Beschluß und Ausrüstung der Expedition nach Sizilien

[207] So schien für Athen in Griechenland keine Gefahr zu befürchten; ohne Bedenken konnte Alkibiades sich einem Unternehmen zuwenden, das, wenn es gelang, Athen die Herrschaft über Hellas und ihm selbst die Herrschaft über Athen einbringen mußte. Schon zu Perikles' Lebzeiten hatten die Radikalen im Gegensatz zu seinem Bestreben, auf friedlichem Wege im Westen Athens Interessen und Verbündete zu schützen und seine Macht zu erweitern, einen großen Kriegszug nach Sizilien gefordert. Im Archidamischen Kriege war der Versuch gemacht worden; aber die Einigung der Sikelioten hatte ihm ein rasches Ende bereitet, und Phäax' Versuch, den Krieg neu anzufachen, war gescheitert (s.S. 116). Es hatte sich gezeigt, daß Athen, wenn es wirklich etwas erreichen wollte, mit ganz anderer Macht auftreten müsse. Seitdem hatte sich die Situation für Athen wesentlich verschlechtert. Syrakus war tatsächlich als Sieger aus dem vorigen Kriege hervorgegangen, es hatte seine Macht erweitert, [207] Leontini, sein alter Rivale, war in innerem Hader zugrunde gegangen, seine Bürgerschaft und sein Gebiet – bis auf die Punkte, welche die Flüchtlinge besetzt hielten – in Syrakus inkorporiert (s.S. 116); die kleineren Städte, wie Katana und Kamarina, wagten nicht, etwas gegen Syrakus zu unternehmen. In ähnlicher Weise strebte im Westen Selinus, sein Gebiet gegen die Elymer von Segesta, die alten Bundesgenossen Athens (Bd. IV 1, 611), auszudehnen; in einem um Grenzstreitigkeiten ausgebrochenen Kriege fand es Unterstützung bei Syrakus. Die Segestaner wurden geschlagen und gerieten in arge Bedrängnis195. Da sie weder bei Agrigent noch bei Karthago Hilfe fanden, wandten sie sich nach Athen. Sie wiesen darauf hin, daß jetzt die beste Gelegenheit sich biete, Athens Einfluß auf der Insel wiederherzustellen. Wenn Athen auch diesmal tatenlos zuschaue, werde die ganze Insel in die Hand seiner Feinde fallen, und dann könne der alte Plan eines Bündnisses zwischen Sizilien und den Peloponnesiern zur Bewältigung Athens (s.S. 29) gar leicht Wahrheit werden. Für den Fall, daß Athen eingreife, stellte Segesta eine energische Unterstützung namentlich durch Geldmittel in Aussicht. Mit den Segestanern baten die flüchtigen Leontiner um Wiederherstellung ihrer Heimat.

In Athen war die Mehrheit des Volkes geneigt, die Hilfe zu gewähren. Nicht nur besaß es im Westen starke kommerzielle und politische Interessen, die zu wahren man eben schon unter Perikles die Bündnisse geschlossen hatte; sondern vor allem schien sich hier ein Unternehmen zu bieten, das nach so langen erfolglosen und die Kräfte des Staates verzehrenden Kämpfen reichen Gewinn in Aussicht stellte. Die sizilischen Städte waren unter sich uneins, von innerem Hader zerrissen, ohne wahren Bürgersinn und ohne feste Wurzel im Boden und daher trotz ihrer Volkszahl, ihres reichen Bodenertrages und ihres äußeren Glanzes Athen in keiner Weise gewachsen; auch war ein Kampf in großen Dimensionen, zu dem das Mutterland durch die Verhältnisse erzogen war, ihnen noch fremd und ihre Machtmittel ganz unzureichend entwickelt. Überdies unterschätzte man wie gewöhnlich die Größe und die Widerstandskraft [208] ferner, nur in den Umrissen bekannter Länder; hatten doch bereits Kleon und Hyperbolos von einem Eroberungskrieg gegen Karthago geträumt. Mit aller Energie trat Alkibiades für diese Pläne ein: er wollte den Traum zur Wahrheit machen. Im Mutterlande, das lehrten die Ereignisse der letzten Jahre, brauchte man nichts zu besorgen; Sparta würde für Sizilien so wenig etwas tun wie für Melos oder die Chalkidier. Sollten sich aber wider Erwarten die Peloponnesier doch zum Kriege aufraffen, so hatte man weiter nichts zu