Die Minossage und die Beziehungen zum Ausland. Die Inselwelt und der Westen. Der Diskus von Phaestos und die Philister

[212] Schon in der Kamareszeit hat Kreta auf die Kykladen und das griechische Festland eingewirkt; Kamaresgefäße und einheimische Nachahmungen derselben finden sich hier vielfach, so auch auf Ägina und in den Schachtgräbern von Mykene. Mit dem Wandel des Kunststils setzt dann zugleich ein mächtiger Aufschwung der kulturellen und kommerziellen und offenbar auch der politischen Stellung Kretas ein. Die regen Beziehungen zu Ägypten haben wir bereits kennen gelernt; die Inselwelt im Norden aber und die südlichen und östlichen Landschaften Griechenlands werden geradezu eine Dependenz der kretischen Kultur.

Die griechische Sage berichtet von einem mächtigen König Minos von Knossos, der die See weithin beherrschte. Man erzählte von seinen Kriegszügen nach Griechenland, gegen Athen, das ihm einen Tribut von vierzehn Knaben und Mädchen zum Opfer für einen menschenfressenden Stier, den Minotauros, leisten muß413, gegen Megara, wo er sich auf [212] dem nach ihm benannten Hügel Minoa neben dem Hafenort Nisaea festsetzt414. Er steht in regem Verkehr mit Zeus, von dem er die Rechtsordnung erhält, die auf der Insel herrscht. Neben ihm steht Daidalos, der Vertreter und Ahnherr der Künstler – die Ilias kennt von ihm einen Reigentanz, den er in Knossos für Ariadne gearbeitet habe –, dem auch die Erbauung des Labyrinths zugeschrieben wird. Dann aber entflieht er mit Flügeln, die er sich anfertigt, zu den Sikanern auf Sicilien und findet hier beim König Kokalos von Kamikos gastliche Aufnahme. Minos, der ihm mit seinem Heere nachzieht, wird hier im Kampfe erschlagen415.

Politische und ethnographische Fragen kennt die Volkssage nicht; ihr Interesse haftet ausschließlich an der glanzvollen Persönlichkeit und ihren außerordentlichen Schicksalen. So ist Minos von Knossos für sie einfach der Repräsentant Kretas und seiner Macht in der Urzeit, und das Epos macht daher die griechischen (achaeischen) Fürsten Kretas, von denen es erzählt, zu seinen Nachkommen und spinnt die Genealogie durch Hineinziehung zahlreicher, teils mythischer, teils ethnographischer Gestalten immer weiter aus416. Dieser Vorgang hat sich nochmals wiederholt, als [213] dann die Dorier sich auf der Insel festsetzten: sie haben die Gestalt des Minos übernommen und betrachten ihn als den Urheber ihrer eigenen staatlichen und rechtlichen Ordnungen. Diese Traditionen hat dann die beginnende historische Forschung, als sie ein geschichtliches Bild der Urzeit zu gewinnen unternahm, verarbeitet und mit den sonst erkennbaren Tatsachen auszugleichen versucht. So ist das Bild entstanden, das Herodot von der ältesten Geschichte Kretas entworfen hat. »Ehemals«, zur Zeit des Minos, »war ganz Kreta von Barbaren bewohnt«; ein Teil der Bevölkerung, der seinem Bruder Sarpedon anhing, ist von Minos verjagt worden und nach Milyas in Asien, dem Lande der Solymer, hinübergezogen; das sind die Termilen, die später den Namen Lykier erhalten haben. Minos hat weite Gebiete unterworfen und die See beherrscht; die auf den Kykladen sitzenden Karer – damals Leleger genannt – füllten seine Schiffe417. Nach seinem Untergang bei den Sikanern zieht sein ganzes Volk ihm nach, um ihn zu rächen; nach mancherlei Schicksalen werden sie nach der östlichen Halbinsel Unteritaliens verschlagen und siedeln sich hier an; sie werden zu den [214] Messapiern Japygiens. Auf Kreta sind nur die Bewohner von Polichne und Praisos im äußersten Osten zurückgeblieben – die späteren Eteokreter –; so wird die menschenleere Insel von anderen Volksstämmen, darunter vor allem Hellenen, in Besitz genommen418. Diese nehmen eifrig am troischen Krieg teil, werden aber nach der Rückkehr durch Krankheit und Hunger aufgerieben, so daß die nochmals verödete Insel nunmehr von den jetzigen Kretern – das sind natürlich die Dorier – besiedelt werden kann.

