Perikles und das megarische Psephisma. Kriegsbeschluß Spartas und der Peloponnesier

[15] Durch den Abfall Potidäas und das Eingreifen der Korinther war zwar nach griechischem Völkerrecht der Krieg noch nicht erklärt; denn nur ein direkter Angriff auf das Gebiet des Gegners stellte den Kriegszustand her, eine Beteiligung an den Kämpfen eines dritten Staates, auch wenn sie wie bei Korkyra und Potidäa zu feindlichen Zusammenstößen führte, galt noch nicht als Friedensbruch. Aber tatsächlich war über den unmittelbar bevorstehenden Ausbruch des großen Krieges kein Zweifel mehr; Korinth konnte nicht mehr zurück. Wohl aber durfte man hoffen, daß, wenn die Peloponnesier sich endlich zu ernsthafter Gegenwehr aufrafften und Attika mit einer Invasion bedrohten, Athen im Gefühl, ihnen im Felde nicht gewachsen zu sein, nachgeben und wie 446 ohne Kampf bewilligen werde, was sie forderten. Diese Illusion nicht aufkommen zu lassen, weder daheim noch bei den Gegnern, sondern von Anfang an aller Welt klar und deutlich zu zeigen, daß Athen diesmal vor seinen Feinden um keinen Schritt zurückweichen werde, das war nach Perikles' Auffassung fortan die Aufgabe der[15] attischen Politik. Denn so völlig er überzeugt war, daß man eine Feldschlacht in keinem Falle wagen dürfe, jetzt hatte Athen nicht mehr wie 446 unhaltbare Positionen auf dem Festland im Besitz; in den Machtbereich aber, auf den es sich damals beschränkt hatte, in die absolute Herrschaft über die See durfte es nie auch nur den geringsten Eingriff dulden. Machte es jetzt Konzessionen, so erschütterte es selbst seine Stellung schwerer, als die Feinde es auch unter den günstigsten Umständen je vermochten; dann zeigte es, daß es sich fürchtete, und stärkte dadurch den offenen und heimlichen Gegnern jenseits der Grenzen und in seinem Machtbereich den Mut; dann war es dem peloponnesischen Bunde nicht mehr ebenbürtig, sondern nahm von ihm das Gesetz. Die Dinge hatten sich ohne Athens Zutun entwickelt, in den korkyräischen Händeln hatte es sich so gemäßigt gezeigt, wie nur immer die Umstände es zuließen; darauf hatte Korinth mit der Unterstützung einer rebellischen Bundesstadt geantwortet, in offener Verletzung des Vertrages von 446. Mochte denn kommen, was kommen mußte. Positiven Gewinn, neue Eroberungen konnte der Krieg nicht bringen; aber Perikles war überzeugt, daß Athen bei besonnener Führung ihn weit besser und länger aushalten könne als die Feinde. Sie mußten schließlich ermatten und von dem Versuch abstehen, Athen zu demütigen; wenn dadurch dies die Unantastbarkeit und die gewaltige Überlegenheit seiner Machtmittel erwies, so war das auch ohne äußeren Machtzuwachs ein Gewinn, so gewaltig, daß er den Gedanken an eine freiwillige Demütigung nicht aufkommen ließ.

Von diesen Gedanken geleitet, hat Perikles auf die Unterstützung Potidäas durch Korinth mit einer Provokation geantwortet, wie sie nicht schärfer zum Ziele treffen konnte. Mit dem kleinen Nachbarstaat Megara gab es jederzeit Anlaß zu Streitigkeiten. Die Megarer wurden beschuldigt, Land okkupiert zu haben, das den Göttinnen von Eleusis gehörte; ihre Bauern ließen sich auf den attischen Märkten Zolldefraudationen zuschulden kommen, sie gewährten entlaufenen Sklaven Zuflucht. Damit motivierte Perikles den Antrag, den Megarern das Betreten aller Häfen des Reiches und des attischen Marktes zu verbieten. Das widersprach [16] dem Vertrage von 446, der den Verkehr ausdrücklich freigab und in Streitfällen die Selbsthilfe verbot und ein Schiedsgericht vorschrieb. Aber Korinth hatte die Vertragsbestimmungen bereits gebrochen; so durfte auch Athen sich über dieselben hinwegsetzen. Positiven Gewinn konnte der Beschluß den Athenern nicht bringen, und ein äußerer Anlaß, gerade jetzt mit einer so exorbitanten Maßregel gegen Megara vorzugehen, lag nicht vor. So tritt mit voller Deutlichkeit zutage, daß Perikles den Antrag durchgesetzt hat, nicht um auf Megara, sondern um auf die Peloponnesier zu wirken. Noch ehe sie eine Forderung an Athen gestellt hatten, sollte ihnen die Antwort werden, die sie begehrten. Auch sie sollten den Ernst der Lage zu fühlen bekommen und klar erkennen, daß Athen keinen Schritt zurückweichen werde, sondern unbekümmert um ihre Drohungen und um die Kriegsgefahr den Weg gehe, den seine Interessen und seine Stellung als ebenbürtige Großmacht ihm geboten. Aristophanes nennt den Beschluß »den kleinen Funken«, durch den Perikles den gewaltigen Krieg entzündet habe. Das ist die populäre Auffassung, welche das Symptom für die Ursache nimmt. Aber allerdings hat Perikles dadurch ein weiteres Streitobjekt geschaffen, das die Situation grell beleuchtet und von den Feinden aufgegriffen wurde, nicht als Kriegsgrund, wohl aber nach dem Entschluß zum Kriege als Vorwand für die letzten diplomatischen Verhandlungen; da gab er Athen die Gelegenheit, die unerschütterliche Festigkeit seines Standpunktes klar zu erweisen; und so hat sich an ihm der glimmende Brand, der schon nicht mehr zu löschen war, zu hellodernder Flamme entzündet17.