ertragen als eine neue Verwüstung Attikas; der Machtstellung Athens, der Herrschaft über die See, konnten die Feinde auch dann nichts anhaben. Er berief sich auf die Vorfahren, die stolzen Mutes gleichzeitig den Krieg gegen die Perser und die Peloponnesier ruhmvoll geführt und Athens Herrschaft begründet hatten. Jetzt galt es zum mindesten Athens bedrohte Interessen zu verteidigen, womöglich aber, wenn das Glück günstig war, zu dem Reich am Ägäischen Meer ein zweites ebenso ausgedehntes und einträgliches Reich im Westen hinzuzuerobern. Hatte man erst Sizilien unterworfen, so ergab sich der Anschluß Unteritaliens von selbst; dann mochte man den Nationalkrieg gegen Karthago aufnehmen, den stärksten und reichsten aller Rivalen zur See niederwerfen und so alle Hilfskräfte des Westens für Athen erschließen. War so das ganze Mittelmeer ein athenisches Meer geworden, wer wollte ihm dann noch widerstehen? Dann waren die Gegner im Mutterlande von selbst zur Ohnmacht verurteilt; dann konnte Athen den Peloponnes zur See umklammern, die großen Truppenmassen, welche die Hellenen und die kräftigen Barbarenvölker des Westens boten, ans Land werfen und jeden Widerstand niedertreten. So dachte Alkibiades Kleons Programm, Athen die Herrschaft über ganz Hellas zu gewinnen, im größten Maßstabe zu erfüllen und dadurch sich selbst zum mächtigsten Manne der ganzen Welt zu erheben.

Die Erfahrung der früheren Kriege, so blendend sie schien, sprach nicht zugunsten des Alkibiades. Im letzten Kriege hatte Athen sich mit Mühe gegen die Feinde erfolgreich behauptet, im vorhergehenden Kriege aber war es trotz glänzender Siege an der seine Kräfte übersteigenden Doppelaufgabe verblutet. Vielleicht [209] war es möglich, Syrakus zu erobern – das hat Athen in der Tat beinahe erreicht –, ja selbst ganz Sizilien zu unterwerfen; aber es war ein Irrtum, wenn man glaubte, damit am Ziel zu sein. Auch ganz Ägypten hatte man einmal besessen, bis auf die Zitadelle von Memphis, und zwar gestützt auf die einheimische Bevölkerung selbst; trotzdem war das Ergebnis gewesen, daß die starke athenische Macht durch die verachteten Perser vollkommen vernichtet ward. War es zu erwarten, daß Athen auf Sizilien günstiger fahren werde, wenn die Peloponnesier und die Karthager in den Kampf eingriffen, wenn die Sikelioten sich in Masse gegen die Fremdherrschaft erhoben? Selbst im besten Falle erforderte die Behauptung Siziliens Jahr für Jahr die Entsendung eines starken Heeres und einen großen Aufwand an Geld; Athen aber konnte sich nicht einmal entschließen, die paar rebellischen Städte in Thrakien zu unterwerfen. Thukydides sagt, das sizilische Unternehmen sei gescheitert »nicht so sehr durch falsche Beurteilung der Machtmittel im Verhältnis zu den Feinden, gegen die man zog (οὐ τοσοῦτον γνώμης ἁμάρτημα ἦν πρὸς ο ὓς ἐπῄεσαν), als weil man, nachdem es begonnen war, daheim (seit der Absetzung des Alkibiades) nicht die richtigen Maßregeln zu seiner Fortführung ergriff«. Dies Urteil setzt voraus, daß man den Rücken gedeckt und in Griechenland nichts zu befürchten hatte; nach Thukydides' Auffassung steht aber Athen seit den Verwicklungen im Herbst 421 tatsächlich wieder in latentem Kriege mit den Peloponnesiern, und so lange dieser Zustand andauerte, durfte Athen sich, Perikles' Warnung entsprechend, auf neue Unternehmungen nicht einlassen. Perikles hätte im Jahre 415 vielleicht die Segestaner geschützt, in ähnlicher Weise wie 427 die Leontiner, aber den großen Eroberungszug hätte er niemals gebilligt. Waren Athen und Sizilien allein auf der Welt, so mochte das Unternehmen vielleicht gelingen; wie die Dinge lagen, mußte der Zug nach Sizilien, wie er auch ausging, den Krieg daheim neu entfesseln. Unterlag Athen, so war für