Stoffe und Heimat der Heldensagen

[285] Eine Bestätigung und zugleich Ergänzung erhält das von uns gewonnene Bild durch eine Zusammenstellung der Gebiete, aus denen der Sagenstoff des griechischen Epos stammt. Ganz stark tritt, der Ausbildung desselben in Aeolis entsprechend, das aeolische Gebiet des Mutterlandes hervor, Thessalien, Boeotien und der zwischenliegenden Landschaften, vor allem das Spercheiosgebiet, Phthia die Heimat Achills, Oi chalia, Trachis, der Oeta; daran reiht sich in Aetolien Kalydon und Pleuron (s.o. S. 263) mit den Sagengestalten des Tydeus, Meleager und der, bei Homer allerdings nicht [285] erwähnten Atalante. Sonst kennt man aus dem Westen das Orakel von Dodona; dadurch, daß der ursprünglich nach Arkadien gehörende Odysseus auf die fernste bekannte Insel, Ithaka, versetzt wird, ist dann auch diese Gegend nebst den Thesprotern in den Bereich der Dichtung hineingezogen560.

Im Peloponnes treten die Hauptsitze der mykenischen Kultur, die argivische Landschaft mit Mykene, Lakedaimon, Pylos, auch im Epos entsprechend hervor. Auch arkadische Sagenstoffe fehlen nicht: die Odysseussage ist hier entstanden, die Gestalt des Atlas stammt wohl sicher von hier, und der Dichter der Διὸς ἀπάτη kennt die Lokalisierung der Styx in dem Wasserfall von Nonakris bei Pheneos561. Weiter natürlich Kreta. Ferner spielen die Lykier und ihre Sagengestalten eine große Rolle, was gewiß nicht erst auf die spätere ionische und dorische Kolonisation der Nachbargebiete Lykiens, sondern auf viel ältere Beziehungen mit diesem Wandervolk zurückgeht (siehe weiter Abschnitt XII). Außerdem ist natürlich, dem Stoff der troischen Sage entsprechend, das hellespontische Gebiet (einschließlich der mit der Argonautensage verknüpften Insel Lemnos) genau bekannt.

Nur umso stärker tritt hervor, daß andere Teile der griechischen Welt völlig zurücktreten. Für die Nordwestgriechen [286] und Dorier ist das begreiflich genug; umso bedeutsamer dagegen, daß Athen und Euboea gänzlich ausfallen. Zwar werden, außer im Schiffskatalog, die Abanten Euboeas in der Ilias noch einmal (Δ 464), die Athener (oder statt ihrer die Ionier) dreimal (N 195. 685ff. O 337) unter den Kämpfenden erwähnt; aber die Dichter wissen so wenig von den in Attika heimischen Sagengestalten, daß sie dafür einen Fürsten Menestheus erfinden562, den in der attischen Königsgeschichte unterzubringen dann den späteren Bearbeitern der Urgeschichte Mühe genug gemacht hat. Von den Kykladen kommt keine einzige vor; und ebensowenig werden die Nordküste des Peloponnes nebst dem Isthmusgebiet563, Kynurien und die Dryoperstädte auf der argivischen Akte oder eine von dort stammende Sagengestalt erwähnt.

Es ist die ionische Welt, die so negativ umgrenzt wird; dadurch werden zugleich die Überlieferungen über die älteren Wohnsitze der Ionier aufs beste bestätigt. Auch sie haben in diesen die Einwirkungen der kretischen Kultur in derselben Weise erfahren wie die Achaeer – so haben sich Kammergräber und mykenische Gefäße z.B. auch an der Nordküste des Peloponnes bei Patrai gefunden –; zugleich aber zeigt sich, daß sie schon damals als eine selbständige Stammgruppe getrennt neben diesen gestanden haben. Zur Heldensage und Mythologie haben sie nichts beigesteuert, sondern diese ist eine Schöpfung der Achaeer.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 285-287.
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