Diese ganze Darstellung ist deutlich nicht Überlieferung – wenn sie sich auch auf Angaben der Praisier beruft und ebenso für die Lykier eine sachlich richtige Tradition benutzt –, sondern Konstruktion; es ist ein Versuch, die Bevölkerungsgeschichte Kretas klarzulegen und die Angaben des Epos darin einzufügen. Aber offenbar hat sie das richtige getroffen: Minos ist ursprünglich nicht der Ahnherr der griechischen Fürsten Kretas, die vor Troja mitkämpfen – dazu hat [215] ihn erst das Epos gemacht419 –, sondern der Repräsentant des vorgriechischen Kreta, seiner Macht und seiner Kultur. Ob er eine geschichtliche Persönlichkeit gewesen ist, läßt sich hier sowenig erkennen wie bei so vielen anderen Gestalten der Sage, da, anders als bei der germanischen Sage, alle gleichzeitige und vollends urkundliche Überlieferung völlig fehlt. Aber das Bild, das die Sage bewahrt, ist in den Grundzügen durchaus zutreffend; daß die Überlieferung wohl Raubzüge nach dem griechischen Festlande kennt, aber von einer Herrschaft des Minos über dasselbe nichts weiß, erhöht noch ihren Wert und bestätigt ihre Zuverlässigkeit in geradezu überraschender Weise.

Daß Kreta die Inseln weithin beherrscht hat, wird dadurch bestätigt, daß vor allem Melos und seine Hauptstadt Phylakopi und ebenso Thera nach Ausweis der Funde ganz unter kretischem Einfluß stehn. Auch daß die Bevölkerung hier damals karisch war, wird zutreffend sein420. Von anderen [216] Volksstämmen der Welt des Ägaeischen Meeres421 erfordert an dieser Stelle nur derjenige eine Erwähnung, von dem das vielleicht eigenartigste Fundstück aus dieser Epoche stammt, ein Diskus von Ton, der sich zusammen mit Gefäßen und Schrifttafeln aus dem Beginn der kretischen Neuzeit im Palast von Phaestos gefunden hat. Er ist auf beiden Seiten mit Schriftzeichen bedeckt, die mit einem, vermutlich hölzernen, Stempel eingedrückt sind. Die Schrift läuft spiralförmig von rechts nach links und vom Rande nach der Mitte; die Wörter sind durch senkrechte Striche abgetrennt, die ebenso wie die Trennungslinien der Zeilen mit einem Griffel eingeritzt sind: dem Schlußzeichen eines Wortes ist nicht selten ein schräger Strich angefügt. Das wird Vokallosigkeit bezeichnen; die Schrift ist deutlich eine Silbenschrift ähnlich der akkadischen, auch hier verbunden mit ideographischen Zeichen. Die Schrift ist rein hieroglyphisch, aber von der altkretischen (piktographischen) so gut wie von der ägyptischen und der chetitischen durchaus verschieden; daß einzelne Zeichen, wie Baum und Rosette, sich berühren, ist natürlich und nichts beweisend. Die erste Gruppe der Vorderseite beginnt mit einem Kopf und einem Rundschild, und ebenso elf weitere, mehrfach unmittelbar aufeinanderfolgend, sonst nur durch wenige Gruppen getrennt; auf der anderen Seite findet sie sich nur noch zu Anfang des ersten Wortes. Es liegt nahe, darin eine Namensliste zu sehn, vielleicht von Kriegern, die als Gesandte geschickt sein mögen422.

