Die indogermanischen Chetiter

[20] In diese Welt ist nun mit der indogermanischen Schicht der Chetiter ein weiteres Volkselement eingetreten. Über Zeit und Verlauf ihres Eindringens besitzen wir keinerlei Kunde; immerhin gestattet aber der eigenartige Charakter, den ihre Sprache trägt, darüber wenigstens einige Vermutungen. Diese Chetiter sind der erste Zweig der Indogermanen, der in die Geschichte eingetreten ist; aber während alle anderen indogermanischen Sprachen in der Gestalt, in der sie uns geschichtlich zuerst entgegentreten, einander und daher auch der rekonstruierten Ursprache – die natürlich immer schon [20] in Dialekte gespalten war – geradezu überraschend nahe stehn30 und ebenso die Beschreibungen ihrer körperlichen Erscheinung, wo solche vorliegen, überall den gleichen somatischen Typus zeigen31, ist diese am frühesten bezeugte Sprache so stark mit fremden Elementen durchsetzt, daß ihr indogermanischer Charakter nur mit Mühe erkannt werden konnte und zunächst vielfach bestritten wurde. Erhalten hat er sich – neben Neubildungen – in der Flexion der Nomina und Verba, im Pronomen, in manchen Partikeln und in einem Teil des Wortschatzes. Aber daneben stehn so viele nichtindogermanische und offenbar aus den einheimischen Sprachen übernommene Wörter, daß die Texte als Ganzes einen durchaus fremdartigen Eindruck erzeugen; auch der Satzbau, in dem sich die Denkweise der Sprache offenbart, mutet keineswegs indogermanisch an. Das gleiche gilt von der äußeren Erscheinung; alle Darstellungen von Chetitern aus der Zeit ihres Großreichs, sowohl die ägyptischen wie die einheimischen, zeigten den echten »kleinasiatischen« Typus (o. S. 10), dagegen keine Spur indogermanischer Beimischung.

Daraus werden wir folgern dürfen, daß die Invasion schon in früher Zeit erfolgt ist, spätestens etwa um die [21] Mitte des 3. Jahrtausends, und weiter, daß die Schicht der eindringenden Eroberer nur dünn gewesen sein kann, etwa wie die der Galater in Phrygien, der Germanen in den Provinzen des Römerreichs, der Normannen in Rußland, der Normandie, England, Sicilien, Palaestina, aber nicht eine Masseneinwanderung wie die der Slawen auf der Balkanhalbinsel oder der Phryger und Armenier in Kleinasien, und die der Araber und dann die der Türken im Khalifenreich. In allen diesen Fällen überrennt, wie bei der Invasion der »Indoskythen«, der Hunnen, der Mongolen, der einbrechende Kriegerstamm die seßhafte, durch die Plötzlichkeit des Angriffs überraschte Bevölkerung; eine Überlegenheit der Bewaffnung, die Metallwaffen der Bronzezeit im Gegensatz zu den mit Steinspitzen versehenen Lanzen aus Rohrschäften der Einheimischen, scheint hinzugekommen zu sein32, und weiter die Verwendung des mit Rossen bespannten Streitwagens. Die Eindringlinge haben weite Gebiete unterworfen – daher scheidet sich ihre Sprache in zwei Dialekte, das Kanisisch-chetitische und das Luwische33 – und die Herrschaft behauptet; aber physisch haben sie (wie die Magyaren [22] in Ungarn, die Osmanen in Kleinasien) durch die Mischung mit der einheimischen Bevölkerung deren Typus angenommen, und sowohl sprachlich wie kulturell, vor allem auch auf religiösem Gebiet, die stärkste Einwirkung von diesen erfahren. Daher ist dann auch der alteinheimische Chetitername auf ihr Reich und Volk und ihre Hauptstadt übergegangen.

Soweit sich bis jetzt erkennen läßt, gehört das Chetitische dem westlichen Zweige der Indogermanen, den Kentumsprachen, an. Daß sie in derselben Weise, wie später die Kimmerier, über den Kaukasus gekommen sind, wird man kaum bezweifeln können, da sie sich sonst gewiß in den reichen Ebenen des Westens angesiedelt haben würden. Sie haben das Pferd und den Wagen nebst den Rennspielen mitgebracht, die dem alten Orient fremd, dagegen bei allen Indogermanen altererbt sind. Einen mit vier Pferden bespannten Wagen, auf dem der Lenker sitzt, treffen wir bereits auf den »kappadokischen« Tontafeln in Abdrücken ganz primitiver Siegelzylinder offenbar einheimischer Arbeit; und im Kültepe haben sich kleine mit Zaumzeug geschirrte Pferdeköpfe aus Ton gefunden34. Aus Ägypten stammt ein leichtgebauter Wagen altertümlicher Konstruktion, der aus Ulmen- und Eschenholz gearbeitet ist; die Nabe ist mit den Speichen durch Birkenbast verbunden, das vordere Ende der Deichsel damit umwickelt35. Ägyptische Arbeit ist dieser Wagen nicht; da die Birke über das südöstliche Europa und das Kaukasusgebiet [23] nicht hinausreicht, wird er von den Chetitern bezogen sein und man in ihm einen Beleg für deren Herkunft erblicken dürfen.

Diese Erwägungen führen zu der Annahme, daß die indogermanischen Chetiter zur Zeit der assyrischen Geschäftsurkunden bereits in den Ortschaften Kappadokiens, so vor allem in Kanis, gesessen haben36. Auch von Chammurapi werden sie abhängig gewesen sein. Die Einwirkung dieses Reichs tritt darin hervor, daß, als die Stämme des Chattilandes begannen, die Keilschrift zur Schreibung ihrer Sprache zu verwenden, sie nicht die Schriftformen der »kappadokischen« Tontafeln übernommen haben, sondern die unter der ersten Dynastie von Babel gebräuchlichen37; durch möglichste Ausscheidung der Mehrdeutigkeit der Lautzeichen ist sie dabei wesentlich vereinfacht worden.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 20-24.
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