten den Athenern die Tore. Dadurch wurde Mende wenigstens vor dem Schlimmsten bewahrt; es wurde zwar [125] ausgeplündert, dann aber dem Demos das Regiment zurückgegeben und ihm das Strafgericht über die schuldigen Gegner überlassen. Darauf wurde Skione angegriffen – der peloponnesischen Besatzung aus Mende gelang es hierher zu entkommen – und regelrecht belagert. Brasidas konnte, da ein Versuch, Potidäa zu überrumpeln, scheiterte, nichts zu ihrer Rettung tun; er mußte sich begnügen, die übrigen Gebiete der Chalkidide zu decken.

Kleon und seinem Anhang hätte kaum etwas Erwünschteres begegnen können, als das einen offenen Vertragsbruch enthaltende Vorgehen des Brasidas; jetzt war doch offenkundig erwiesen, daß mit den doppelzüngigen Spartanern kein ehrliches Abkommen möglich war. Aristophanes plädierte auch jetzt für den Frieden – seine »Bauern«, eine Parallele zu den Acharnern, sind wahrscheinlich an den Dionysien des Frühjahrs 422 aufgeführt – und griff zugleich Kleons innere Politik in einer Satire auf die Richterwut des athenischen Kleinbürgers (»Wespen«, Lenäen 422) aufs neue heftig an. Aber Erfolg hatte das nicht. Die Friedensverhandlungen scheiterten, im Frühjahr 422 wurde neben Nikias u.a. auch Kleon aufs neue zum Strategen gewählt. Bisher hatte er sich vom Kriegsschauplatz ferngehalten, weniger wohl, weil er trotz der Lorbeeren von Pylos in seine militärische Befähigung Zweifel setzte, als weil er empfand, wie wenig er seiner sozialen Stellung nach imstande sein würde, das Vertrauen eines größtenteils aus seinen Gegnern zusammengesetzten Landheeres zu gewinnen. Jetzt aber blieb für ihn keine Wahl mehr; wollte er seine Politik durchführen, so durfte er die Entscheidung nicht Gegnern wie Nikias und Laches überlassen. Die Aussichten für Athen besserten sich, da demnächst (420) der Friede zwischen Argos und Sparta ablief und man hoffen durfte, alsdann wenigstens das Bündnis von Argos zu gewinnen. Zunächst aber galt es, in Thrakien ein Ende zu machen, Brasidas, der durch Nikias' Erfolge und den Abfall des Perdikkas bereits geschwächt war, vollends niederzuwerfen, und das zur Einschüchterung der Bündner unentbehrliche Strafgericht zu vollziehen. Bis Kleon, Ende Juli 422, die Strategie antreten konnte, dauerte die Waffenruhe tatsächlich weiter, obwohl der Vertrag abgelaufen war; denn in Sparta war die Kriegslust völlig erloschen, und man wollte offenbar [126] alles vermeiden, um die Kriegspartei in Athen zu stärken. Auch als dann im September Kleon in See ging140, hat Sparta sich beschränkt, dem Brasidas 900 Mann Verstärkung zu schicken, die aber ihre Zeit bei der Ordnung der Wirren in Heraklea Trachinia verloren und überdies von den Thessalern am Vormarsch gehindert wurden. Einzig die Böoter rührten sich; sie nahmen das attische Grenzkastell Panakton oberhalb des Asopostals.

