Wiederausbruch des allgemeinen Krieges. Demosthenes nach Sizilien

[240] Die Botschaft des Nikias, die etwa im November 414 in Athen eintraf, war eine schwere Enttäuschung nach den stolzen Hoffnungen, mit denen man vor wenigen Monaten nach allen Seiten die Offensive eröffnet hatte. Wohl erkannte man den Ernst der Situation. Aber an einen Rücktritt von dem sizilischen Unternehmen war nicht zu denken; das wäre die Bankerotterklärung Athens gewesen und die Aufforderung an alle seine Feinde, nun über die selbst schon verzagende Stadt herzufallen. Auch konnte man die Situation doch nicht ganz so schlimm ansehen, wie Nikias, der immer Schwarzseher gewesen war, sie schilderte; sollte sich durch die Ankunft eines Mannes mit geringer Truppenmacht wirklich gar so viel geändert haben? Allerdings eine starke Unterstützung mußte man entsenden und dem Nikias fähige Gehilfen geben. Ihn selbst zurückrufen wollte man nicht – vermutlich haben seine politischen [240] Gegner alles darangesetzt, ihn von Athen fernzuhalten –; aber man bestellte ihm einstweilen zwei Kollegen aus dem Heer und beschloß, ihm für die Zukunft zwei der tüchtigsten Feldherren zur Seite zu stellen, den im vorigen Krieg erprobten Demosthenes und Eurymedon, der 425 bereits auf Sizilien kommandiert hatte und nach seiner Rückkehr in eine Geldstrafe verurteilt war (s.S. 121f.). Eurymedon wurde sofort, um die Jahreswende 414/3, mit 10 Schiffen entsandt; Demosthenes sollte für den nächsten Feldzug ein großes Heer aufbringen. Am schlimmsten war es mit den Geldmitteln bestellt; der Schatz, den Perikles hinterlassen hatte, war eben nicht wieder aufgefüllt worden. 20 Talente (109000 M.) war alles, was man einstweilen dem Eurymedon mitgeben konnte. Dann begannen die Rüstungen; Truppen und Matrosen wurden geworben und bei den Bündnern ausgehoben, Trieren instand gesetzt, Gelder gesammelt; wie Nikias gefordert hatte, sollte die neue Armee der vorigen an Stärke und Leistungsfähigkeit gleichkommen. Außerdem wurden in Naupaktos wieder, wie im Archidamischen Kriege, 20 Schiffe unter Konon stationiert, welche den Korinthern die Ausfahrt aus dem Golf versperren und eine Hilfssendung vom Peloponnes nach Sizilien unmöglich machen sollten215. So hoffte man sicher der Feinde Herr werden zu können. Euripides schließt die im Frühjahr 413 aufgeführte Elektra mit der Verheißung der Dioskuren, der Beschirmer der Seefahrt, den Schiffen im sizilischen Meer Rettung zu bringen: »den Frevlern (d.i. dem Alkibiades) leisten wir keinen Beistand; wer aber Gottesfurcht und Gerechtigkeit übt im Leben, den können wir aus schwerer Mühsal erlösen.«

Über den Rüstungen kam der Frühling heran und mit ihm eine neue Überraschung für Athen. Ein peloponnesisch-böotisches Heer unter König Agis rückte in Attika ein; aber statt wie ehemals sich mit der Verwüstung des Landes zu begnügen, setzte es sich in dem Ort Dekelea fest und umgab ihn mit starken Festungsmauern. Die Athener waren weder imstande, den Bau zu stören, noch nachdem er vollendet und das Hauptheer abgezogen war, die Garnison, die [241] unter Agis dauernd zurückblieb – die Kontingente der einzelnen Staaten des Bundes stellten abwechselnd die Besatzung –, anzugreifen und das Kastell zu stürmen. Dekelea war von Alkibiades vortrefflich gewählt worden; es liegt am Nordrande der Kephisosebene auf den Vorhöhen des Parnes, von Athen 3 Meilen und auf der Landstraße über Oropos etwa ebensoweit von der böotischen Grenze entfernt. Damit war den Athenern