Die Anfänge des chetitischen Reichs

[24] Auch das Reich der Amoriter hat die von Chammurapi errungene Machthöhe nicht lange behaupten können. Schon sein Sohn Samsuiluna hat aufs neue mit einem Rivalen Rimsin zu kämpfen, wahrscheinlich einem Prätendenten, der als Nachkomme des von Chammurapi besiegten Rimsin von Larsa auftrat und dessen Reich wieder herzustellen versuchte. Gleichzeitig entsteht im Sünden ein Reich des »Meerlandes« (die sog. zweite Dynastie), das sich dauernd behauptet hat38. Unter den folgenden Königen setzen sich diese Kämpfe fort; da werden sich auch die Vasallen im Norden wieder unabhängig gemacht haben.

In diese Zeit, etwa seit 1900, fallen die Anfänge eines chetitischen Reichs. Sein ältester Mittelpunkt ist die, auch in den »kappadokischen« Texten gelegentlich vorkommende, [24] Stadt Kussar, deren Lage noch nicht ermittelt ist. Der erste König von Kussar, von dem wir Kunde haben, ist Anitta, Sohn des Bidchâna, der in einer großen Inschrift von seinen Taten berichtet; er hat u.a. auch mit Bijustis, »König von Chatti« – mit der Hauptstadt Chattusas, d.i. Boghazkiöi – gekämpft, das eigentliche Chetiterland also nicht beherrscht39. Wesentlich erweitert ist das Reich durch Tabarna40, der zahlreiche Orte in Kappadokien unterworfen hat, darunter Chubisna und Barsuchanta sowie Tyana (Tûwanua) in dem fruchtbaren Tal am Taurus am Rand der westlichen Steppe41. Er hat den Titel »Großkönig« angenommen und damit sein Reich als eine unabhängige ebenbürtige Macht neben das Reich von Babel gestellt. Daher ist er als der eigentliche Begründer des Reiches betrachtet worden: sein Name wird in der Folgezeit vielfach titular als Bezeichnung des Herrschers verwendet42. Unter seinem zweiten Nachfolger Mursilis I. ist [25] dann die Residenz nach der Stadt Chattusas, d.i. Boghazkiöi, verlegt; damit ist der Chetitername die offizielle Bezeichnung des Reichs geworden. Von Mursilis erfahren wir, daß er zuerst die Stadt Chalpa (Aleppo), damals Sitz eines Großkönigtums43, dann Babel erobert und ausgeplündert, die Beute nach Chattusas fortgeschleppt hat. Dieser Kriegszug ist offenbar identisch mit der Angabe einer babylonischen Chronik, daß unter Samsuditana, dem letzten König der amoritischen Dynastie von Babel (1780-1750), die Chetiter gegen das Land Akkad zogen (Bd. I, 454). Damit ist ein festes Datum gewonnen; wir haben Mursilis I. um 1750, Tabarna um 1800 anzusetzen, die ältesten chetitischen Könige, die wir kennen, fallen ins 19. Jahrhundert.

