Idee und Gestalt des ägyptischen Tempels

[313] Der ägyptische, den Kultfesten mit ihren Prozessionen dienende Tempel ist die große Schöpfung der achtzehnten Dynastie592. Außerlich mag er den Vergleich mit den griechischen [313] Tempeln nahelegen, vor allem durch die Bedeutung, welche die Säule in beiden gewonnen hat; und auch darin berühren sich beide, daß die griechischen Tempelbauten des 6. und 5. Jahrhunderts ebenso wie die ägyptischen und wie die Dome des Mittelalters das Erzeugnis einer Epoche sind, in der die gesteigerte Religiosität sich mit dem Streben verbindet, den durch die Gunst der Götter mächtig gewachsenen Wohlstand einer hohen Kultur zugleich in vollendeter künstlerischer Form wirkungsvoll zum Ausdruck zu bringen. Aber innerlich steht der ägyptische Tempel in diametralem Gegensatz zum griechischen. Dieser, aus dem Megaron des Palastes erwachsen und womöglich auf beherrschender Anhöhe gelegen, ist das stattliche Wohnhaus des Gottes, aus dem er die Landschaft überschaut; von weit her zieht er alle Blicke auf sich, er wirkt durch die harmonische Schönheit des durch den Säulenumgang zu einem einheitlichen Körper zusammengeschlossenen Gebäudes; aber eine mystisch-religiöse Stimmung erzeugt er nicht. Beim ägyptischen Tempel dagegen [314] ist alles auf die Erweckung dieser Stimmung angelegt. Nach außen ist er von einer ungegliederten Mauer umschlossen; an der schmalen Frontseite sperren zwei gewaltige, von riesigen Flaggenstangen hoch überragte Tortürme (Pylonen) den Einblick. So ist die Stätte, in der der Gott wohnt, von der profanen Welt scharf geschieden; wer durch das schmale Tor eintritt, ist entrückt in die Welt der überirdischen Mächte. Tief im Innern liegt, ganz im dunkeln, die Kapelle, in der, in einem von Tüchern verhüllten und mit Emblemen geschmückten Kasten den profanen Blicken entzogen, der Fetisch des Gottes bewahrt wird; sie steht auf der heiligen Barke, auf der bei den Prozessionen diese realste Inkarnation des Gottes auf den Schultern der Priester ans Tageslicht hinausgetragen wird, um in den Säulenhöfen des Tempels der Menge zu erscheinen, Orakel zu erteilen, mit dem König in vertrauten Verkehr zu treten und an bestimmten Festtagen anderen Gottheiten in ihren Heiligtümern Besuche abzustatten oder sie zu empfangen. Dieser Prozessionsweg, auf dem der König zum Gott und der Gott zu König und Volk zieht, beherrscht den gesamten Bau593 und gibt ihm die innere Einheit. Schon von weither ist draußen die Richtung durch die lange auf das Portal zuführende Sphinxallee bestimmt festgelegt, und geradlinig setzt sie sich im Inneren fort durch die in derselben Achse liegenden Tore der Höfe und Säulenhallen mit überhöhtem Mittelgang.

Am vollkommensten ist die Idee des ägyptischen Tempels verwirklicht in dem schönsten und einheitlichsten von allen, dem Tempel, den Amenophis III. dem Amon in Luxor (Opet) erbaut hat594. Hier ist dem Tor eine langgestreckte [315] Halle vorgelegt, in der ein durch zwei Reihen von je sieben gewaltigen Säulen gebildeter Gang den Eintretenden empfängt und so gleich zu Anfang die Richtung auf das Endziel, die Kultzelle des Gottes, aufs stärkste betont. Dann durchschreitet er den großen, von Säulengängen umschlossenen Hof, in dem die Scharen der Gläubigen sich sammeln, um den Zeremonien des Kultus zuzuschauen. Es folgt ein großer Säulensaal, in den nur von oben durch kleine Fenster ein gedämpftes Licht fällt; die Papyrusbündel nachahmenden dicken Säulen stehn wie immer dicht gedrängt, so daß sie nach der Seite höchstens schmale Durchblicke gewähren und die Richtung auch hier gewahrt bleibt. Dahinter liegen dann rings um das Allerheiligste im Dunkel die zahlreichen Räume, in denen, neben den für den Kultus erforderlichen Geräten, die unermeßlichen Reichtümer des Gottes mit den Weihgeschenken aufgespeichert sind.