die Herrschaft über ihr eigenes Land entrissen. Die Umgegend Athens wurde durch die Garnison der Hauptstadt geschützt; der nördliche Teil der attischen Ebene dagegen wurde von Dekelea vollständig beherrscht, und auch die übrigen Landschaften Attikas, die Ebenen von Marathon und Eleusis, das Binnenland südlich vom Pentelikon und die Küstenorte der Akte bis Sunion hinab, sahen sich jederzeit den Streifzügen der Besatzung Dekeleas ausgesetzt216. Die attische Reiterei war trotz aller Anstrengungen nicht imstande, ihnen auf die Dauer wirksam entgegenzutreten; wohl aber litten die Pferde aufs schwerste auf dem steinigen Boden des Landes217. Nur größere und verteidigungsfähige Orte an der See, wie Eleusis und Salamis, waren gesichert; Oropos wurde durch eine Garnison geschützt218. Aber in ganz anderer Weise als im vorigen Kriege hatte Athen jetzt durch die feindliche Invasion zu leiden. Auch in den abgelegensten Teilen der Landschaft war ein regelrechter Anbau kaum möglich; [242] ein großer und ständig anwachsender Teil der Landbevölkerung mußte zu dauerndem Aufenthalt in die Stadt flüchten. Diese selbst befand sich jahraus jahrein im Belagerungszustand. Der Wachtdienst auf den Mauern war ununterbrochen in Gang, bei Nacht war die gesamte wehrpflichtige Bevölkerung auf den Waffenplätzen konsigniert. Alles bürgerliche Leben kam zum Stocken, die Erwerbstätigkeit und die Geschäfte standen still, und dabei hatte der Hauptteil des Landvolkes jetzt tatsächlich seinen Besitz verloren und mußte von den Ersparnissen früherer Jahre und von der Truppenlöhnung leben. Auch die Gerichtsgelder, die bisher zahlreichen kleinen Leuten einen erwünschten Zuschuß gewährt hatten, verloren ihre Bedeutung; man konnte nicht mehr so viel Gerichtshöfe bestellen wie früher, die Zahl der Prozesse sank gewaltig, weil das Geschäftsleben ruhte, und auch aus dem Bundesgebiet, wo der Gerichtszwang sich früher für den athenischen Bürger so einträglich erwiesen hatte, kamen, je weiter der allgemeine Krieg fortschritt, um so weniger Sachen zur Aburteilung nach Athen. Der Viehstand ging ganz zugrunde. Die Sklaven entliefen in Masse: auf mehr als 20000 schätzt Thukydides die Zahl der Entwichenen, darunter der Hauptteil Handwerker, von deren Arbeitserträgnis bisher zahlreiche Bürger gelebt hatten. Die Preise gingen gewaltig in die Höhe; fast ausschließlich war man jetzt für alle Lebensmittel auf fremde Zufuhr angewiesen, und diese konnte selbst von Euböa her nur noch zur See erfolgen. Am bedenklichsten war die finanzielle Not, in die der Staat geriet: die Pachtgelder der laurischen Bergwerke fielen fort, da der Betrieb der Minen eingestellt werden mußte; die Barbestände des Schatzes waren fast er schöpft, bis auf den Reservefonds von 1000 Talenten (s.S. 30), den man doch noch nicht anzugreifen wagte; und nun wuchsen die Anforderungen gewaltig, nicht nur für die Offensive, sondern jetzt auch für die Verteidigung der eigenen Heimat. Man versuchte neue Einnahmen zu erschließen. An eine neue Erhöhung des Tributes der Bündner konnte man freilich um so weniger denken, da man jetzt, wo die Lage sich mit einem Schlage viel bedenklicher gestaltet hatte als im vorigen Kriege, mehr Rücksicht auf sie nehmen und einen Aufstand unter allen Umständen verhindern mußte. Deshalb hob man die Tribute überhaupt [243] auf und ersetzte sie durch eine fünfprozentige Steuer auf alle eingeführten Waren; dadurch hoffte man, wie es scheint mit Recht, größere Erträge zu erzielen219.