Offenbar ist dies Denkmal nicht auf Kreta selbst entstanden423; es wird etwa ein Beutestück oder eine Tributgabe sein. Wir lernen durch dies eine Dokument eine ganz eigenartige, [217] selbständige Kultur kennen, die sich unabhängig von Kreta und doch in Verbindung mit ihm irgendwo im Bereich des Ägaeischen Meeres entwickelt und die in ganz überraschender Weise einen Vorläufer der Buchdruckerkunst geschaffen hat, der, wie so viele derartige Erfindungen, völlig isoliert geblieben ist und daher keinerlei Nachwirkung hinterlassen hat. Daß die Erde an der Stätte, wo diese Kultur heimisch war, weitere Denkmäler birgt, kann nicht zweifelhaft sein; wenn es einmal gelingen sollte, sie, sei es auf einer Insel, sei es an den Küsten Kleinasiens, aufzufinden, dürfen wir weittragende Aufschlüsse und daneben vermutlich auch manche neue Rätsel erwarten. Einigen Anhalt geben einstweilen die Bilder der Schriftzeichen. Ihre Waffen sind ein Rundschild mit kleinen Buckeln wie bei den Šerdana (vgl. o. S. 57), die Streitaxt, und der zusammengesetzte doppeltgekrümmte Bogen mit gefiedertem Pfeil424. Die Frauen tragen eine Art Reifrock und langes Haar ähnlich den kretischen; die Männer dagegen, sowohl in den Köpfen wie in den ganzen Figuren, sind kahlköpfig und bartlos, aber das oben erwähnte Kopfzeichen trägt eine Kopfbedeckung von Federn. Eine Kappe mit Federkrone ist in den ägyptischen Darstellungen, im Unterschied von anderen Seevölkern wie den Šerdana und Turša425, das charakteristische Abzeichen der Philister und Zakkari; und auch sie tragen weder Bart noch Haupthaar. So ist es recht wahrscheinlich, daß wir in dem Diskus und seiner Schrift eine Schöpfung der Philister zu erkennen haben426.

[218] Schwer zu entscheiden ist, wie weit die Erzählungen von den Zügen des Minos und der Kreter nach Sicilien und Italien einen geschichtlichen Kern enthalten427. Kretisch-mykenische Gefäße und gelegentlich auch Bronzewaffen und Schmuckstücke haben sich in den Gräbern Siciliens und Unteritaliens nicht selten gefunden, meist aus der späteren, mykenischen Zeit; aber von einer Einwirkung auf die einheimische Kultur und ihr Kunsthandwerk ist hier nichts zu erkennen. Es sind fremde Waren, die gelegentlich durch Seehandel oder auch Seeraub in diese Gebiete gelangt sind, aber hier keinerlei Anregung gebracht haben. Vollends als Irrtum hat sich die Annahme erwiesen, daß die Wohnhäuser und die Felsgräber Siciliens mit flachgewölbten Kammern oder gar die Nuraghen Sardiniens und die Steinbauten Maltas unter kretisch-mykenischem Einfluß entstanden seien428. Vereinzelt mag ein Schiff aus der Ostwelt auch jetzt schon einmal [219] über Italien hinaus ins Westmeer gelangt sein, wenn auch schwerlich bis nach Spanien. Die Frage aber, ob sich politische und ethnographische Beziehungen gebildet haben, die zu großen, weite Gebiete umfassenden Bewegungen führen konnten, hängt im wesentlichen davon ab, ob die Gleichsetzung der Šerdana mit Sardinien, der Šakaruša mit den Sikelern berechtigt ist, und darüber eine sichere Entscheidung zu geben, ist bei dem Stande unseres Materials unmöglich, wenn auch namentlich für die erstere Gleichung manches spricht, so vor allem der ganz eigenartige ethnographische Typus der Šerdana und ihre Bewaffnung, der die von späteren sardinischen Bronzen ähnlich sieht429. Sicher ist, daß diese Völker dem Bereich der ägaeischen Kultur angehören; dann bleibt aber immer noch fraglich, ob sie um die Mitte des 2. Jahrtausends schon an den Stätten gesessen haben, wo wir sie später finden, oder ob sie nicht wie die Tyrsener erst in den großen Völkerbewegungen des 12. Jahrhunderts von Osten her nach Italien und seinen Inseln gelangt sind.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 212-221.
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