Staatliche Verhältnisse. Bewaffnung und Kriegswesen

[203] Von den staatlichen Verhältnissen Kretas läßt sich bei dem völligen Fehlen irgendwelcher Nachrichten oder Dokumente ein Bild nicht gewinnen. Wie das Verhältnis der beiden [203] Herrschersitze Knossos und Phaestos mit ihren Palästen und weiter das des letzteren zu dem wenig weiter westlich nach dem Meere zu gelegenen Hagia Triada gewesen ist, bleibt für diese Epoche eben so dunkel wie für die frühere. Ebensowenig wissen wir, ob auch der für die ältere Zeit noch völlig unerforschte Westen der Insel, in dem wir den Volksstamm der Kydonen zu suchen haben (Bd. I, 521f.), zu dem Reich der im Zentrum und Osten sitzenden Eteokreter oder Kafti gehörte oder ob er einen eigenen Staat bildete; kleine Ausgrabungen von Gräbern in Maleme westlich von Kydonia (Kanea) und in Atsipas (an der Südseite, westlich vom Ida) haben wenigstens gelehrt, daß auch hier dieselbe Kultur herrschte wie im Osten398. Im übrigen beweist der Umstand, daß, im Gegensatz zu Phylakopi auf Melos und zu den festländischen Herrschersitzen, alle kretischen Städte nach wie vor unbefestigt geblieben sind, daß auf der Insel friedliche Zustände herrschten und man weder einen inneren Krieg noch einen Überfall zur See befürchtete.

Die Insel ist dicht besiedelt, mit zahlreichen ansehnlichen, eng bebauten Städten. Daß an der Spitze des Reichs ein König stand, mit großem Hofstaat beiderlei Geschlechts und zahlreichen Beamten, ist an sich zweifellos und wird durch die großen Paläste bestätigt. Aber in den Wandgemälden und den übrigen Denkmälern tritt, in bezeichnendem Gegensatz gegen Ägypten, der König niemals hervor, es sei denn, daß wir in dem »Prinzen mit der Federkrone« und in dem mit Halsketten und Spangen geschmückten Fürsten, der auf dem Steatitbecher von Hagia Triada in stolzer Haltung, den Kommandostab in der Hand, die Meldung eines Offiziers entgegennimmt (Taf. III), den König selbst zu erkennen haben. Ganz fremd ist der kretischen (und ebenso der mykenischen) Kunst jedenfalls der in Ägypten wie in Babylonien allgemein herrschende Brauch, den Herrscher (und ebenso in Ägypten den Grabherrn) in riesiger, alle anderen weit überragender [204] Gestalt darzustellen. Daß den Herrschern mächtige Magnaten mit großem Grundbesitz und zahlreichen Gefolgsleuten zur Seite standen, kann nicht zweifelhaft sein; ihnen werden die großen, palastartigen Wohnhäuser angehören, die in Städten wie Tylissos, Gurnia, Palaekastro u.a. und auch in Knossos selbst neben dem großen Königspalast liegen. Auch Priester und Priesterinnen (vgl. das Siegel o. S. 191, 3) werden eine große Rolle gespielt haben, falls nicht diese Funktionen mit der Stellung der Grundherren verbunden waren.

In der Bewaffnung ist zu der Lanze und dem seit alters am Gürtel getragenen Dolch das Schwert hinzugekommen, in der Regel als langer, spitz zulaufender Degen mit Doppelschneide, der vor allem zum Stoßen dient; daneben kommen neben starken Dolchmessern auch breitere wuchtige Schwerter vor, die einen kräftig durchschlagenden Hieb zu führen gestatten. Prachtexemplare mit reich mit Gold und Edelsteinen besetztem Griff und feiner Ornamentik der Rippe sind in den vornehmen Gräbern Kretas wie des Festlandes vielfach erhalten. Das Schwert ist die charakteristische Waffe der ägaeischen Welt geworden; es hat sich in dieser überallhin verbreitet, und die Šerdanasöldner haben sie nach Ägypten mitgeführt (o. S. 57).

