Die Sprachen und Volksstämme Kleinasiens

[3] Das 18. und 17. Jahrhundert ist in der Geschichte des vorderen Orients eine Epoche großer Völkerbewegungen, in denen die bisherige Gestaltung der Staatenwelt durch das Auftreten neuer Volksstämme schwer erschüttert und vielfach von Grund aus umgewandelt worden ist. Schon früher zeigten einzelne Spuren, daß dabei der Einbruch indogermanischer Volksstämme eine Hauptrolle gespielt hat (Bd. I, 455f., 465, 468); die Entdeckungen des letzten Jahrzehnts lassen immer deutlicher erkennen, daß der entscheidende Anstoß von diesen ausgegangen ist2.

Die Grundlage der neuen Erkenntnis ist durch die Erschließung der gewaltigen Masse von Urkunden und literarischen Texten geschaffen worden, welche das Archiv von Boghazkiöi, im Inneren des späteren Kappadokiens, der Hauptstadt des großen Chetiterreichs des 14. und 13. Jahrhunderts, bewahrt hat. Geschrieben sind diese Schriftstücke sämtlich in babylonischer Keilschrift und bieten daher der Lesung wenig Schwierigkeiten. Dadurch, daß sie zahlreiche babylonische (sumerische und akkadische) Ideogramme verwenden, vor allem gerade für die geläufigsten Worte, ist die Erschließung des Inhalts wesentlich gefördert worden, so daß jetzt, so viel auch noch im einzelnen zu tun bleibt, doch das allgemeine Verständnis der Texte und auch ein Einblick in [3] den Bau der Sprachen wenigstens in den Grundzügen gewonnen ist. Es ist aber nicht nur eine Sprache, die wir hier kennen lernen, sondern eine ganze Anzahl; und mit einem Überblick dieser neuerschlossenen Sprachen und Volkstümer müssen wir daher beginnen.

Die Sprache des chetitischen Großreichs hat sich, so fremdartig sie auf den ersten Blick erschien, dennoch, wie zuerst FR. HROZNÝ im Jahre 1915 erkannt hat3, ihrem grammatischen Bau nach als eine indogermanische erwiesen. Aber daneben enthält sie viele ganz fremdartige Elemente, vor allem im Wortschatz – dieser Eindruck wird noch dadurch gesteigert, daß gerade die wichtigsten Worte, wie Vater, Sohn, Gott, die Zahlwörter u.a., immer nur ideographisch geschrieben sind, wir also ihre Aussprache nicht kennen –; diese Sprachmischung beweist, daß hier ein indogermanischer Stamm erobernd eingedrungen sein muß, der dann in seiner Sprache sowohl lexikalisch wie auch grammatisch von der älteren Bevölkerung eine tiefgreifende Einwirkung erfahren hat.

Weiter aber hat sich gezeigt, daß dieser Hauptsprache der Name »chetitisch« gar nicht zukommt; unter diesem Namen (Chatti, mit Suffix chattili) erscheint vielmehr in den Texten eine ganz andere Sprache, von der gleichfalls zahlreiche Proben vorliegen. Die Sprache des herrschenden Volkes dagegen wird in einem Ritualtext einmal mit našili (»nasisch«) bezeichnet; danach hat FORRER vermutet, sie sei korrekter [4] kanisisch (Sprache der Stadt Kanis) zu nennen4. Gesichert ist das freilich keineswegs, und der Chetitername, den Reich und Volk sowohl bei den Fremden, mit denen sie in Berührung gekommen sind, Ägyptern, Babyloniern, Assyrern, wie in den einheimischen Texten durchweg führen, wird sich auch in der Beziehung ihrer Sprache nicht vermeiden lassen; so ist es wohl das ratsamste, die ältere, einheimische Sprache als protochattisch zu benennen.

Im Protochattischen sind außer religiösen Kultformeln mehrere größere Texte, Götterlegenden und Gesänge, erhalten, zum Teil mit »chetitischer« Übersetzung. Vom Indogermanischen ist es völlig verschieden. Im Sprachbau ist es vor allem dadurch charakterisiert, daß die grammatischen Beziehungen größtenteils durch Präfixe ausgedrückt werden. Sichere Beziehungen zu anderen Sprachstämmen sind bis jetzt nicht nachgewiesen.