Trotz alledem hielt Athen an der Entsendung des neuen Heeres nach Sizilien fest; denn nur vor Syrakus konnte jetzt die Befreiung Athens aus gleicher Notlage erstritten werden, während eine Aufgabe der Expedition der Wirkung nach so schlimm war wie ihr Untergang. Auch hatte man Mannschaften genug, deren Kräfte man daheim nicht brauchte, während ihnen die Löhnung auf der Flotte jetzt doppelt willkommen sein mußte. Eine in Thrakien angeworbene Schar von 1300 Peltasten entließ man allerdings sofort wieder in die Heimat, weil man nicht mehr Geld genug hatte, ihnen den Sold (1 Drachme täglich) zu zahlen – auf der Heimkehr haben sie die böotische Landstadt Mykalessos überfallen und ausgemordet. Im übrigen aber glaubte Athen im Bunde mit Argos immer noch allen seinen Feinden zusammen gewachsen zu sein. Das war eine Täuschung; aber bewunderungswürdig bleibt es trotzdem, welch gewaltige Spannkraft dieser Staat entwickelt hat: so sehr er in arger Betörung seine Kräfte überschätzt hatte, jetzt wo es galt, um seine Existenz als Großmacht zu kämpfen, bewies er eine Energie und Ausdauer, die keiner seiner Feinde für möglich gehalten hatte und die weit über das hinausging, was sie alle in gleicher Lage hätten leisten können. Gleich zu Anfang des Frühjahres, während die Feinde Dekelea befestigten, gingen zwei Geschwader in See, das nach Sizilien bestimmte von 60 attischen und 5 chiischen Schiffen unter Demosthenes und ein zweites von 30 Schiffen unter Charikles, welches die Küsten des Peloponnes verwüsten und zugleich Argos zu ernstlicher Hilfeleistung antreiben sollte. Und hier trat nun der dritte und vielleicht verhängnisvollste Fehler in der Rechnung der Athener zutage. Die radikale Demokratie, durchaus doktrinär und jeder Belehrung durch die Erfahrung unzugänglich, hat alle Lehren des großen Krieges von 460-450 in den Wind geschlagen. Um das Bündnis von Argos zu gewinnen, hatte Athen die Hand Spartas von [244] sich gewiesen, um seinetwillen den Krieg mit den Peloponnesiern aufs neue begonnen, zunächst indirekt im Feldzug von Mantinea, dann mit offenem Vertragsbruch im Sommer 414. Jetzt zeigte sich, daß eine ernsthafte Unterstützung von Argos nicht zu erlangen war. Die Hoffnung, Sparta aus seiner Stellung zu verdrängen und für sich selbst die Führung des Peloponnes zu gewinnen, war in der Schlacht bei Mantinea begraben. Mit Athens Hilfe sich der Angriffe Spartas zu erwehren und, wenn es ohne größere Opfer möglich war, Thyrea und die kynurische Küste zurückzuerobern, war Argos sehr bereit; aber sich für Athen aufzuopfern, hatte es nicht die mindeste Neigung. Die argivische Demokratie besaß wohl die Aspiration, aber nicht die Kraft, große Politik zu treiben. Der Staat war zu exponiert; er mußte, wenn er sich zu tief in die Händel einließ, notwendig die Beute des Siegers werden. Eben darum konnten die inneren Parteiungen nicht zur Ruhe gelangen; wenn auch die Demokraten sich durch eine Reihe blutiger Gewalttaten am Regiment behauptet hatten, so waren sie doch am wenigsten imstande, dem Staat eine starke militärische Organisation zu geben und die Gesamtkraft seiner Bevölkerung in einen Kampf auf Tod und Leben zu werfen. Sobald es Ernst wurde, mußten auch sie die Berechtigung der Bedenken empfinden, welche die Politik ihrer Gegner geleitet hatte. So kehrte Argos mit dem Ausbruch des großen Krieges aufs neue mehr und mehr zu einer reservierten Haltung zurück. Ein paar hundert Argiver standen beim Heere des Nikias. Jetzt stellten sie dem Charikles und Demosthenes ein Hilfskorps, um die lakonische Küste zu verwüsten und gegenüber dem noch immer von Athen besetzten Kythera in der Nähe des Vorgebirges Malea ein Kastell zu bauen, das wie Pylos zum Stützpunkt für Raubzüge und zur Aufnahme flüchtiger Heloten dienen konnte. Dann kehrten die Argiver nach Hause zurück und Charikles mit ihnen. Das war alles. Athen hat auch diesmal von dem Bündnis mit Argos keinen Gewinn gehabt, wohl aber um seinetwillen den Kampf um die Existenz für sich selbst heraufbeschworen (vgl. Andoc. 3, 31).

