Vorwort

Mit dem vorliegenden Bande, der im Anschluß an die ursprüngliche Gestaltung des Werkes die Bezeichnung Bd. II1 erhalten mußte, nehme ich die vor drei Jahren in dem Nachtrag zum ersten Bande (»die ältere Chronologie Babyloniens, Assyriens und Ägyptens«) angekündigte Fortführung meiner Geschichte des Altertums wieder auf. Ich habe damals ausgesprochen, daß es mir nicht möglich sei, den ersten Band noch einmal wieder zu überarbeiten, wenn ich überhaupt noch weiterkommen wolle; so habe ich mich darauf beschränkt, in dem ersten Abschnitt des neuen Bandes ein Bild der Zustände des Orients vor und in der Hyksoszeit zu entwerfen, wie es sich gegenwärtig auf Grund des so wesentlich bereicherten Materials gestaltet. Im übrigen behandelt dieser Band die Zeit der ägyptischen Großmacht, die Epoche vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts, in der die einzelnen Gebiete des vorderen Orients mit Einschluß der ägaeischen Welt sowohl politisch wie kulturell in enge Verbindung und Wechselwirkung untereinander treten und sich so ein Staatensystem herausbildet, dessen geschichtlichen Verlauf wir trotz der Trümmerhaftigkeit der Überlieferung doch noch in den Grundzügen zu erkennen vermögen. Wenn ich schon vor nahezu einem halben Jahrhundert den Versuch einer solchen zusammenfassenden Darstellung gewagt habe, so ist das jetzt in noch viel höherem Maße geboten; erst dadurch tritt die Eigenart und das innere Leben der einzelnen Kulturen deutlich hervor. Vor allem gilt das von dem Verhältnis der ägyptischen zur kretisch-mykenischen Kultur; daher war es unvermeidlich, so befremdend das zunächst manchem erscheinen mag, die Darstellung der letzteren der der ägyptischen Kultur des Neuen Reichs voranzustellen. Ich glaube mich in der Annahme nicht zu täuschen, daß dadurch eine wesentliche Vertiefung [5] der Anschauung gewonnen werden konnte, die neben der fortdauernden beiderseitigen Beeinflussung den zwischen ihnen bestehenden inneren Gegensatz herauszuarbeiten gestattet. Für die chetitische Kultur und Geschichte gilt das gleiche. Hier tritt dann der starke Einfluß von Assyrien und Babylonien hinzu. Nur umso deutlicher erkennen wir dabei zugleich, daß, im Gegensatz zu weitverbreiteten populären Ansichten, die Kultur dieser Gebiete während der ganzen Epoche und noch Jahrhunderte später vollständig stagniert und sie irgend etwas Bedeutendes nicht zu schaffen vermochte. Daran hat auch das vor allem durch die deutschen Ausgrabungen in Assur erschlossene neue Material nichts geändert; die Geschichte der Staaten am Euphrat und Tigris verläuft ein Jahrtausend lang in ermüdender Monotonie und vermag ein tieferes Interesse nicht zu erwecken, erst im 9. Jahrhundert beginnt hier von Assyrien aus langsam eine neue Entwicklung.

Im Gegensatz dazu hat die Geschichte Ägyptens und seiner Kultur im Neuen Reich an innerem Leben und vertieftem Verständnis ständig gewonnen. Mir ist es vergönnt gewesen, diese Epoche nach der Behandlung in der ersten Auflage (1884) und in meiner Geschichte Ägyptens (1887) jetzt zum drittenmal eingehend darzustellen; und immer von neuem ist mir dabei der gewaltige Fortschritt ins Bewußtsein getreten, der, ganz abgesehn von der ununterbrochenen Erschließung neuen Materials, durch die intensive Arbeit zahlreicher hervorragender Gelehrten aller Kulturvölker hier im Verlauf eines halben Jahrhunderts erreicht ist. Zugleich ist sowohl durch gediegene Einzelarbeiten wie durch Zusammenfassung des gesamten Materials die Arbeitsmöglichkeit gewaltig gesteigert worden: ich nenne hier mit warmem Dank vor allem BREASTED's Ancient Records, SETHE's Bearbeitung der Inschriften der achtzehnten Dynastie und HEINRICH SCHÄFER's grundlegende Werke über die ägyptische Kunst, und daneben das große von ADOLF ERMAN geschaffene Ägyptische Wörterbuch, dessen Material mir in zahlreichen Fällen die wertvollste Hilfe gewährt hat und das, wenn es in wenigen Jahren vollständig [6] vorliegt, eine neue Epoche der Forschung eröffnen wird. Daneben hat mir das prachtvolle von BURCHARDT und KOCH in den Photographien der Fremdvölkerexpedition1 zugänglich gewordene Material durchweg die größten Dienste geleistet.

Auch auf babylonisch-assyrischem Gebiet hat sich seit der ersten Auflage die Lage ganz anders gestaltet. Damals bildeten die Arbeiten von EB. SCHRADER und GEORGE SMITH fast die einzige wirkliche Hilfe; im übrigen habe ich mich damals an der Hand des RAWLINSON'schen Inschriftenwerks mit den kläglichen, von den stärksten Fehlern strotzenden »Übersetzungen« MÉNANT's herumschlagen müssen. Erst durch EBERHARD SCHRADER's Keilinschriftliche Bibliothek (seit 1889) wurde dem Historiker eine zuverlässige und übersichtliche Sammlung des geschichtlichen Materials in Transkription und Übersetzung geboten, das dann durch zahlreiche Einzelpublikationen ständig vermehrt und vertieft worden ist.

