Handel, Industrie und Schiffahrt

[208] Die Kreter sind athletische Gestalten, durchgebildet in gymnastischen Übungen und Wettkämpfen; aber ob ein wirklich kriegerischer Geist in ihnen lebte, kann sehr fraglich erscheinen. Bedeutsam ist jedenfalls, daß in ihrer Kunst, in bezeichnendem Gegensatz zu der des griechischen Festlandes sowohl wie zu der Ägyptens, weder Jagdszenen noch kriegerische Kämpfe dargestellt sind405. Auch das deutet auf ein behagliches Genußleben, das sich in trügerischer Sicherheit ergeht.

[208] Umso größere Bedeutung für das Leben besitzen seit alters Industrie und Seefahrt. Die Zersplitterung der Insel in eine außerordentlich große Zahl kleiner Stadtgebiete, die für Kreta immer charakteristisch geblieben ist – von neunzig oder hundert Städten reden bekannte Stellen Homers –, erklärt sich aus ihrer Bodengestaltung: die die ganze Insel durchsetzenden hohen Gebirgszüge haben überall die anbaufähigen Flächen und Täler eingeschnürt und isoliert. Aber die dichte Besiedlung der größeren Städte mit ihren engen Gassen erfordert eine von Handwerk und Handel lebende Bewohnerschaft; und vollends Seestädte wie die auf der felsigen Landzunge Mochlos und dem wasserlosen Felseiland Pseira im Golf von Mirabello, die bis in die frühminoische Zeit hinaufragen (Bd. I, 570) und jetzt neugebaut werden, ebenso wie Gurnia im innersten Winkel des Golfs, setzen die volle Entwicklung der Schiffahrt und des Seehandels voraus. Nur durch den regen Verkehr ist denn auch die einheitliche Kultur und vollends die Entstehung eines Reichs möglich geworden, das mindestens die ganze Osthälfte der Insel bis zum Ida umfaßt hat. Dieser Seeverkehr, teils Piraterie, teils Handel, verbindet Kreta seit den ältesten durch die Funde erkennbaren Zeiten sowohl mit Ägypten wie mit der Inselwelt im Norden; die Kaftischiffe, die Thutmosis III. in Phoenikien findet (o. S. 98, 1), und die zahlreichen kretischen Scherben in den phoenikischen Städten bezeugen ihn für das Ostbecken des Mittelmeers. Durch ihn bezieht Kreta die fremdländischen Stoffe und Techniken, die Kunst und Handwerk so reichlich verwenden, wie Elfenbein, Alabaster, Fayence, Glas, den in Kreta ebenso wie in Ägypten und dem Orient besonders geschätzten Blaustein (Kyanos), vereinzelt auch den auf dem griechischen Festlande weit häufiger vorkommenden Ostseebernstein. Dazu kommt weiter Kupfer, Silber und Gold. Kunstvolle Arbeiten in allen diesen Materialien werden dann wieder von Kreta nach Ägypten gesandt (o. S. 107), ebenso Körbe mit Blaustein, Kupferbarren, und auch ein Elefantenzahn. Wie stark daneben die künstlerischen und die religiösen[209] Einwirkungen und Beziehungen sind, haben wir schon gesehn. Das Gold bezog man wohl meist aus Ägypten, dem Goldlande dieser Epoche, daneben aus den Minen und Goldwäschereien im Bereich der ägaeischen Welt, ebenso wie das Silber, das vielleicht auch schon aus dem Westen (Spanien und Sardinien) eingeführt wurde. Woher das hier wie überall im Orient und Europa für die Bronzebereitung benutzte Zinn stammte, ist für die gesamte Bronzezeit noch immer völlig ungeklärt. Die große Masse des Kupfers kommt jedenfalls aus Cypern; aber auch auf Kreta selbst haben sich nicht nur Schlacken und Schmelztiegel, die vom Ausschmelzen der importierten rohen Erzblöcke in den kretischen Werkstätten stammen könnten, sondern auch Lager von Eisen- und Kupfererzen mit Spuren alter Schürfstellen gefunden406. Für den Handelsverkehr dient, wie in Ägypten, Kupfer und Gold als Wertmesser. Das Kupfer wird in rechteckige Blöcke mit konkav ausgeschweiften Seiten gegossen; solche Blöcke haben sich in den kretischen Palästen vielfach gefunden, ebenso auf Amorgos, auf Euboea, auf Sardinien und sonst, und in Ägypten unter den Gaben, welche die Kafti bringen; auf den Schrifttafeln erscheint ihr Bild vielfach in Rechnungen. Neunzehn solche Kupferbarren lagen aufgereiht in einem Zimmer in Hagia Triada. Sie haben ein Durchschnittsgewicht von 29 Kilogramm; dem entspricht genau ein großes, rings von den Fangarmen eines Tintenfisches umschlossenes Steingewicht aus dem Palast von Knossos. Das ist also das kretische Talent. Siebzehn Kupferbarren in einem Funde aus dem Meer bei Kyme auf Euboea – also offenbar von einem untergegangenen Schiff stammend – haben sehr ungleiche, meist wesentlich geringere Gewichte, die sich nicht als Bruchteile dieser Einheit auffassen lassen. Kleinere Gewichte scheinen runde Steinscheiben mit Zahlen darauf darzustellen. Daß im [210] kretischen Verkehr ein einheitliches Gewichts- und Geldsystem geherrscht hat, ist offenbar; aber es zu ermitteln, ist bisher nicht möglich gewesen407. – Als Goldgewicht scheinen goldene oder bronzene408 Ochsenköpfe gedient zu haben, die sich auch als Schriftzeichen und ebenso unter den Gaben nach Ägypten finden, wo sie, neben liegenden Löwen, Kegeln u.ä., gleichfalls zum Abwägen von Goldringen benutzt werden409.

Die kretischen Schiffe410 setzen die Form der Kähne weiter fort, die wir aus früher Zeit (Bd. I, 512) durch Zeichnungen auf Tongefäßen von den Kykladen (vor allem von Syros) kennen. Charakteristisch für sie ist der Rammsporn und das hoch aufgerichtete Heck. Neben den Ruderbooten, von denen mehrfach auch Modelle in Ton erhalten sind, kennen wir schon aus den Zeichnungen der älteren Siegel mit »piktographischen« Bildzeichen411 die Segelschiffe, mit hohem Mast und Takelwerk, in denen wir die Handelsschiffe zu erkennen haben. Manchmal steht eine Kajüte darauf, wie bei den ägyptischen Nilbooten. Die Kriegsschiffe haben ein Oberdeck. Gelegentlich findet sich auch bereits oben am Mast eine Rahe, an die das Segel aufgebunden werden kann, um [211] beim Kampf nicht behinderlich zu sein412. Natürlich werden neben dem Segel immer auch Ruderer verwendet, die bei den stets wechselnden Winden des Ägaeischen Meeres ganz unentbehrlich sind.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 208-212.
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