Die in Naupaktos stationierten Schiffe unter Konon hatten die Entsendung peloponnesischer Hilfstruppen nach Sizilien nicht hindern können. Die Korinther hielten sie durch ein Geschwader [245] von 25 Trieren in Schach, und währenddessen ging ein Hilfskorps von 1600 Hopliten – spartanische Heloten und Neodamoden, Böoter, Korinther, Sikyonier, Söldner aus Arkadien – auf Handelsschiffen in See. Freilich, die gewöhnliche Fahrstraße an der Küste entlang einzuschlagen, durften sie doch nicht wagen; bei der Fahrt über das offene Meer aber wurden die meisten von ihnen nach Kyrene verschlagen, und so haben sie erst nach langen Irrfahrten ihr Ziel erreicht. – Bei der Flotte in Naupaktos aber war das alte Siegesvertrauen gegenüber den Tagen Phormios (s.S. 64) so weit gesunken, daß Konon mit den 18 Schiffen, die ihm zur Verfügung standen, nicht wagte, die feindliche Übermacht anzugreifen; er erbat sich von Demosthenes, als dieser nach Akarnanien gelangt war, eine Verstärkung von 10 Schiffen unter Diphilos, der dann das Kommando übernahm. Aber als die Korinther, gestützt auf das Landheer an der achäischen Küste, die Schlacht boten, konnten die Athener einen Sieg nicht erringen. Um der Überlegenheit der Athener im Schiffsmanöver zu begegnen, hatten die Korinther die Balken, welche zu beiden Seiten des Schiffsschnabels hervorragten, möglichst stark gemacht und dadurch einer Anzahl attischer Schiffe, die gegen sie anrannten, das Ruderwerk zerrissen. Der Kampf endete unentschieden; und das bedeutete so viel wie eine Niederlage der Athener.

Inzwischen hatte Demosthenes, zu dem jetzt auch Eurymedon (s.S. 241) von Syrakus mit der dringenden Bitte um schleunige Hilfe zurückgekehrt war, auf Zakynthos und Kephallenia und bei den Akarnanen Truppen gesammelt und von Korkyra 15 Trieren und eine Schar Hopliten erhalten. Etwa Ende Juni konnte er von Korkyra nach der Südspitze Japygiens hinübergehen. Hier erhielt er noch Verstärkung durch 150 japygische Speerkämpfer von dem seit alters verbündeten Häuptling Artas (Bd. IV 1, 678). Von den Griechenstädten war Metapont bereits zu Athen übergetreten, offenbar aus Feindschaft gegen Tarent, und auch in Thurii hatte sich soeben der heftige Parteikampf zu seinen Gunsten entschieden; jenes stellte 300 Speerkämpfer und 2 Trieren, dieses 700 Hopliten und 300 Speerkämpfer. So war unter Demosthenes' und Eurymedons Kommando eine Flotte von 73 Trieren (davon 51 attische; 10 waren an Konon [246] abgegeben) und ein Landheer von 5000 Hopliten – 1200 Athener vom Hoplitenzensus, die übrigen von den Bündnern, von Korkyra und den benachbarten Inseln und von Thurii – und zahlreichen Speerkämpfern, Schleuderern und Schützen aus Akarnanien und Unteritalien vereinigt; alles in allen noch einmal eine Armee von etwa 20000 Menschen, ungerechnet die Bemannung der Transportschiffe und den sonstigen Troß, an dem es auch diesmal nicht gefehlt haben kann. Mit Recht erregte es das Staunen der Zeitgenossen, daß das attische Reich, während der Feind vor den Toren der Hauptstadt lag, zur Eroberung einer fernen Insel eine Macht von über 150 Kriegsschiffen und insgesamt mindestens 50000 Menschen aufzubieten imstande war. Kein anderer Staat der damaligen Welt, außer etwa Karthago, auch das Perserreich nicht, hätte in gleicher Lage etwas Ähnliches zu leisten, ja auch nur zu planen vermocht. Aber gerade diese Machtentfaltung zwang die Gegner nur um so mehr, sich eng zusammenzuschließen und alle Kräfte zur Bezwingung eines Staates anzuspannen, dem sie isoliert unfehlbar erliegen mußten.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 240-247.
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