die Peloponnesier die Möglichkeit gegeben, es zu vernichten; gewann es Erfolge, so zwang es sie dadurch erst recht, beizeiten mit aller Macht in den Kampf einzutreten, um ihre Existenz zu retten. So mußte Athen in jedem Falle an dem neuen Kriege verbluten; im Verhältnis zu [210] den Gegnern, die es rings umgaben, besaß es auch nicht entfernt die Machtmittel, mit denen anderthalb Jahrhunderte später Rom in den Kampf um Sizilien und weiter um die Herrschaft über die Mittelmeerwelt eingetreten ist. Ein Unternehmen, wie es Alkibiades plante, ging weit über seine Kräfte. Nach einem Menschenalter friedlicher Entwicklung, wenn die Peloponnesier gelernt hatten, sich in die Situation zu fügen, hätte es vielleicht die Expedition wagen können, und auch dann nur, wenn die Demokratie ihre engherzige Politik gegen die Bündner aufgab und alle Kräfte des großen Reiches zusammenfaßte, dafür aber die Untertanen der herrschenden Bevölkerung gleichstellte. Auch das aber hätte, wie die inneren Verhältnisse sich einmal gestaltet hatten, nur ein rücksichtsloser Gewaltherrscher ausführen können, der, nach Art der älteren sizilischen Tyrannen und später des Dionysios, den alten Staatsbau in Trümmer schlug; zur Zeit war das athenische Reich, ebenso wie Sparta, auf die Herrschaft einer Minderheit privilegierter Bürger über eine Masse unterdrückter und steuernder Untertanen begründet. Für Alkibiades sollte der Zug gegen Sizilien das Mittel sein, seine Alleinherrschaft aufzurichten und dann den Staat nach den Bedürfnissen seiner Politik umzugestalten. An Kühnheit fehlte es ihm nicht; ob es ihm geglückt wäre, auch wenn er als Sieger aus Sizilien heimkehrte, wer wollte es entscheiden? Wie Dionys von Sizilien die innere Berechtigung seiner persönlichen Politik zu erweisen, ist ihm versagt worden.

Alle Argumente, die gegen das Unternehmen sprachen, hat Nikias mit Nachdruck geltend gemacht. Er forderte, man solle die Segestaner, die sich, ohne Athen zu fragen, in den Krieg eingelassen hatten, sich selbst überlassen. Die Gefahr, die von Sizilien drohe, sei nicht groß; wenn Syrakus wirklich die Herrschaft über die ganze Insel gewinne, werde es sich erst recht hüten, Athen zu bekriegen; dies werde am meisten respektiert werden, wenn es sich den dortigen Händeln fernhalte und die drohende Gefahr eines athenischen Angriffes die Sikelioten zwinge, es nicht zu reizen. »Auch wenn wir Erfolg haben und die Sikelioten besiegen, werden wir sie bei der weiten Entfernung und ihrer großen Zahl schwer beherrschen können. Es ist aber widersinnig, gegen Staaten zu ziehen, die man,[211] wenn man sie besiegt hat, nicht in Unterwürfigkeit halten kann, während, wenn man keinen Erfolg hat, man in die Lage vor dem Kriege nicht wieder zurückkehren kann.« Statt dessen solle Athen seine Kräfte sammeln, sich gegen die ernsthafteren Gefahren decken, die von Sparta drohten, da nun einmal die Friedenspolitik durch Alkibiades unheilbar verpfuscht sei, und im übrigen sich der viel unscheinbareren, aber um so dringenderen Aufgabe zuwenden, die Chalkidier und Amphipolis wieder zu unterwerfen. Nikias erreichte wenigstens so viel, daß zunächst eine Gesandtschaft nach Segesta geschickt wurde, um die Verhältnisse genauer zu erkunden. Als dieselbe aber, durch den ihren eigenen Wünschen entsprechenden Schein der Opulenz getäuscht, mit der sie aufgenommen wurde, berichtete, Geldmittel seien reichlich vorhanden, namentlich in dem Heiligtum der großen Göttin von Eryx, und als erste Monatsrate für eine Flotte von 60 Schiffen 60 Talente mitbrachte, ging der Beschluß durch, die erbetene Hilfe zu gewähren. Die Strategen Alkibiades, Nikias und Lamachos wurden beauftragt, mit 60 Schiffen Segesta gegen Selinus Hilfe zu bringen und womöglich