[17] Währenddessen drängten die Korinther in Sparta zur Entscheidung. Die spartanische Regierung hatte allerdings offenbar auch jetzt so wenig wie sonst Neigung zu einem großen Krieg, trotz des Kampfeseifers der Jugend und trotz der Versprechungen, die sie Potidäa gegeben hatte. Aber Korinth stellte ihr geradezu ein Ultimatum. Was nützte es Korinth, Spartas Hegemonie anzuerkennen, wenn Sparta es nicht schützte, wo seine vitalsten Interessen verletzt waren. Von Anfang an hätte man dem Emporkommen Athens mit voller Energie entgegentreten sollen; aber immer hatte Sparta versagt, und so hatte man den Gegner selbst großgezogen. Daß mit Athen nicht auszukommen war, trotz redlichsten Bemühens, den Frieden zu halten, hatten die letzten Jahre schlagend erwiesen; immer aufs neue erlaubte es sich Übergriffe. Wenn Sparta auch jetzt noch an seiner traditionellen Bedächtigkeit festhielt, zu Athens Gewalttaten schwieg und sie ruhig hinnahm, so abdizierte es damit definitiv und gab den offenkundigen Beweis seiner politischen Ohnmacht. So stellte Korinth die peremptorische Forderung, die Bundesgenossen zusammenzurufen und mit dem Gesamtaufgebot der Peloponnesier in Attika einzufallen, um dadurch Potidäa zu befreien. Sonst bleibe ihm nichts übrig, als Sparta aufzukündigen und anderswo Hilfe zu suchen, d.h. sich an Argos zu wenden.

Mit den Beschwerden Korinths verbanden sich die vieler anderer Gemeinden des Peloponnes, die sich von Athen bedrängt und geschädigt fühlten; auch Ägina beschwerte sich insgeheim, daß Athen seine vertragsmäßig gewährleistete Autonomie nicht achte. Vor allem aber erhoben die Megarer laute Klage über Athens rücksichtsloses Vorgehen. Den Ausschlag gaben die Erklärungen Korinths. In der entscheidenden Volksversammlung in Sparta wurden freilich auch andere Stimmen laut; der alte Archidamos, der bereits [18] den ganzen vorigen Krieg und die Nöte des Helotenaufstandes als König durchlebt hatte, warnte vor übereiltem Vorgehen, vor der Illusion, man könne durch den Krieg rasch und sicher zum Ziel gelangen: Athen empfindlich zu treffen, sei für die Landmacht äußerst schwierig; an materiellen Mitteln sei es den Peloponnesiern weitaus überlegen. Sparta sei stark genug, um auch jetzt an seiner besonnenen Politik festhalten zu können. Gewiß müsse man für die verletzten Interessen Korinths und der übrigen Bundesgenossen eintreten; aber man solle versuchen, durch Verhandlungen zum Ziel zu gelangen, und wenn Athen ein Schiedsgericht vorschlage, das nicht abweisen. Inzwischen könne man rüsten und vor allem die unentbehrlichen Geldmittel beschaffen, auch Allianzen schließen, und alsdann, wenn Athen nicht nachgebe, in zwei bis drei Jahren, besser vorbereitet als gegenwärtig, den Krieg beginnen. Aber für solche Bedenken und Ratschläge war es zu spät; die Entscheidung war tatsächlich für Sparta ebensogut vorweggenommen wie für Athen. Wenn es seine Stellung in der griechischen Welt behaupten wollte, hatte es keine Wahl mehr. So entschied, nachdem der Ephor Sthenelaidas die Frage scharf formuliert hatte, die Volksversammlung mit großer Majorität, daß Athen den Vertrag gebrochen habe. Darauf wurde eine Bundesversammlung berufen, und auch diese, von den Korinthern eifrig bearbeitet, stimmte dem Kriegsbeschluß zu. Zugleich holte Sparta einen Spruch aus Delphi ein, der ihm göttlichen Beistand und Sieg verhieß, wenn es den Krieg mit aller Energie führe.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 4/2, S. 15-19.
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