Fortgang des sizilischen Krieges. Belagerung von Syrakus

[226] Dem sizilischen Unternehmen war mit Alkibiades die Triebkraft genommen. Statt den Krieg gegen Syrakus energisch zu beginnen, von dem man doch nicht mehr loskommen konnte und den die jetzt daheim allmächtigen Demagogen am wenigsten aufzugeben dachten, fuhren beide Feldherrn, Nikias' ursprünglichem Plan folgend, zunächst einmal mit gesamter Macht nach Segesta, um vor allem Geld zu bekommen, das sie allerdings dringend brauchten, da sie auf die Subsidien gerechnet hatten. Mehr als 30 Talente konnten die Segestaner nicht mehr aufbringen; dagegen überfiel und zerstörte man unterwegs ihnen zuliebe die benachbarte Sikanerstadt Hykkara (an der Küste westlich von Panormos) und gewann [226] aus dem Verkauf der Gefangenen 120 Talente203. Auf den Krieg mit Selinus aber ließ man sich nicht ein, sondern kehrte quer durch das Binnenland nach Katana zurück, zog Unterstützungen von einem Teile der Sikeler an sich, namentlich aus den unabhängigen Gebieten im Norden, bei Herbita, wo noch immer Duketios' Genosse Archonides (Bd. IV 1, 610) regierte, und berannte ohne Erfolg den Binnenort Hybla, westlich von Katana. Schließlich blieb doch nichts übrig, als ernstlich den Angriff auf Syrakus zu versuchen. Hier hatte sich inzwischen die erste Bestürzung gelegt; da die Athener nicht angriffen, glaubte man sie mit Leichtigkeit besiegen zu können, neckte sie mit Hohnreden und forderte von den Feldherren ungestüm eine Schlacht. Nikias bestärkte sie in dieser Stimmung; durch einen Überläufer ließ er ihnen die Nachricht zukommen, die Katanäer würden demnächst über die Athener herfallen und die Flotte in Brand stecken. Dadurch ließen sich die Syrakusaner verleiten, mit gesamter Macht nach Norden auszurücken, unterstützt von Truppen von Selinus und Reiterei und Schützen von Gela und Kamarina. Da ging Nikias mit seinem ganzen Heer in See, landete in der großen Bucht südlich von Syrakus bei den Höhen jenseits des Anapos in der Nähe eines Tempels des olympischen Zeus, wo die feindliche Reiterei ihm nichts anhaben konnte, verschanzte sich und bereitete das Terrain für den Kampf. Auf die Kunde davon kehrte die syrakusanische Armee schleunigst um; am nächsten Morgen (November 415) kam es zur Schlacht. An Zahl waren die Syrakusaner den Feinden überlegen, und auch an Mut fehlte es ihnen nicht, wohl aber an Kriegserfahrung, zumal den attischen Elitetruppen gegenüber, und vor allem an Disziplin. Sie waren noch mitten in der Aufstellung begriffen, ja zahlreiche Mannschaften kamen erst aus der Stadt herbei, als die Athener anrückten; ein heftiges Gewitter erschütterte ihre Reihen noch weiter, und so wurden sie vollständig geschlagen. Aber an eine ernstliche Verfolgung konnten die Athener nicht denken, wo 1200 feindliche Reiter den Rückzug deckten, und ebensowenig war es möglich, die Wintermonate hindurch in der [227] Stellung beim Olympieion zu bleiben, ohne in arge Not zu geraten. Daher führte Nikias die Armee zurück und bezog bei Naxos das Winterlager. Er konnte hoffen, durch den Sieg Bundesgenossen und reichliche Zufuhr zu gewinnen; zugleich schickte er nach Athen die dringende Forderung, ihm für den nächsten Feldzug Geld und vor allem genügende Reiterei zu senden.204

Für Syrakus war die nächste Folge der Niederlage, daß man auf Hermokrates' Betreiben beschloß, im nächsten Jahre das vielköpfige Kollegium von 15 Strategen durch drei Feldherren mit größerer Bewegungsfreiheit zu ersetzen; gewählt wurden Hermokrates, Herakleides, Sikanos, und das Volk verpflichtete sich eidlich, sie nach bestem Wissen schalten zu lassen. Im übrigen ermutigte Hermokrates die Syrakusaner nach Kräften: für den ersten Kampf hätten sich die Truppen ganz gut gehalten, auch das Kriegshandwerk wolle eben gelernt werden. Zahlreiche Mannschaften wurden ausgehoben und einexerziert, die Ärmeren auf Staatskosten bewaffnet, das Ufer überall, wo man landen konnte, durch Palisaden geschützt und vor allem in der Neustadt Achradina, auf den Höhen