Zugleich gewinnen wir dadurch einen Einblick in die großen Umwälzungen, die in dieser Epoche eingetreten sind. In Kleinasien haben die Chetiter die Suprematie der Assyrer und des Reichs von Babel abgeschüttelt und ein selbständiges Großreich begründet, und jetzt wenden sie sich gegen die zentralen Kulturgebiete, zunächst gegen Syrien, wo die große Handelsstadt Aleppo ihnen zur Beute fällt, dann gegen Babel selbst. Auch mit den Charriern hat Mursilis Krieg geführt. In diesen Kämpfen ist das Amoriterreich zugrunde gegangen, und Babylonien verliert endgültig die Vormachtstellung, die ihm Chammurapi und seine Dynastie noch einmal wiedergewonnen hatte. Im Süden behauptet sich die ohnmächtige Dynastie [26] des Meerlandes, über den Norden Sinears und Babel selbst dagegen gewinnen die Kossaeer die Herrschaft; ihr Häuptling Gandaš gründet das Reich von Karduniaš (Bd. I, 457. 460). Auch die Erfolge, die etwa um dieselbe Zeit Samsiadad von Assur – wahrscheinlich der zweite Herrscher dieses Namens – um 1720 v. Chr.44 errungen hat, sind nicht von Dauer gewesen. Er hat »das Land zwischen Tigris und Euphrat bezwungen«, in Tirqa, der Hauptstadt des kleinen Reichs Chana, in der Nähe der Chaborasmündung (Bd. I, 433), deren Gott Dagan einen Tempel gebaut, »den Tribut des Königs von Tukris und des Königs des oberen Landes in Assur entgegengenommen und Stelen mit seinem Namen im Lande Lab'an am Gestade des großen Meeres aufgerichtet« (Bd. I, 464). Somit scheint es, daß seine Vormacht sich zeitweilig bis ans Schwarze Meer erstreckt hat und auch der Chetiterkönig – falls das für ihn vermutete Datum richtig ist, in der Zeit des Rückganges ihrer Macht unter den Nachfolgern des Mursilis – ihm gehuldigt hat. Samsiadad hat den Titel eines »Königs der Welt« (sar kissati) angenommen, neben dem die bis dahin in Assur üblichen religiösen Titel, auch der eines Patesi, zurückgedrängt werden; daher nennt er auch gegen allen sonstigen Brauch in seinen Inschriften seinen Vater nicht, wohl aber rühmt er, daß »Anu und Ellil seinen Namen über die Könige vor ihm zu großen Dingen berufen haben«. Er preist den Wohlstand und die billigen Preise, die in Assur bestanden, als er hier den Tempel des Assur erbaute. Aber nach ihm findet sich von dieser assyrischen Großmacht nichts mehr, seine Nachfolger begnügen sich jahrhundertelang wieder mit dem Titel eines Patesi von Assur.

Auch die Macht der Chetiter hat, wie schon angedeutet, keinen Bestand gehabt. Nach der Ermordung des Mursilis durch seine Magnaten erfahren wir durch den nur mit großen Lücken erhaltenen Bericht seines fünften Nachfolgers Telibinus von wiederholten Usurpationen und Thronstreitigkeiten; [27] daneben werden Kriegszüge gegen Karkemiš in Nordsyrien, gegen Togarma (Tagarama) im östlichen Kappadokien, gegen Arzawija in der Ebene Kilikiens erwähnt. Offenbar ist das Reich im wesentlichen auf die Lande nördlich vom Taurus beschränkt geblieben und wird auch hier durch die inneren Wirren und durch Aufstände erschüttert worden sein. Erst Mursilis' vierter Nachfolger, Chuzzija45, hat wieder Ordnung geschaffen und unter den unbotmäßigen Hofbeamten aufgeräumt. Sein Nachfolger ist sein Schwager Telibinus, der als Einleitung zu einer festen Ordnung der Thronfolge und der Reichsverfassung den dieser Darstellung zu grunde liegenden ausführlichen Bericht über die Schicksale seiner Vorgänger gegeben hat. Er befiehlt seinem Nachfolger, zwar jeden »Königssohn«, der ein Verbrechen begeht, rücksichtslos hinrichten zu lassen, aber ihre Angehörigen und Diener zu verschonen – eine zugleich streng rechtliche und humane Auffassung, wie sie bei den Chetitern immer wieder hervortritt. Eine Anzahl hoher Beamten, offenbar die Hauptstützen seiner Regierung, soll dagegen nicht angetastet werden. Wir werden Telibinus etwa um 1650 anzusetzen haben; mit ihm bricht unsere Kunde ab, selbst die Namen der Könige sind uns für einen Zeitraum von etwa zwei Jahrhunderten bisher so gut wie unbekannt geblieben46.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 24-28.
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