Kleon ging mit 30 Schiffen, 1200 Hopliten, 300 Reitern und einem starken Kontingent von Bundesgenossen und namentlich von den Kolonisten auf Imbros und Chios zunächst nach Skione, wo er sein Heer weiter verstärkte. Dann nahm er durch raschen Angriff zu Lande und zur See das zur Zeit nur schwach besetzte Torone – Brasidas kam zu spät, wie Thukydides bei Amphipolis –, metzelte die Einwohner nieder oder sandte sie zur Aburteilung nach Athen, und verkaufte Weiber und Kinder. Jetzt traten auch die Städte der Athoshalbinsel zu Athen zurück141, und Kleon konnte sich seinem Hauptziel, Amphipolis, zuwenden. Ein Angriff auf Stagiros scheiterte, aber Galepsos am Pangaion wurde genommen. Kleon forderte die vertragsmäßigen Hilfstruppen von Perdikkas und ließ bei den Odomanten am Strymon thrakische Söldner werben; bis sie eintrafen, schlug er in Eïon sein Lager auf. Brasidas eilte mit seiner gesamten Macht herbei, 2000 Hopliten (Peloponnesier und Chalkidier) und 300 griechischen Reitern, dazu zahlreichen [127] thrakischen Reitern und Peltasten (meist Edoner), warf einen Teil unter Klearidas in die Stadt, und nahm mit den übrigen Amphipolis gegenüber am rechten Strymonufer auf dem Hügel Kerdylion Stellung. Die Entscheidung stand bevor. An Zahl waren beide Armeen sich ungefähr gleich, der Qualität nach waren die Athener, ausgesuchte Truppen, die frisch in den Krieg zogen, den Brasideern überlegen142. Aber Kleon dachte mit vollem Recht überhaupt keine Schlacht zu schlagen, sondern, wenn die Verstärkungen eingetroffen seien, Amphipolis einzuschließen und zu nehmen. Darüber räsonnierten die Athener, die, meist der Friedenspartei angehörig, ihm mit äußerster Unlust gefolgt waren und in seine Führung gar kein Vertrauen hatten. Um etwas zu tun, unternahm er mit der gesamten Armee eine Rekognoszierung nach Amphipolis. Darauf hatte Brasidas gewartet; er führte seine Truppen in die Stadt und bereitete alles für einen plötzlichen Ausfall vor. Die Athener auf den Höhen im Süden der Stadt bemerkten die Anstalten; darauf gab Kleon, der eben noch bedauert hatte, nicht sogleich die Belagerungsmaschinen mitgebracht zu haben, zunächst dem linken Flügel den Befehl zum Abmarsch nach links, zum Flußtal und nach Eïon hinab; und als ihm das zu lange dauerte, ließ er auch den rechten Flügel sofort wenden und abmarschieren. Brasidas erfaßte den günstigen Moment: die moralische Widerstandskraft der Feinde war bereits gebrochen; noch dazu boten sie ihm auf dem Marsch die unbeschildete rechte Seite. Mit einer Abteilung von 150 Hopliten warf er sich aus einem dicht am Feinde gelegenen Tor auf ihr Zentrum; zugleich brach Klearidas mit der Hauptmacht aus einem andern Tor hervor und packte ihren rechten Flügel. Die Athener waren vollständig überrascht; der linke Flügel, der noch frei war, floh nach Eïon, der rechte wurde von allen Seiten angegriffen und durch die Reiterei und die Peltasten völlig zersprengt. Es war nicht eine Schlacht, sondern nur eine Niederlage. Gegen 600 Athener deckten das Schlachtfeld, unter ihnen Kleon selbst; von den Gegnern waren nur 7 gefallen. Aber zu ihnen gehörte Brasidas, der, zu Beginn des Kampfes tödlich verwundet, seinen Sieg nicht überlebt hat.

[128] Die Schlacht bei Amphipolis (etwa Oktober 422) hat die Entscheidung gebracht. Durch den Tod der Männer, welche auf beiden Seiten zum Kampf getrieben hatten, war der Raum frei geworden für die Vertreter der Friedensbestrebungen. In Athen überzeugte man sich, daß man zur Zeit Amphipolis aus eigener Kraft nicht wiedergewinnen könne; das spartanische Heer unter Rhamphias aber, das um diese Zeit endlich nach Thessalien vorgerückt war, trat auf die Kunde von Brasidas' Tod den Rückmarsch an, weil die Athener besiegt seien und man ohne den genialen Führer weiter doch nichts ausrichten könne. Auf allen Punkten wurden mit Anfang des Winters die Feindseligkeiten eingestellt, und die Unterhandlungen begannen von neuem. Die Entscheidung lag in Sparta. Hier aber hatte die Friedenssehnsucht völlig die Oberhand gewonnen: die Gefangenen von Sphakteria, nicht unwesentlich vermehrt durch die, welche in Kythera, Thyrea, Torone u.a. in die Hände der Athener gefallen waren, die Raubzüge von Pylos und Kythera aus, der drohende Helotenaufstand führten der Bürgerschaft die Unsicherheit des Bodens, auf dem ihre Herrschaft ruhte, lebendig zu Gemüt. Überdies gärte es in der peloponnesischen Eidgenossenschaft143. Die Korinther waren längst aufs höchste erbittert