gegenüber der auf der Insel Ortygia gelegenen Altstadt, die Vorstädte in die Festungswerke einbezogen. Auch unternahm man einen erfolgreichen Vorstoß gegen Katana und verbrannte das dortige Sommerlager, worauf die Athener ihr Winterlager von Naxos nach Katana verlegten, um diese Stadt zu schützen. Außerdem schickte man eine Gesandtschaft nach Korinth und Sparta mit der dringenden Bitte um Hilfe und um Wiederaufnahme des Krieges gegen Athen. – Inzwischen hatten die Athener ohne Erfolg den Versuch wiederholt, Messana zu gewinnen – das war durch Alkibiades' Intervention (s.S. 226) unmöglich geworden –; und auch Kamarina hatten sie nicht auf ihre Seite ziehen können, obwohl dasselbe Syrakus eine Niederlage gönnte. Aber man wollte [228] doch die Herrschaft Athens über die Insel nicht aufrichten, hatte auch Besorgnis, daß schließlich Syrakus an Kamarina Rache üben könne, und beschloß daher, dasselbe nach wie vor, wenn auch möglichst lau, zu unterstützen. Besseren Erfolg hatten die Bemühungen, von den Sikelern, namentlich im Inneren und an der Nordküste, Truppen und Zufuhr zu erhalten. Ferner erhielt man durch Vermittlung der Chalkidier Italiens, vor allem wohl des seit Jahrzehnten verbündeten Neapel (Bd IV 1, S. 732), im Laufe des Sommers 414 eine Schar kampanischer Söldner205. Auch mit Karthago knüpfte man Verhandlungen an, die indessen resultatlos verliefen. Die Karthager verhielten sich einstweilen völlig neutral; sie glaubten warten zu können, wie der Ausgang gezeigt hat, mit Recht.

Für den Feldzug von 414 hatte Nikias alles vorbereitet, um jetzt endlich zum entscheidenden Angriff zu schreiten; das Material für die Belagerung der Stadt und Pferde für die von Athen erbetenen Reiter waren requiriert. Bis diese samt der Geldsendung eintrafen, benutzte er, nach einem vergeblichen Versuch sich in Megara (s.S. 221) festzusetzen, die Zeit zu Plünderungszügen, bei denen die ansehnliche Stadt Kentoripa oberhalb der Symaithosebene zum Anschluß gebracht wurde. Als dann, gegen Ende März, von Athen 300 Talente206 und 250 Reiter sowie 30 berittene Schützen eintrafen – ohne Pferde, die von den Sikelern und Segesta gestellt wurden –, ging Nikias, einmal zur Tat entschlossen, mit ebensoviel Umsicht wie Energie vor. Die Syrakusaner hatten den Angriff erwartet, [229] und Hermokrates mit seinen beiden Kollegen hielt gerade eine Musterung des gesamten Kriegsvolkes in der Anaposebene südlich der Stadt ab, um dann eine Elitetruppe von 600 Mann als Besatzung auf die Höhen von Epipolä zu legen, den lang nach Westen gestreckten und steil abfallenden Rücken des Plateaus, an dessen östlichem Rande die Neustadt lag; so meinte man der Gefahr einer Einschließung zuvorzukommen. Eben in der Nacht war aber die attische Flotte von Katana aufgebrochen und hatte die Armee am Nordfuß von Epipolä ans Land gesetzt; es gelang den Athenern, in eiligem Lauf die Höhen zu besetzen, ehe die viel weiter entfernten Syrakusaner vom Paradeplatz herankommen konnten. So hatte Hermokrates sich überrumpeln lassen; bei dem nun folgenden aufgelösten Gefecht wurden die Syrakusaner geschlagen und mit schweren Verlusten in die Stadt zurückgeworfen. Sie wagten nicht, den Kampf wiederaufzunehmen; die Athener konnten mit den Belagerungsarbeiten beginnen. Sie befestigten zunächst das Labdalon, eine Höhe am Nordrande, und erbauten dann in der Mitte des Plateaus, unweit der Stadtmauer, ein kreisförmiges Fort; von hier sollten Mauern nach beiden Seiten zum Meer hinabgezogen und dadurch Syrakus von der Landseite abgesperrt werden. Die Flotte lagerte auf einer kleinen Landzunge Thapsos, etwa eine Meile nördlich von Syrakus, und konnte von hier aus der Armee und der Besatzung im Kastell über die kleine Bucht Trogilos am Nordabhang des Plateaus bequem Lebensmittel und Belagerungsmaterial zuführen. Zugleich erhielten die Athener eine sehr erwünschte Verstärkung von 400 Reitern aus Segesta und anderen sizilischen Orten, so daß sie jetzt auch mit der feindlichen Reiterei den Kampf aufnehmen konnten.

