Eindringen der semitischen Nomadenstämme ins Kulturland. Aramaeer und Israeliten

[341] Als treibendes Element der Bewegung, die ganz Syrien seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts ergriffen hat, erscheinen in den Amarnabriefen durchweg die Beduinen. Sie überschwemmen das Land und bedrohen die Städte; die Dynasten nehmen sie in ihre Dienste, um ihr Machtgebiet zu erweitern, und überlassen ihnen die eroberten Ortschaften zur Ausplünderung und Besiedlung. Bezeichnet werden sie mit dem Namen Cha birî, der meist ideographisch Sa-Gaz oder einfach Gaz geschrieben wird629. Es ist ein Ausdruck, der sich vereinzelt auch in babylonischen, häufig in chetitischen Texten findet, und zwar vor allem im Namen einer Göttergruppe, die in den Vertragsurkunden am Schluß der langen Liste der chetitischen Götter, aber vor »den Unterweltsgöttern und der Gesamtheit der männlichen und weiblichen Götter des Landes Chatti«, als »Götter der Lulachi und Götter der Chabirî« bezeichnet werden630. Offenbar sind es nicht Völkernamen, [342] sondern Bezeichnungen von bestimmten Bevölkerungsgruppen des chetitischen Reichs. Über die Lulachier wissen wir weiter nichts; die Chabiri sind, wie die Amarnatafeln lehren, nomadische Wanderstämme, die in Kleinasien etwa in derselben Weise zwischen der seßhaften Bevölkerung gesiedelt haben werden, wie wir das z.B. in Westdeutschland in der neolithischen Zeit finden. Semiten aber wie die Chabirî der Steppen Syriens und Mesopotamiens und in der syrisch-arabischen Felswüste werden sie dort schwerlich gewesen sein. In den Amarnatexten erscheinen neben den letzteren mehrfach die Sutî, d.i. die beduinischen Schützen, sowohl als Soldtruppen wie als Räuberscharen631.

Diese in die Kulturgebiete Syriens und Mesopotamiens eindringenden semitischen Volksstämme werden in den assyrischen Berichten zuerst unter Arikde nilu, der sie um 1320 bekämpft hat, als Achlamê und Sutî erwähnt632; spätere Texte bezeichnen die Achlamaeer häufig als Aramaeer. Auch in einem nur ganz lückenhaft erhaltenen Amarnatext wird über sie berichtet in Beziehung zu dem König von Karduniaš633. Dann bekämpft Salmanassar I. (um 1280) die mit dem König von Chanigalbat verbündeten Chetiter und Achlamaeer634, und [343] Chattusil III. redet in einem Schreiben an den Babylonierkönig von der Störung des Gesandtschaftsverkehrs durch die Achlamaeer635. In der Folgezeit ist dann in ständigem Fortschreiten der ganze Norden Mesopotamiens mit Charrân und Nisibis und Nordsyrien bis nach Damaskus und zum Quellgebiet des Jordan von Aramaeern besetzt und ihre Sprache überall an Stelle der älteren getreten, auch in Babylonien breiten sie sich immer weiter aus; über die Anfänge dieser Invasion, die Überschwemmung der Kulturgebiete durch eine neue Schicht der semitischen Nomaden aus ihrer Wüstenheimat geben uns die Amarnatexte Auskunft636.

Eng verbunden mit den Aramaeern erscheinen in ihren Traditionen die Israeliten. Ihre Ahnen, ursprünglich im äußersten Süden Palaestinas und im Ostjordanlande heimische Gestalten mythischen und kultischen Ursprungs, werden in der Genealogie zu Verwandten der Aramaeer gemacht, in scharf betontem Gegensatz zu den Kana'anaeern; sie sind nicht seßhafte Bauern wie diese, sondern wandernde Viehzüchter. Abrahams Geburt wird nach Charrân versetzt, von hier aus zieht er nach Hebron; nach dem Opferspruch Deut. 26, 5 ist der Ahne des Volks »ein schweifender Aramaeer«. Nun steht fest, daß die Israeliten im 14. Jahrhundert in das Gebirgsland Palaestinas (Ephraim) eingedrungen sind: denn zur Zeit Merneptaḥs sitzen sie bereits hier, unter Sethos I. und Ramses II. aber kann ihre Invasion nicht gesetzt [344] werden; mithin muß sie in die Amarnazeit fallen. Vorher werden sie vermutlich im nordwestlichen Arabien (Midian) im Bereiche des Sinaivulkans gezeltet haben; von hier haben sie den Kult des einsam in diesem hausenden Feuergottes Jahwe mitgenommen, dessen diwanartigen Thronsitz, den »Kasten Jahwes«, sie auf ihren Zügen mit sich führen, damit der Gott sie begleiten und unter ihnen weilen könne.

Die Festsetzung der Israeliten in Palaestina und die Ausbreitung der Aramaeer in Syrien und Mesopotamien sind. die Ergebnisse einer einheitlichen Völkerbewegung, in deren Anfänge die Urkunden von Amarna einen Einblick gewähren. Dadurch wird es zugleich wahrscheinlich, daß auch die Israeliten damals einen aramaeischen Dialekt gesprochen und das Hebraeische erst von den Kana'anaeern übernommen haben, als sie sich unter ihnen ansiedelten637.

Nun werden die Israeliten von den Fremden, mit denen sie in Berührung kamen, immer 'Ibrîm, Hebraeer genannt, und ihre Sprache heißt daher hebraeisch638. Auch das ist kein Volksname, sondern eine appellative Benennung, die wohl als »Leute von Jenseits« (des Jordan?) gedeutet worden ist. Eine Spur davon, daß »Hebraeer« ursprünglich eine umfassendere Bedeutung hatte, scheint sich darin erhalten zu haben, daß die [345] Völkertafel des Jahwisten den Eponymus 'Eber zum Stammvater zahlreicher arabischer Stämme und zum Sohn des Urahnen Šêm macht639; bne šêm »Leute, die einen Namen (oder vielmehr ein Stammzeichen, arab. wasm, ein Totem) haben«, nennen sich die adelsstolzen Beduinen, die eine vollständige Stammesgenealogie besitzen (wie sie allen israelitischen Stammbäumen zugrunde liegt), im Gegensatz zu den degenerierten Städtern, die wohl noch Adelsgeschlechter, aber keinen Stammverband und keine Stammesgenealogie mehr besitzen.

Nun berührt sich 'Ibrî sowohl lautlich wie seiner Bedeutung nach so eng mit Chabirî, daß hier ein Zusammenhang kaum zu verkennen ist. Einer unmittelbaren Gleichsetzung, so daß Chabirî einfach durch Hebraeer wiederzugeben wäre, stehn ebensowohl lautliche Bedenken640 gegenüber wie die Tatsache, daß das Wort seit alters auch Volkselemente im chetitischen Kleinasien bezeichnet, wo wir von Hebraeern im üblichen Sinne nicht reden können. So mag die ursprüngliche, ganz allgemeine Benennung der nomadischen Wanderstämme in Palaestina volksetymologisch in 'Ibrî umgewandelt und als »die von Jenseits« (nämlich des Jordan) gedeutet [346] worden sein. Die sachliche Identität der Hebraeer oder Israeliten mit dem in Palaestina eindringenden Teil der Chabirî der Amarnatafeln ist aber jedenfalls zweifellos.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 341-347.
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