über die Art, wie Sparta den Krieg führte. Elis war mit Sparta zerfallen, weil dies die Triphylierstadt Lepreon, die sich in früherer Zeit zum Schutz gegen die Arkader in Abhängigkeit von Elis begeben hatte, als unabhängig anerkannt und geschirmt hatte144. In Arkadien hatten sich die Mantineer seit dem Synoikismos und der dadurch begründeten Demokratie (Bd. IV 1, 655) mächtig ausgedehnt und namentlich an der Grenze des spartanischen Gebietes das oresthische und parrhasische Bergland (Quellgebiet des Alpheos) unterworfen. Darüber kam es zu offenem Kampf mit ihrem Rivalen Tegea; beide lieferten sich, unterstützt von ihren Verbündeten, während der Waffenruhe im Winter 423 in Oresthis eine blutige Schlacht, die indessen unentschieden blieb145. Dazu kam die Aussicht auf den Wiederausbruch [129] des Krieges mit Argos, das nur Frieden halten wollte, wenn Sparta ihm die vielumstrittene kynurische Küste zurückgäbe: es war zu erwarten, daß alle Sparta aufsässigen Elemente sich an Argos anschließen und dadurch auch Athen im Innern des Peloponnes Fuß fassen werde. So hatte man trotz aller Erfolge der letzten Zeit in Sparta keinen anderen Gedanken, als die Gefangenen zurückzubekommen und mit Athen Frieden und womöglich ein Bündnis zu gewinnen. Wenn man das erreichte, konnte man den Gefahren der Zukunft mit größerem Vertrauen entgegen sehen. All die kühnen Pläne, mit denen man in den Krieg eingetreten war, die man im Sommer 430 schon fast erreicht zu haben glaubte, waren verraucht oder wenigstens auf bessere Zeiten vertagt. Mit vollem Nachdruck trat König Pleistoanax für diese Politik ein; König Agis, Archidamos' Sohn, hatte offenbar nur geringen Einfluß und war wohl auch, wie sein Vater, friedlich gesinnt. Um sein nächstes Ziel zu erreichen, war Sparta bereit, die den alten Verbündeten und den zu ihm übergetretenen Untertanen Athens gegebenen Versprechungen zu verleugnen und jedes nur irgend erträgliche Opfer zu bringen.

So war trotz aller Niederlagen im Felde durch den Besitz der spartiatischen Gefangenen die Waagschale noch immer weit über die tatsächlichen Machtverhältnisse hinaus zugunsten Athens geneigt; auch jetzt noch konnte es erreichen, was Sparta im Sommer 425 geboten hatte. Freilich war es nicht unbedenklich, den Bogen straff zu spannen; das Pfand, welches Athen besaß, verlor von Jahr zu Jahr an Wert, und unmöglich war es doch nicht, daß Sparta sich endlich einmal aufraffte und mit kühnem Entschluß, wie ihn Rom in ähnlicher Lage jederzeit gefaßt haben würde, die Gefangenen fahren ließ. In der Tat hat Sparta schließlich durch die Ankündigung, unbekümmert um die Drohungen Athens im nächsten Jahre aufs neue in Attika einzufallen und womöglich sich dauernd im Lande festzusetzen, die Athener zur Nachgiebigkeit gebracht – ob es freilich im Ernstfalle wirklich zur Ausführung gekommen wäre, kann fraglich erscheinen. Jedenfalls haben die athenischen Unterhändler, Nikias, Laches und ihre Genossen, ihren Vorteil zäh festgehalten und bis an die äußerste Grenze des Erreichbaren verfolgt. Störungen gab es genug. Die Korinther, Megarer, [130] Böoter verhielten sich schroff ablehnend; Argos, das bisher schon aus seiner Neutralität, die ihm den Verkehr mit beiden Parteien ermöglichte, bedeutenden Gewinn gezogen hatte, intrigierte jetzt um so mehr, da eine Fortdauer des Kriegszustandes die Entscheidung in seine Hand zu legen schien146. In Athen suchten die Fortsetzer der Politik Kleons, Hyperbolos, Peisandros und ihre Genossen, die verlöschende Kriegsstimmung neu zu schüren und die Forderungen möglichst zu steigern. Um so energischer setzte Nikias seinen ganzen Einfluß für den Frieden ein: er wollte den Ruhm eines ständig vom Erfolg begünstigten Feldherrn, den er im Kriege gewonnen hatte, nicht aufs Spiel setzen und jetzt, wo der Rivale durch seine Verblendung zugrunde gegangen war, als Erbe des Perikles seiner Heimat dauernd die Segnungen des Friedens verschaffen. Da auch Sparta unbeirrt an seinem Ziel festhielt, setzte er schließlich seine Ansicht durch; bei den Dionysien im Frühjahr 421 (25.