In Syrakus herrschte tiefste Niedergeschlagenheit; ein Versuch, noch einmal eine Schlacht zu wagen, scheiterte an der Disziplinlosigkeit der Truppen, ehe es ernstlich zum Gefecht gekommen war. So versuchte Hermokrates, durch Anlage von Befestigungen den Athenern entgegenzuarbeiten. Von der neuen Stadtmauer aus zog man eine mit Türmen und Palisaden verstärkte Quermauer auf dem Rücken des Plateaus entlang südlich von dem athenischen Fort, um die Ausführung der Einschließungsmauer auf dieser Seite[230] unmöglich zu machen; aber bald nach ihrer Vollendung schlugen die Athener in plötzlichem Angriff die Besatzung aus der Befestigung heraus, ehe sie aus der Stadt Hilfe erhalten konnte, und zerstörten die ganze Anlage. Jetzt konnten sie die Einschließungsmauer ungehindert nach Süden über den Höhenrücken von Epipolä und am Abhang hinab in das Sumpfland am Anapos ziehen. Hier arbeiteten ihnen die Syrakusaner mit einer zweiten Quermauer und einem Graben entgegen. Aber auch diesmal hielt die Besatzung gegen den athenischen Angriff nicht stand. Zwar geriet der rechte Flügel der Athener am Anapos in starke Bedrängnis – Lamachos, der ihn herausreißen wollte, wurde in dem von Gräben durchzogenen Terrain abgeschnitten und fiel – und gleichzeitig drangen die Syrakusaner erfolgreich gegen das von Verteidigern fast entblößte Kastell auf Epipolä vor. Aber Nikias, der erkrankt und daher hier zurückgeblieben war, ließ alles Holzwerk, dessen man habhaft werden konnte, in Brand stecken und hemmte dadurch den Angriff, bis Ersatz herbeikam; und gleichzeitig fuhr die gesamte athenische Flotte von Thapsos in die große Bucht am Anapos ein. Da gaben die Syrakusaner den Kampf auf und zogen sich hinter die Stadtmauern zurück. Jede Hoffnung auf eine erfolgreiche Fortsetzung des Widerstandes schien geschwunden; die ersehnte Hilfe aus dem Peloponnes, die allein noch Rettung bringen konnte, ließ nichts von sich hören. Hermokrates und seine beiden Mitfeldherren, die keine ihrer Verheißungen hatten erfüllen können, wurden abgesetzt, drei andere an ihrer Stelle erwählt. Von Anfang an hatte es in Syrakus Leute gegeben, die mit den Athenern in Verbindung standen; jetzt konnten sie sich ungescheut hervorwagen, und immer größer wurde auch in patriotisch gesinnten Kreisen die Zahl derer, die ein Abkommen mit Athen forderten, solange es noch möglich sei, erträgliche Bedingungen zu erhalten. Bereits begannen insgeheim und wohl auch unter Konnivenz der Behörden Verhandlungen mit Nikias. Überall betrachtete man den Sieg der Athener als zweifellos; die Sikeler strömten ihnen in Scharen zu, die italischen Städte sandten reichlich Proviant. Die attische Flotte lag in der großen Bucht, in ihrem südlichen Teil war die doppelte Umfassungsmauer bis auf eine kurze Strecke am Meer vollendet, auf der Nordseite, [231] vom Kastell bis zu der Bucht Trogilos, waren die Steine bereits angefahren und manche Strecken im Bau. Es konnte nicht zweifelhaft sein, daß, sobald die Einschließungsmauer vollendet war, Syrakus kapitulieren würde, falls es nicht bereits vorher durch Verrat in die Hände der Belagerer kommen sollte.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 226-232.
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