Daß wir vom Chetiterreich erst seit wenigen Jahren wirklich etwas wissen, bedarf keiner Bemerkung. Hier wird meine Darstellung notgedrungen vielfach nur einen provisorischen Charakter tragen, zumal es mir nicht mehr möglich gewesen ist, mich selbst noch irgendwie in die Sprache hineinzuarbeiten. In wenigen Jahren wird sich hier ein viel lebensvolleres Bild zeichnen lassen.

Etwas anders liegen die Dinge bei der kretisch-mykenischen Kultur. Freilich die Darstellung, die ich 1893 im zweiten Bande der G. d.A. versucht habe, war alsbald völlig überholt; aber ein wirkliches Verständnis wurde erst ermöglicht, seit 1899 die Ausgrabungen EVANS' und der Italiener auf Kreta begannen und uns in rascher Folge eine ganz neue Kulturwelt erschlossen und dadurch zugleich die mykenische Kultur erst in das richtige Licht gerückt wurde. Auf diesem Gebiet habe [7] ich die Ergebnisse andauernd genau verfolgen und durchdenken können, so daß ich hoffe, daß mir hier nichts Wesentliches entgangen ist.

Auch sonst habe ich, sooft auch andere Aufgaben dazwischentraten, die Beschäftigung mit dem Gesamtgebiet bis zum Kriegsausbruch niemals unterbrochen, sondern es immer von neuem vor allem in meinen Vorlesungen eingehend behandelt. In den ersten Monaten des Krieges habe ich dann mit der Ausarbeitung begonnen und einzelne Abschnitte damals niedergeschrieben. Aber alsbald sah ich, daß das unter den damaligen Verhältnissen nicht möglich war; und so ist eine lange Unterbrechung eingetreten, bis ich 1924 nochmals von vorn begonnen habe. Dabei zeigte sich, daß ich niemals zum Ziele gelangen würde, wenn ich in alter Weise darauf ausgehn wollte, alles Material erschöpfend zusammenzufassen und zu jeder neueren und neuesten Arbeit Stellung zu nehmen; ich mußte mich beschränken, und dem habe ich auch äußerlich dadurch Ausdruck gegeben, daß ich die äußere Form der Anmerkungen geändert habe. So wird man vielleicht manche Einzelheit und manches Zitat vermissen; aber ich hoffe, daß ich wenigstens Grundlegendes nicht übersehn habe.

Im Winter 1925/26 ist dann noch einmal eine Unterbrechung eingetreten dadurch, daß mir durch ein mit tiefgefühltem Dank empfangenes Geschenk zu meinem siebzigsten Geburtstag die Möglichkeit gewährt worden ist, Ägypten in seiner ganzen Ausdehnung bis zum zweiten Katarakt und zur Großen Oase sowie Palaestina und Phoenikien eingehend zu bereisen und außer den Küsten Kleinasiens auch Griechenland noch einmal wieder zu besuchen und nach Knossos hinüberzufahren. Wie sehr die dadurch gewonnene eigene Anschauung meiner Arbeit zugute gekommen ist, wird der Leser an zahlreichen Stellen erkennen können.

Ich hoffe, daß ich die Fortführung, mit der ich bereits begonnen habe, wesentlich rascher werde schaffen können, da hier verhältnismäßig viel weniger neues Material hinzugekommen ist und ich daher den alten Text vielfach werde [8] benutzen können. Ob es möglich sein wird, die gesamte Geschichte des Orients und Griechenlands nebst Italien vom 12. Jahr hundert bis zur Aufrichtung des Achaemenidenreichs und den Perserkriegen in einem Bande zu behandeln, oder ob eine Teilung in zwei weitere Bände erforderlich sein wird, kann erst die Ausarbeitung selbst entscheiden. Die Neubearbeitung der drei Bände der griechischen Geschichte des 5. und 4. Jahrhunderts soll dann unmittelbar daran anschließen.

Von Einzelheiten will ich nur noch erwähnen, daß ich in der Transkription der assyrischen, chetitischen und sonstigen westlichen Namen nicht die von den Assyriologen befolgte babylonische Aussprache der Zischlaute gegeben habe, die, wie vollkommen feststeht, der wirklichen Aussprache nicht entspricht, sondern vielmehr diese eingesetzt habe. Ich schreibe daher s und š, wo die Assyriologen und die ihnen folgenden Chetitologen umgekehrt š und s schreiben. Manche Inkonsequenzen sind allerdings geblieben; so hätte ich z.B. besser durchweg Tesub und nicht Tešub schreiben sollen. Eine methodische Durcharbeitung dieser ganzen Frage ist ein dringendes Bedürfnis.

Berlin, den 14. Februar 1928


Eduard Meyer


Geschichte des Altertums

Die Zeit der ägyptischen Großmacht


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 1-3.
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