Achaeer und Ionier. Apollon

[279] Weitere Aufschlüsse gewährt die Verteilung der griechischen Dialekte. Sie scheiden sich in zwei Hauptgruppen: in der einen, den nordwestgriechischen (dorischen) Dialekten, hat sich, wo auf t ein i folgt, der ältere Lautbestand erhalten, [279] in den übrigen ist t vor i zu s geworden und dadurch ein sehr weitgreifender Lautwandel herbeigeführt545. Die Nordwestgriechen, die in primitiven Zuständen verharrten und von der kretischen Kultur nicht beeinflußt wurden, kommen für die ältere Geschichte noch nicht in Betracht546. Aus der anderen Gruppe haben wir die Aeoler in Thessalien und Mittelgriechenland schon kennen gelernt. Neben ihnen steht, in vielen Formen eng verbunden, in anderen stark abweichend, die Sprache der vordorischen Bevölkerung des Peloponnes, die sich im Arkadischen erhalten hat und von den Kolonisten aus Lakonien und Argolis nach Cypern und Pamphylien getragen, in einzelnen Spuren (S. 237, 1) auch auf Kreta nachweisbar ist.

Das Epos faßt alle Stämme dieser Gruppe unter dem Namen Achaeer zusammen. In der geschichtlichen Zeit dagegen führen diesen Namen lediglich die Bewohner zweier eng begrenzter Gebiete, des südlichsten Teils Thessaliens und der Nordküste des Peloponnes, und in beiden wurde damals [280] nicht etwa ein »achaeischer«, sondern ein nordwestgriechischer Dialekt gesprochen. So stehn wir hier vor einem Problem, das sich mit Sicherheit nicht lösen läßt und dadurch noch verwickelter wird, daß mit dem Achaeernamen der Landschaftsname Hellas eng verbunden ist547. Im peloponnesischen Achaia kann der Name nicht ursprünglich sein548; so lag die Vermutung nahe, er habe auch im Epos ursprünglich nur die Heimat Achills bezeichnet549 und sei in derselben Weise verallgemeinert worden, wie der der Danaer und Argeer. Indessen dem steht gegenüber, daß sich der Achaeername auf Cypern mehrfach erhalten hat und die achaeische Demeter hier wie in Boeotien einen angesehenen Kult hat; und auch auf Rhodos trägt die Burg der in mykenischer Zeit besiedelten Stadt Ialysos den Namen Achaia550. So werden wir in der [281] Tat die gesamte bisher besprochene Schicht der vordorischen Griechen unter dem Namen Achaeer zusammenfassen dürfen551.

Neben diesen achaeischen Stämmen stehn auf der einen Seite die Dorier und ihre Verwandten, auf der anderen die Ionier, Iawones. Nach der Überlieferung saßen diese ursprünglich an der Nordküste des Peloponnes, im späteren Achaia. Das wird dadurch bestätigt, daß sie den Kultus des Gottes, der auf dem an der Nordküste ihnen gegenüberliegenden Berge Helikon sitzt, des Poseidon Helikonios, mit nach Asien hinübergenommen und ihn hier zu ihrem Bundesgott erhoben und ihm am Fuß des Mykale das Fest der Panionien gefeiert haben552. Vielleicht darf man damit auch den Namen des Ἰόνιος κόλπος verbinden, der das ganze Westmeer (unseren adriatischen Meerbusen) bezeichnet, falls er wirklich, trotz des kurzen o, mit dem Ioniernamen zusammenhängt553. Weiter [282] finden wir sie an der Steilküste im Osten des argivischen Golfs in der Landschaft Kynuria554. Ihr Hauptsitz aber ist Attika und Euboea. Von hier aus haben sie sich dann über die Kykladen und nach dem kleinasiatischen Festland ausgebreitet; als Ausgang dieser ionischen Wanderung gilt immer Athen555.

Auch der ionische Dialekt hat die durch den Übergang von -ti in -si bewirkte tiefgreifende Umwandlung mitgemacht. Auch sonst berührt er sich vielfach mit dem Aeolischen, in anderen Formen aber im Gegensatz zu diesem mit dem Arkadisch-kyprischen556, was die ursprünglichen Wohnsitze an [283] der peloponnesischen Küste weiter bestätigt. Als eine in sich geschlossene, von den übrigen Griechen seit alters getrennte Gruppe sind die Ionier charakterisiert dadurch, daß in ihren Gemeinden die Einteilung in die vier Phylen der Geleonten, Hopleten, Aigikoreis und Argadeis bestand557, und daß alle ionischen Familien ihre Abstammung nicht, wie die übrigen Griechen, von Zeus, sondern von Apollon als Ahnen (πατρώιος) ableiteten558.

Dadurch wird zugleich erwiesen, daß Apollon ein Hauptgott der Ionier ist. Soweit wir sehn können, gehört dieser gewaltige, unnahbare Gott, der ebensogut Segen wie Verderben sendet, in dunklen Orakelsprüchen die Zukunft verkündet, wenn er gnädig gesinnt ist, das Meer stillt und die Schiffer als Delphin geleitet, zunächst der Inselwelt an: hier hat er auf Delos, in der Mitte der Kykladen, sein uraltes Heiligtum in einer Grotte am Abhang des Berges Kynthos, in der er geboren ist. Ebenso ist sein Kult auf Kreta ganz allgemein verbreitet; von hier aus ist, wie der homerische Hymnus richtig angibt, der Apollon Delphinios nach der Orakelstätte Pytho am Parnaß gebracht worden. Identifiziert wird er mit den Orakelgottheiten des westlichen Kleinasiens, darunter vor allem einem Hauptgott der Lykier559. Dann aber hat er sich [284] weithin über alle griechischen Stämme verbreitet und ist hier mit ganz andersartigen Gottheiten identifiziert worden, so vor allem mit dem Herdengott (Νόμιος und Καρνεῖος, dem Hauptgott der Dorier), aber z.B. auch mit dem Steinpfahl, der die Wege beschirmt (Ἀγυιεύς), außerdem natürlich überall mit den Orakelgottheiten, so in Boeotien und Thessalien. Zu wirklicher innerer Einheit sind diese verschiedenen Gestalten trotz der Namensgleichheit nie gelangt; aber durch diese Gleichsetzung ist Apollon zu einem der Hauptgötter der gesamten Griechenwelt geworden. Zur Zeit der Blüte der epischen Dichtung faßt die ständig wiederkehrende Wunschformel αἲ γὰρ Ζεῦ τε πάτερ καὶ Ἀϑηναίη καὶ Ἄπολλον die drei großen Gottheiten, die man damals überall als die mächtigsten anerkannte, zu einer Einheit zusammen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 279-285.
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