Durch das Aufkommen des Schwertes wird der Charakter des Kampfes wesentlich geändert. Es erfordert eine ganz andere Durchbildung und Schulung des einzelnen Mannes als etwa der Ansturm eines geschlossenen Haufens von Lanzenkämpfern, und auch die Güte der Waffe kann entscheidend werden. Wenn der Stoß mit der Lanze versagt hat und das Schwert gezogen ist, wandelt sich das Gefecht in ein Ringen der einzelnen Recken mit Hieb und Stoß. Das kann zu einer vollen Auflösung des Gefechtes in lauter Einzelkämpfe führen, in der Weise wie es die homerischen Epen schildern, während die Massen ganz zurücktreten. Dem entspricht es, daß in den kretischen Denkmälern, anders als auf dem griechischen Festlande, Bogenschützen kaum je vorkommen. Allerdings sind Pfeilspitzen von Bronze garnicht selten; aber die [205] vornehme Welt sieht offenbar auf diese den Barbaren geläufige Fechtweise mit Verachtung hinab, und die Darstellungen berücksichtigen sie daher nicht399.

Unentbehrlich für diesen Kampf sind starke Schutzwaffen. Der für die Epoche charakteristische Schild besteht in Kreta wie auf dem griechischen Festland aus einer großen, über einen Rahmen gespannten Rindshaut, mit abgerundeten und eingefaßten Rändern, in der Mitte gelegentlich durch einen Metallbuckel verstärkt. Er wird an einem über der Schulter liegenden Riemen (τελαμών) getragen und deckt den ganzen Körper; an beiden Seiten ist er eingekerbt, um für die Stoßlanze Raum und Bewegungsfreiheit zu schaffen. Gegen das Anschlagen des Schildrandes werden die Schienbeine durch Gamaschen geschützt, an deren Stelle später eherne Beinschienen (κνημῖδες) treten. Daneben finden sich nicht selten, so auf Dolchklingen und Goldringen aus den mykenischen Schachtgräbern, zylindrisch gewölbte Schilde von gleicher Größe, oben abgerundet, unten rechteckig. Diese riesigen Schilde decken den ganzen Körper und machen es dem Angreifer, wenn der Versuch, sie mit der Lanze zu durchstoßen, mißglückt ist, schwer, den Hals oder die Beine mit dem Dolchmesser oder Schwerte zu treffen; aber ebensogut hindern sie die eigene Bewegungsfreiheit. Daher führen andere Stämme der ägaeischen Welt, wie die Šerdana, einen [206] wesentlich kleineren, kreisrunden Schild, der sich als Schriftzeichen auch auf dem Diskos von Phaestos findet. Nach Kreta ist er, soweit wir sehn können, erst nach dem Untergang der Kaftimacht gelangt400, und hat dann auch auf dem griechischen Festland immer mehr Verbreitung gefunden. Noch das homerische Epos kennt beide Schildformen nebeneinander, doch so, daß der riesige, den ganzen Mann deckende Schild, wie ihn z.B. Aias trägt, gegenüber dem Rundschild (ἀσπὶς πάντοσ᾽ ἐΐση) wohl kaum mehr als eine von der Tradition festgehaltene Überlieferung aus der Urzeit ist401.

Den Kopf schirmt eine Lederkappe, oft mit Eberzähnen besetzt, nicht selten mit Backenschienen und Nackenschirm. In der Regel fehlt auch ein mächtiger Helmbusch nicht. Es ist auch für die Ethnographie beachtenswert, daß dieser nach Herodot (I 176) ebenso wie der zum Rundschild gehörende Griff (ὄχανον) und die Wappenzeichen auf den Schilden karischen Ursprungs sind und die Griechen sie den Karren entlehnt haben.

Von der Kampfweise sowohl des Orients wie Griechenlands unterscheidet sich Kreta dadurch, daß hier der Streitwagen völlig fehlt. Das Pferd ist auf der Insel offenbar erst im Verlaufe der neukretischen Zeit importiert worden. In den Inventarverzeichnissen der letzten Epoche des Palastes von Knossos findet es sich vielfach402, daneben die leichten Wagen; in den Magazinen wurden dann die einzelnen Teile auseinandergenommen – Wagenkorb mit Deichsel und die[207] Räder, immer mit vier Speichen, wie im Orient – und gesondert verzeichnet. Aber größere Bedeutung hat es offenbar nicht gewonnen403.

Die militärische Disziplin veranschaulicht das Relief eines Steatitbechers von Hagia Triada404, wo ein Offizier in strammer Haltung mit leicht geneigtem Haupt und geschlossenen Beinen, das Schwert an der Schulter – in der anderen Hand trägt er ein langes Blashorn –, dem stolz, gleichfalls mit geschlossenen Beinen, vor ihm stehenden Fürsten drei Kreter vorführt, die ganz in riesige Tierfelle eingehüllt sind – wie das zu erklären ist, ist völlig dunkel.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 203-208.
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