Das Grundschema der Anlage ermöglicht es, immer wieder neue Säle und Pylonen vorzulegen und so, wie vor allem in Karnak, den Bau ins Unermeßliche zu verlängern, ohne dadurch die innere Einheit aufzuheben. Dominierend bleibt immer, ebenso wie in den Grabbauten, das Streben, im bewußten Gegensatz zu den ephemeren Wohnungen der Sterblichen einschließlich der Königspaläste, für die überirdischen Mächte, zu denen ja auch die Geister der Verstorbenen gehören, ein Haus zu schaffen, das ihrer Allmacht entspricht und ewig besteht wie sie selbst. Daher die Säulenwälder und die wahrhaft gigantischen Dimensionen der Säulen, die Kolossalstatuen der Könige und Götter, die riesigen Monolithe der am Eingang aufgerichteten Obelisken. Das alles ist dem griechischen Empfinden durchaus fremd und wird [316] von ihm abgelehnt595. Dagegen ist der ägyptische Tempel aus demselben religiösen Gefühl entstanden, das die großen romanischen und gotischen Dome geschaffen hat; die Stimmung, welche der ägyptische Kultus mit seinem sorgfältig durchgebildeten Zeremoniell in den auch hier von Weihrauch erfüllten Hallen erzeugt hat, wird durchaus gleichartig gewesen sein, und dem entspricht in beiden die Scheidung des Allerheiligsten mit dem Kultobjekt von den für die Laien bestimmten Hallen und die privilegierte Stellung der Priesterschaft, der allein ein Einblick und ein wirkliches Verständnis für die Mysterien der Religion gewährt ist596.

[317] Auch darin ähnelt der ägyptische Kultus dem christlichen, daß ihm, im Gegensatz zu den meisten anderen Religionen, die Verbrennung von Opfern fremd ist; die reichen Gaben – Brot, Fleisch, Feldfrüchte, Getränke, Blumen – werden lediglich auf dem Opfertisch oder Altar aufgeschichtet und dem Gott ebenso wie dem Toten durch das Anschauen und die zugehörigen Gebetsformeln ideell zugeführt, dann aber weggeräumt und auf die dazu Berechtigten verteilt597.

Neben den großen Tempeln sind unter der achtzehnten Dynastie nicht wenige kleinere Heiligtümer von ganz anderer Anlage erbaut worden. Sie stehn auf einem erhöhten Unterbau mit vorgelagerter Treppe, die zu dem von zwei Säulen getragenen Portal hinaufführt; um die inneren Gemächer führt ein Umgang, der zwischen den den Architrav tragenden Pfeilern einen Ausblick nach außen gewährt. So ähneln diese Kapellen in der Tat den griechischen Tempeln, auch in den Dimensionen. Aber sie enthalten lediglich die Zellen, in denen der Gott oder mehrere miteinander verbundene wohnen, sind dagegen für die Entfaltung des Kultus mit all seinem Pomp ganz ungeeignet. Vielleicht darf man vermuten, daß sich in ihnen die Form der bescheidenen Heiligtümer des Alten und Mittleren Reichs erhalten hat. In der griechischen Zeit sind solche Kapellen, die sog. »Geburtshäuser«, regelmäßig auf dem Platz vor den großen Tempeln, als Zubehör zu diesen, erbaut, und ebenso sind auch im Neuen Reich diese Wohnhäuser der Götter etwas ganz anderes als die großen Kulttempel.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 313-318.
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