Neben 1. dein Protochattischen und 2. dem »Chetitischen« (Kanisischen) erscheinen in den Texten aus Boghazkiöi noch drei weitere Sprachen5, deren Namen da, wo in ihnen abgefaßte religiöse Formeln, Anrufungen und Beschwörungen im Kultus verwendet werden, ausdrücklich genannt sind. Es sind:

3. Das Charrische (charli-li), die Sprache des Volkes, das [5] unter dem Namen Charri6 mehrfach schon in den früher bekannten Texten vorkam (Bd. I, 455 A. 465). Die damals angenommene Deutung als Arier hat sich jetzt als völlig unmöglich erwiesen. Ihre Sprache, in der Bruchstücke von mehreren umfangreichen Texten religiösen Inhalts vorliegen, ist vielmehr mit der Mitanischen im nördlichen Mesopotamien und Nordsyrien nahezu identisch, und Charrier ist der auch in den Urkunden und geschichtlichen Berichten häufig verwendete Name der Bevölkerung dieser Gebiete7, deren Einwirkungen auch in Assyrien im somatischen Typus und in den Namen der ältesten Könige (Bd. I, 433 a. 463) stark hervortreten8.

4. Das Balaische (balaumni-li), das für die Rezitation von Weihsprüchen mehrfach erwähnt wird, von dem jedoch sichere Überreste bis jetzt nicht gefunden sind, so daß sich weder über seinen sprachlichen Charakter noch über das Gebiet, dem es angehört, etwas Bestimmtes aussagen läßt.

5. Eine weitere wiederholt zu Beschwörungen verwendete Sprache ist das Luwische (luwi-li), das sich, soweit man bisher sehn kann, vom »Chetitischen« nur dialektisch zu unterscheiden scheint. Auch da sind noch weitere Aufklärungen zu erwarten. Es scheint vor allem ins spätere Kilikien zu gehören; der hier heimische Gott Sandon (Bd. I, 484) erscheint in luwischen Texten in der Form Santas, der Gott Tarchu oder Tarqu (Bd. I, 476) als Tarchundas.

[6] Weitere früher schon bekannte Sprachen dieser Gebiete sind im Osten in den armenischen Gebirgen das Alarodische oder Chaldische (Bd. I, 475) und weiter die zahlreichen Sprachen des Kaukasus, unter denen nur das Georgische (Iberische) über ein größeres Gebiet verbreitet ist; im westlichen Kleinasien das Lydische, in das uns jetzt Inschriften aus Sardes einigen Einblick gewähren9, das Karische, von dem uns nur wenige Wörter erhalten sind, und das Lykische. Damit ist aber der Sprachbestand des alten Kleinasiens noch in keiner Weise erschöpft10; so ist im Norden nach Strabos Zeugnis das Paphlagonische eine gesonderte Sprache11, und im Süden treten die Gebirgsstämme von Pisidien nebst den Solymern und andrerseits die Kiliker in ihren Eigennamen als scharf gesonderte Gruppen hervor. Dazu kommt die neuerdings durch einige Inschriften aus Amathus bekannt gewordene Sprache der Urbevölkerung von Cypern12, und endlich im Osten Kretas das Eteokretische der Inschriften von Praisos (Bd. I, 505).

So bietet das alte Kleinasien sprachlich ein buntes Bild. Es ist ein Zustand, wie wir ihn, im Gegensatz zu der erst im Verlauf der geschichtlichen Vorgänge sich vollziehenden Ausbreitung einiger weniger Sprachstämme über Ländermassen von gewaltigem Umfang13, in primitiven und von dem großen [7] Gang des historischen Lebens wenig oder garnicht berührten Gebieten fast überall vorfinden: auf engem Raum stoßen zahlreiche Sprachen oft von ganz verschiedenem Bau hart aneinander, bis dann vielleicht einer dieser Stämme die anderen unterwirft und damit auch seine Sprache die Herrschaft gewinnt. Der gleiche Zustand herrscht auch weiter östlich bei den nichtarischen Stämmen Mediens und der Randgebirge Irans bis zu den Völkerschaften Elams und den Sumerern hinab, zwischen die sich dann von West und Süd seit alters die aufeinanderfolgenden Schichten der Semiten, später von Osten her die iranischen Arier eingedrängt haben. Verschiebungen und Invasionen fremder Volksstämme werden wie in den geschichtlich erkennbaren Epochen so auch vorher oft genug vorgekommen sein; aber sichere Ergebnisse lassen sich hier nur in den seltenen Fällen erzielen, wo, wie bei den indogermanischen Chetitern, die Sprache einen festen Anhalt gibt. Im übrigen ist nie zu vergessen, daß solche Vorgänge sich, wo auch unsere geschichtliche Kunde zuerst einsetzen mag, auch vorher schon immer von neuem abgespielt haben und daß sich daher die Hypothesen hier schließlich ins Unendliche[8] und in Gebiete verlieren, auf denen eine geschichtlich verwertbare Erkenntnis unmöglich ist.