Leontini wiederherzustellen. Nikias versuchte in der nächsten Versammlung, fünf Tage nach dem Beschluß, noch einmal, die Entscheidung rückgängig zu machen, aber vergeblich; und als er dann erklärte, wenn man denn das Unternehmen wirklich ausführen wolle, müsse man mit weit größerer Macht auftreten, wirkte das nicht abschreckend, wie er gehofft hatte, sondern steigerte nur den Kriegseifer. Alles was er forderte, wurde in reichem Maße bewilligt, 100 Trieren, 5000 Hopliten aus Athen und den Bundesgenossen, Anwerbung von Söldnern, Proviant und sonstige Ausrüstung; wo es nötig wäre, dürften die Feldherren das Bewilligte noch überschreiten. So meinte man völlig sicher zu gehen. In Masse drängte sich die Jugend heran, von Anfang an für die Pläne des Alkibiades begeistert; und die Älteren wollten nicht zurückstehen. Der hohe Sold, den Athen zahlte, lockte die Massen, der Reiz eines gewaltigen Unternehmens in fernen Landen wirkte bestrickend; die Gefahr schien gering, der Gewinn unermeßlich. Wahrsager und Zeichendeuter verkündeten den vollen Erfolg; die wenigen, welche nüchternen Sinnes das Verderben herankommen sahen, mußten schweigend beiseite stehen, [212] wie Euripides, der im nächsten Jahre (d.i. 415) in seiner troischen Tetralogie der Ahnung Ausdruck gab, daß die stolze Flotte, die man entsandt habe, der Vernichtung entgegengefahren sei196.

Die Masse des Volkes war von Alkibiades' Verheißungen und dem Zauber seiner Persönlichkeit geblendet; aber die Gefahr, welche durch ihn dereinst den demokratischen Institutionen drohen könne, empfand auch sie. Bei den Politikern konnte darüber kein Zweifel sein. Den Führern der Radikalen, unter denen jetzt Peisandros (der sich allerdings im Herzen mit ganz anderen Plänen trug) und Androkles besonders einflußreich waren, mußte der Mann noch weit unheimlicher erscheinen, der sich jetzt anschickte, ihr altes Projekt in so gewaltigen Dimensionen zu verwirklichen, und dabei, wie Hyperbolos' Schicksal zeigte, sie so kühl und leicht beiseite zu schieben verstand. Sie wünschten das Unternehmen auf alle Fälle auszuführen und sich dazu des Namens des Alkibiades zu bedienen, dann aber sich seiner zu entledigen und die Leitung womöglich in ihre eigenen Hände zu bringen. In diesem Streben begegneten sie sich mit den Aristokraten, die jede Hoffnung, wieder ans Regiment zu kommen, schwinden sahen, wenn Alkibiades als Sieger heimkehrte. Offenbar ist es auf das Zusammenwirken beider Parteien zurückzuführen, daß nicht er allein mit der Leitung betraut, sondern Nikias und Lamachos ihm gleichberechtigt zur Seite gestellt wurden. Indessen damit war wenig gewonnen; mochten die beiden sich noch so sehr auszeichnen, der Ruhm und der Gewinn mußten doch ausschließlich dem Alkibiades zufallen. So lag während der Ausrüstung der Expedition, im Frühjahr 415, trotz alles Taumels der Siegeshoffnung eine schwüle Stimmung der Erwartung über Athen: instinktiv empfand man doch, daß man am entscheidenden [213] Wendepunkt der Geschicke des Heimatstaates stehe, nach außen wie im Innern. Da geschah es, daß eines Nachts fast alle Hermen, die zahlreich in den Gassen und auf den Plätzen Athens standen, von ruchloser Hand verstümmelt wurden. Völlige Sicherheit über die Urheber und den Hergang hat die folgende Untersuchung nicht ergeben; wie es scheint, war die Tat in der Trunkenheit von einer lustigen Gesellschaft junger Leute aus vornehmen Häusern verübt worden. