Gestaltung der Kultur. Gräber und Totentempel

[303] Neben der jugendlich kecken, rasch prächtig aufblühenden und dann ebenso rasch verwelkenden kretischen Kultur steht als ihr diametraler Gegensatz die ägyptische. Eine gefestete Tradition, die sich im Verlauf von nunmehr bereits anderthalb Jahrtausenden kontinuierlich ausgebildet hat, beherrscht das gesamte Leben des Ägypters und gestaltet die Anschauungen und Formen, in denen sich sein Denken und Empfinden bewegt. Auch der Neubau des Reichs, so einschneidend er die Organisation des Staats umwandelt, erstrebt doch nur eine den völlig geänderten politischen und militärischen Bedingungen entsprechende Wiederherstellung der glänzenden Epochen der Vorzeit, da durch Befolgung der von den Göttern gesetzten Ordnungen das Gedeihen des Reichs gesichert war. Stellung und Titulatur des Pharao bleiben unverändert; auch die alten Amtstitel werden so weit wie möglich beibehalten, selbst die Fiktion, daß das durch die Vereinigung der beiden Lande geschaffene Doppelreich unverändert weiterbestehe, wird fortgeschleppt, so wenig die Wirklichkeit damit übereinstimmt. Daß jetzt Amon, der Gott der neuen Hauptstadt, im offiziellen Pantheon an die Spitze der Götterwelt tritt und als diejenige Erscheinungsform des Weltenherrschers Rê' gilt, in der dieser das Reich beschirmt und dem von ihm gezeugten König eine noch größere Macht gewährt als allen seinen Vorgängern, ist lediglich die Konsequenz aus den religiösen Anschauungen, die seit dem Mittleren Reich in der Theologie und bei allen in ihre Geheimnisse Eingeweihten zu voller Herrschaft gelangt sind.

[303] Die ersten Könige der achtzehnten Dynastie hatten vollauf zu tun mit der Durchführung der Organisation, der Ausgleichung der in den langen Wirren über das Land ergangenen Verheerung, der Wiederherstellung der Tempel und des Kultus. Was von Skulpturen aus ihrer Zeit erhalten ist – viel ist es nicht –, bewegt sich zunächst durchaus in den im Mittleren Reich herrschenden Formen, ebenso wie ihre Inschriften die überkommene, klassisch gewordene Sprache festhalten. Allmählich aber führt der Wiederaufstieg zu einem Fortschreiten, neue Anschauungen und Formen beginnen hervorzutreten. Eine erste Abweichung von den alten Traditionen zeigt sich unter Thutmosis I. in der Verlegung des Königsgrabes aus der alten, von den ersten Königen noch beibehaltenen Nekropole am Fuß der westlichen Berge (bei Drahabulnegga) in die Felswand eines der Welt entrückten Wüstentales tief im Gebirge (s.o. S. 76) und die dadurch bedingte Trennung des Totentempels vom Grabe.

Dieser Schritt ist für die Entwicklung der ägyptischen Architektur von weittragender Wirkung gewesen. Die Ziegelpyramide, die sich noch Amenophis I. als Grabstätte in Drahabulnegga errichtet hat und die sich bei bescheidenen Privatgräbern noch lange erhält, wird von den hohen Beamten wie von den Königen aufgegeben585; da die Ägypter eine Idee, die sich einmal durchgesetzt hat, niemals wirklich abstoßen können, auch wenn sie tatsächlich völlig veraltet ist, hilft man sich dadurch, daß man ins Grab eine kleine Pyramide aus Stein setzt, an deren Seitenfläche der Tote dargestellt ist, wie er zur aufgehenden Sonne betet. In den großen Grabbauten aber tritt an ihre Stelle das bei den Gaufürsten schon seit der Entwicklung ihrer selbständigen Stellung unter der fünften Dynastie herrschend gewordene Felsengrab. Bei den Magnaten besteht es in der Regel aus einer Vorhalle und einem langen, senkrecht [304] dazu verlaufenden Gange, der zur Sargkammer führt; weitere Kammern können hinzutreten. Beim Königsgrab entwickelt sich das gleiche Grundschema von Regierung zu Regierung zu immer größeren Dimensionen, mit mehreren Hallen und Seitenkammern; Treppen führen hinab, tiefe Schachte sperren dem Eindringenden den Weg. Der gesamte Plan ist in allen Einzelheiten vorher entworfen; Anlage und Ausführung zeigen, wie die Beherrschung der Technik vom Grabe Thutmosis' I. bis zu dem Amenophis' II. und III. ständig sicherer wird und die Aufgabe immer größer gestellt werden kann. Die Wände, und ebenso der gewaltige Sarkophag aus nubischem Sandstein – unter der neunzehnten Dynastie tritt Granit von Assuan an seine Stelle – sind mit Inschriften und Bildern bedeckt, die neben zahlreichen anderen Szenen aus dem jenseitigen Leben des Königs im Reich des Osiris und des Rê nebst den zugehörigen Zauberformeln vor allem seine Fahrt durch das Nachtreich der Unterwelt im Sonnenschiff darstellen, vorbei an all den Schreckgespenstern und Ungeheuern, die ihn bedrohen, aber ihm nichts antun können. In den Privatgräbern überwiegen durchaus die, meist auf Stuckbewurf gemalten, seltener gemeißelten Szenen aus dem irdischen Leben, teils, wie im Alten und Mittleren Reich, das Leben und Treiben in Haus und Hof, in Garten und Feld, auf der Jagd und beim Fischfang, mit den Scharen der Handwerker und des Gesindes, daneben aber auch in großer Ausführlichkeit seine Taten im Dienste des Königs, die Verwaltung seiner Ämter, die Vorführung der Abgaben aus Ägypten, der Gesandtschaften und Tribute der Fremdvölker, die Aushebung der Rekruten, die Teilnahme an den Kriegszügen.