Andrerseits hat es auch in Kleinasien nicht an gegenseitigen Beeinflussungen und Sprachmischungen gefehlt. Darauf wird es zurückgehn, daß, im Gegensatz zu den in den Personennamen stark hervortretenden Unterschieden der Einzelgebiete14, die Bildung von Ortsnamen und Gebirgsnamen auf -nda und -ndos (in Griechenland -nthos und -nth ohne Endvokal) und auf -assos und -issos über das gesamte kleinasiatische Gebiet einschließlich der ägaeischen Welt und des griechischen Festlandes verbreitet ist (Bd. I, 476). Welcher der verschiedenen Sprachen diese Bildungen ursprünglich angehören, hat sich bisher nicht ermitteln lassen; es ist sehr wohl möglich, daß in ihnen ebenso wie dann in der Ausbreitung der griechischen und in der Neuzeit der türkischen Ortsnamen oder in der der keltischen in Gallien und Britannien, Spanien, Norditalien und Oberdeutschland die Nachwirkung politischer Vorgänge sich erhalten hat. Auch auf religiösem Gebiet tritt dieser über die einzelnen Volkstümer hinausgreifende Zusammenhang klar hervor; er gestattet, die kleinasiatische Religion, einschließlich Kretas, in ihren Grundanschauungen geradezu als Einheit zu betrachten (Bd. I, 477ff.), und manche Götternamen, wie Tešub, Tarku, vielleicht auch Attis u.a., finden wir als Hauptgötter über weite Gebiete verbreitet, bei den Chetitern, Kilikern, Charriern (Mitani), Alarodiern, Tarku auch im ganzen Südwesten (Bd. I, 476), ohne [9] daß sich feststellen ließe, bei welchem dieser Volksstämme sie ursprünglich heimisch gewesen sind.

Anthropologisch bildet der ganze Osten Kleinasiens, über alle sprachlichen Unterschiede hinweg, ein einheitliches Gebiet mit einem scharf ausgeprägten, von allen anderen gesonderten Rassentypus. Ganz anschaulich und naturgetreu tritt er uns in den ägyptischen Darstellungen der Chetiter aus den Kriegen der neunzehnten Dynastie entgegen: ein kurzer, hyperbrachykephaler Schädel mit abgeplattetem Hinterkopf, stark zurückweichender Stirn, vorspringender, leicht gekrümmter Nase, kleinem Mund und Kinn und etwas verkniffenen Gesichtszügen. Damit stimmen die einheimischen Skulpturen überein, wenn sie auch die charakteristischen Züge nicht so prägnant und lebendig wiederzugeben vermögen wie die ägyptischen Künstler. Dieser Typus hat sich, untermischt mit anderen Gestalten, in Kleinasien und Armenien bis auf den heutigen Tag weithin erhalten und hat auch die Bevölkerung Nordsyriens und Assyriens stark beeinflußt (Bd. I, 331, 476). Neben der vollen Übereinstimmung in der Körperbildung bestehn in der Tracht der »chetitischen« Stämme charakteristische Unterschiede. Bartlos sind sie alle, so gut wie die Sumerer, im Gegensatz zu den Amoritern, den Assyrern und den übrigen Semiten, aber die Haartracht ist verschieden: neben den Kriegern mit langem Haar, das in zwei Strähnen auf den Schultern liegt, steht eine andere Gruppe, die das Haupthaar bis auf einen vom Hinterkopf herabhängenden Zopf abrasiert hat. Dem entspricht, daß in diesen beiden Gruppen auch der Schild und der Kriegswagen verschiedene Gestalt haben. Auch die einheimischen Skulpturen zeigen den gleichen Unterschied, und zwar bereits die primitiven Siegelzylinder aus der assyrischen Ansiedlung vom Kültepe15. Wie sprachlich hat sich also die somatisch einheitliche Bevölkerung [10] des Hochlandgebietes in Gruppen gespalten, die ihre Eigenart in der Behandlung des Haupthaars lange Zeiträume hindurch eben so zäh festgehalten haben wie z.B. die Semiten.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 3-11.
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