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie eine Reihe von Kriminalprozessen zur Folge gehabt, die das sensationslüsterne Publikum eine Zeitlang in Aufregung halten mochten; Bedeutung hatte sie höchstens insoweit, als sie drastisch zeigte, wie tief der moderne Geist eingedrungen und die Scheu vor dem Heiligen geschwunden war. Aber unter den damaligen Umständen erschien sie nicht nur als ein böses Vorzeichen für den Verlauf der Expedition, sondern sie brachte die Gewitterschwüle, die über Athen lastete, zur Entladung. So absurd es war, man sah in dem Exzeß eine Demonstration gegen die bestehende Staatsordnung und das Werk eines tief angelegten, höchst gefährlichen Komplotts zum Sturz der Demokratie, zur Aufrichtung einer Oligarchie oder einer Tyrannis – man wußte ja, wie stark die antidemokratische Strömung war und wie oft in vornehmen Kreisen der Wunsch nach einer Verfassungsänderung laut wurde. Die Führer der Demokratie, Peisandros und Androkles und ihre Genossen, wie Kleon die berufenen Wächter der Staatsreligion, bemächtigten sich des Vorfalles, um ihn für ihre Zwecke auszunutzen. Der Rat bestellte eine Untersuchungskommission von zehn Männern, darunter Peisandros; hohe Belohnungen wurden ausgesetzt, Straflosigkeit für Denunziationen verheißen – auf falsche Beschuldigungen stand allerdings die Todesstrafe –, und die Untersuchung auf alle Religionsfrevel ausgedehnt. Über die Verstümmelung der Hermen erfuhr man zunächst nichts; dafür wurde in einer Volksversammlung, die über die letzten Maßregeln für den Zug nach Sizilien beriet, die Anzeige eingebracht, Alkibiades habe mit seinen Zechgenossen im Hause eines Freun des die Zeremonien von Eleusis nachgemacht und dabei das heilige Geheimnis den anwesenden Ungeweihten und Sklaven profaniert; und bald folgte eine Anzahl [214] ähnlicher Angaben gegen andere197. Die Anklage war sehr geschickt gewählt. Die heiligen Handlungen, welche im Mysterientempel vor den Augen der Eingeweihten aufgeführt wurden, waren roh und sinnlos im höchsten Grade, und alle neumodisch Gebildeten sahen in ihnen nichts als Pfaffentrug und kindischen Firlefanz. Aber zu allen Zeiten ist das Absurde eine der gewaltigsten Mächte in der Religion. Für die Altgläubigen und die Masse gab es nichts Heiligeres als die Weihen und Bräuche von Eleusis, den Stolz des Staates und die Garantie für alles Gedeihen auf Erden wie im Jenseits. Eben erst hatte man einen Appell an alle Hellenen erlassen, den großen Göttinnen zum Dank für den Segen, den sie spendeten, einen Jahrestribut darzubringen (s.S. 200f.). So wurde die Aufregung [215] gewaltig gesteigert: der Mann, der sich in seiner Lebensführung frech über alle Gebote der Sitte hinwegsetzte, von dem man sich der schlimmsten Pläne gegen den Staat versah, verschonte natürlich auch seine Götter nicht; es lag jetzt klar vor Augen, was man von ihm zu erwarten hatte, wenn er zur Regentschaft gelangte. Alkibiades war schwer betroffen. Er leugnete alles ab und forderte eine sofortige Untersuchung; aber daß er nicht anders dachte als die anderen Aufgeklärten, war offenes Geheimnis, und die Beschuldigung ist denn auch wahrscheinlich im wesentlichen richtig. Dennoch war es mehr als fraglich, ob das Gericht gewagt haben würde, ihn zu verurteilen; das Heer und die Flottenmannschaft, die jetzt zum Aufbruch bereit in Athen versammelt war, sah in ihm [216] den berufenen Führer, auf dem alle Siegeshoffnungen beruhten; und überdies war es nur seinem Einfluß zu danken, daß die Argiver am Kriege sich beteiligten und auch aus Mantinea Zuzug gekommen war. Die Demagogen lenkten ein; sie mußten ihn und seinen Anhang aus Athen entfernen, um dann um so sicherer gegen ihn vorgehen zu können. Trotz aller Bemühungen des Alkibiades, eine sofortige Entscheidung zu erlangen, trotz seiner Erklärung, es sei widersinning, einen solchen Frevels beschuldigten Mann an die Spitze eines so großen Unternehmens zu stellen, wurde die Untersuchung vertagt; man beschloß, der Prozeß solle erst stattfinden, wenn Alkibiades zurückgekehrt sei.