-30. März) wurde der Friede auf 50 Jahre abgeschlossen und beschworen147. Als Grundsatz war aufgestellt, daß jede der beiden Parteien zurückgeben sollte, was sie erobert hatte; dagegen hatten die Spartaner darauf bestanden, daß Orte, die auf welche Weise immer durch einen Vertrag in die Hände der Gegner gekommen waren, ihnen verbleiben sollten, weil sie wußten, daß die Thebaner Platää niemals herausgeben würden. Nach demselben Grundsatz mußten sie den Athenern Nisäa lassen, und ebensowenig konnten sie erreichen, daß im Westen Sollion und Anaktorion, jetzt im Besitz der Akarnanen, an Korinth zurückgegeben wurden. Dagegen Pylos, Kythera, Methana im Gebiet von Trözen, die lokrische Insel Atalante sollte Athen herausgeben, dafür aber von den Böotern Panakton und von den Spartanern seine sämtlichen Besitzungen in Thrakien zurückerhalten.[131] Die chalkidischen Städte allerdings, welche schon seit 432 gegen Athen in Waffen standen (Olynthos, Stolos und die Bottiäerstadt Spartolos) oder vor dem Waffenstillstand zu Brasidas übergetreten und noch nicht wieder unterworfen waren (Akanthos, Stagiros, Argilos), sollten lediglich den von Aristides festgesetzten Tribut zahlen, im übrigen aber frei und neutral bleiben, wenn sie nicht freiwillig unter Athens Herrschaft zurücktreten wollten; dagegen das Schicksal von Skione, Torone, Sermylia und den Orten, die sonst noch etwa von Athen erobert waren oder noch belagert wurden, blieb lediglich Athen überlassen. Vor allem aber verpflichtete sich Sparta, Amphipolis an Athen zu überliefern; nur freier Abzug wurde allen, die es wünschten, garantiert. Des weitern sollten natürlich alle Gefangenen (darunter auch die in Skione eingeschlossenen Peloponnesier) freigegeben werden. Für die Zukunft wurde freier Verkehr und gerichtliche Entscheidung für alle Streitigkeiten festgesetzt. Außerdem haben die Spartaner die volle Freiheit von Delphi in den Vertrag gesetzt, um dadurch Athen eine Intervention zugunsten der Phoker, wie im Jahre 447 (s. Bd. IV 1, 583), unmöglich zu machen. Die Reihenfolge der Ausführung der Bedingungen sollte durch das Los bestimmt werden148.

Nikias und seine Mitunterhändler sind von Mit-und Nachwelt wegen des Friedens von 421 oft schwer getadelt worden; in Wirklichkeit verdienen sie wegen des außerordentlichen diplomatischen Geschicks, das sie bewiesen haben, die höchste Anerkennung. Trotz aller Niederlagen der letzten Jahre hat Athen alles erreicht, was Perikles als Ziel des Krieges hingestellt hatte. Der Ansturm der Gegner war vollständig gescheitert. Zwar stand infolge eigener Verschuldung Athens Machtbereich nicht mehr völlig intakt da; aber seine Ansprüche waren durchweg anerkannt, und es lag in seiner [132] Hand, wenn seine Kräfte dazu ausreichten, auch in Thrakien das Verlorene wiederzugewinnen. Aufgeben müssen hatte es nur Platää; dafür hatte es nicht nur Nisäa behalten, sondern das korinthische Kolonialreich im Ionischen Meer vernichtet und hier durch den festen Anschluß von Korkyra, Kephallenia, Zakynthos, Akarnanien eine Stellung gewonnen, zu der unter Perikles kaum die ersten Ansätze vorhanden waren. Die Bevölkerung und der Wohlstand des Landvolkes hatten schwere Verluste erlitten; aber zur See war es so allgebietend wie je. Ja noch mehr; eben durch den Frieden ging die Koalition der Gegner aus den Fugen. Sparta hatte das Vertrauen seiner Verbündeten schmählich getäuscht und ihre Interessen so vollständig aufgeopfert, daß Korinth, Megara, Böotien – und ebenso Elis aus Opposition gegen Sparta – dem Frieden nicht beitraten. Für Athen hatte das wenig zu besagen; ihm gegenüber waren sie ohnmächtig, wo Sparta sie im Stiche ließ, und in der Tat haben die Böoter sich alsbald wenigstens zu einem alle 10 Tage erneuerten Waffenstillstand mit Athen bequemt. Aber die Folge war, daß diese Staaten sich jetzt, wenn auch zunächst nur diplomatisch, gegen Sparta wandten und dadurch dies vollends Athen in die Arme trieben. So ist Athen, trotz aller Mißgriffe Kleons und seines Anhanges, tatsächlich als Sieger aus dem Kriege hervorgegangen; noch einmal lag die Zukunft Griechenlands in seiner Hand. Ob es freilich imstande sein werde, durch besonnen abwägende Politik die Wunden des Krieges zu heilen und aus der Gunst der Lage den vollen Gewinn zu ziehen, ob der 50jährige Friede des Nikias zum wenigsten denselben Bestand haben werde wie der 30jährige des Perikles von 446, das konnte erst die Zukunft lehren. Für den Augenblick gab man sich ganz der Friedensfreude hin; eben in dem Moment, wo der Vertrag abgeschlossen wurde, führte Aristophanes in seinem »Frieden« dem attischen Demos den Jubel des Landvolkes vor Augen, daß das Ziel nun endlich erreicht war, für das man so lange und mit so großen Opfern gekämpft hatte.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 121-134.
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