In den Königsgräbern ist für solche Szenen kein Platz; sie gehören in die für den Totenkult errichteten Tempel am Fuß der Gebirgslandschaft. Auch diese Tempel haben ihren ursprünglichen Charakter geändert; mit dem Totendienst ist der Kult des Amon und der Hathor, der Beschirmerin der Nekropole, verbunden, der Pharao, der im Tod, wie die offizielle Formel lautet, »aufsteigt zum Himmel und sich vereint [305] mit der Sonnenscheibe«, lebt hier fort in vertrautem Verkehr mit der Gottheit, die ihn im Mutterleibe erzeugt hat.

Alle anderen Totentempel der achtzehnten Dynastie sind bis auf ganz dürftige Überreste verschwunden; erhalten ist lediglich, dank seiner vom Kulturboden weit entfernten Lage unmittelbar am Fuß des Gebirgs, der Tempel der Hatšepsut (o. S. 116)586. In dieser genialen Schöpfung ihres Ministers Senmut tritt uns gleich zu Anfang der Geist der neuen Zeit ganz lebendig entgegen. Er liegt neben dem in Terrassen aufsteigenden Grabtempel Mentuhoteps' III. und IV., der größten Schöpfung der elften Dynastie (Bd. I, 277); in ihm sind auf der untersten Terrasse Baumalleen gepflanzt, auf der obersten liegt die von einer Pfeilerhalle umgebene Pyramide, dahinter der Hof, der zu den Grabkammern im Felsen führt. Diese Anlage hat offenbar auf den Bau Hatšepsuts eingewirkt; aber ganz anders als dort fügt er sich in die Landschaft ein und verwächst mit der sich senkrecht hinter ihm auftürmenden Felswand wie sonst nirgends zu einer grandiosen Einheit. Ein von Sphinxen eingefaßter Weg führt zum ersten, mit Palmen und Weinstöcken bepflanzten Hof. Aus diesem führt eine Rampe zur ersten Terrasse, auf der die von der Expedition nach Punt mitgebrachten Weihrauchbäume ihren Platz gefunden haben. Die Terrassen sollen überhaupt die stufenförmig aufsteigende Landschaft der »Treppe von Punt« nachbilden. Auf der oberen Terrasse lagen dann, um einen geräumigen Binnenhof gelagert, die Räume für den Totenkult und die zum Teil in den Felsen getriebenen und überwölbten Kapellen der Götter. Alle Wände, die die Höfe und Terrassen einfassen, sind mit Säulenhallen umrahmt, auch die große Stützmauer an der nach außenliegenden Südseite der unteren Terrasse ist mit Pilastern geschmückt, [306] die mit Falken und Schlangen, den Symbolen der Schutzgottheiten der beiden Reiche, gekrönt sind. Als Säulen sind durchweg nur sechzehn- oder achtkantige Pfeiler verwendet, auf deren Abakus, einem einfachen Würfel, der Architrav ruht; diese schlichte und eben darum umso vornehmer wirkende Form, die mit feinem Kunstgefühl gewählt ist, steigert noch den harmonischen Eindruck der gesamten Anlage, die sich überdies von fast allen anderen ägyptischen Bauwerken auch dadurch unterscheidet, daß sie von außen voll übersehbar ist und daher dem Beschauer die Einheitlichkeit des künstlerischen Gedankens sofort lebendig entgegentritt.

Alle Wände sind geschmückt mit Reliefs, die in ihrer sauberen, lebensvoll bewegten Ausführung zeigen, daß die im Mittleren Reich erreichte Höhe wieder gewonnen und überboten ist. Neben dem Verkehr des weiblichen Pharao mit den Göttern, der Darstellung ihrer übernatürlichen Erzeugung und Geburt, ihrer Aufziehung durch die Göttinnen nehmen die Großtaten ihrer Regierung einen breiten Raum ein, außer der Aufrichtung der Riesenobelisken im Tempel von Karnak (o. S. 115) vor allem die Expedition nach Punt. Kein Zweifel, daß sie, unter Führung ihres Günstlings, den Bau oft besucht, sich an seinem Fortschreiten erfreut und sich, mit denselben Gefühlen wie die Magnaten des Alten Reichs und die ihres eigenen Hofes bei Besichtigung ihrer Gräber, ausgemalt haben wird, wie sie dereinst als Geist an diesen Stätten wandeln und im Beschauen dieser Szenen die Freuden ihres irdischen Daseins immer von neuem genießen wird. Vor dem Tempel hat sie sich am Eingang des Tales einen Palast erbaut, der, wie alle diese Bauten aus Lehmziegeln und Holz, bis auf geringe Spuren verschwunden ist.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 303-307.
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