So lief denn die attische Flotte im Hochsommer 415 aus dem Piräeus aus. Zum Sammelplatz der gesamten Streitmacht war [217] Korkyra bestimmt. Es waren im ganzen 134 Trieren, darunter 60 attische Kriegsschiffe, 40 Militärtransportschiffe, 34 von Chios und anderen Bundesgenossen, darunter wohl auch von Korkyra, dazu 2 Fünfzigruderer von Rhodos. Das er gibt eine Flottenmannschaft von über 20000 Mann – auf das Kriegsschiff kommen 170 Ruderer, 8 Schiffsoffiziere, bei den Transportschiffen war die Zahl der Ruderer jedenfalls geringer –, davon ein großer Teil athenische Theten und Metöken, dazu geworbene Ruderer, namentlich aus dem Bundesgebiet, und vielleicht einzelne Sklaven. Das Landheer bestand aus 5100 Hopliten. Athen hatte 2200 Mann gestellt, darunter 700 auf Staatskosten mit Rüstungen versehene Theten – die oberen Klassen reichten eben seit der Pest für die Bedürfnisse einer großen Kriegsführung nicht mehr aus (s.S. 82f.) –; ferner 2150 Hopliten aus dem Bundesgebiet, 500 von Argos, 250 Arkader, teils von der athenerfreundlichen Partei in Mantinea auf Alkibiades' Betreiben gestellt, teils angeworben. Im Archidamischen Kriege hatte man die Bedeutung leichter Truppen immer mehr würdigen gelernt; so wurden der Expedition außer 400 attischen und 80 auf Kreta geworbenen Schützen 700 rhodische Schleuderer und 120 leichtbewaffnete Exulanten aus Megara mitgegeben. Dagegen glaubte man, trotz Nikias' Warnung, mit 30 Reitern auszukommen; man scheute offenbar die Schwierigkeiten des Pferdetransportes. Die gesamte Feldarmee bestand somit aus 6430 Mann. Nach dem Maßstab späterer Kriege, schon des vierten Jahrhunderts, ist das keine starke Armee. Aber der Schwerpunkt der attischen Macht lag in der Flotte, nicht im Landheer; ein stärkeres Heer hätte das Reich bei seiner damaligen Organisation, welche die militärischen Kräfte der Bündner nur in geringem Maße heranziehen konnte, kaum entsenden können, ohne sich daheim zu sehr zu schwächen. Auch hat gegenüber den zersplitterten und militärisch wenig organisierten und geschulten Kräften Siziliens dieses Heer sich zunächst als völlig ausreichend erwiesen – als dann freilich im Kriege die Gegner erstarkten und die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel wirklich auszunutzen begannen, vermochte auch eine wesentliche Verstärkung der attischen Streitkräfte das Gleichgewicht nicht mehr herzustellen. – Zu Flotte und Landheer kamen 30 Proviantschiffe [218] mit zahlreichen Arbeitssklaven, die man aus den Mühlen requiriert hatte, aber von Staats wegen besoldete; ferner Steinmetzen und Zimmerleute für die Belagerungsarbeiten, und weit über 100 größere und kleinere Fahrzeuge, die teils requiriert waren, teils freiwillig sich anschlossen. Alles in allem sind so weit über 300 Schiffe von Korkyra nach der Südspitze der Kalabrischen Halbinsel hinübergefahren, um von hier aus an der Küste von Großhellas hinab ihrem Ziele entgegenzugehen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 207-219.
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