Literatur und Religion. Das Tempelgut

[506] Von der Literatur der Ramessidenzeit ist in den Papyri und auf den wie im privaten und öffentlichen Verkehr so in den Schulen als kostenloses Schreibmaterial verwendeten Scherben von Tongefäßen und Kalksteinsplittern (Ostraka) [506] manches auf uns gekommen. So haben sich im Ramesseum aus der Zeit der Nachfolger Ramses' II. Massen solcher Scherben und Papierfetzen gefunden, auf denen die Knaben in der mit diesem Tempel verbundenen Schreibschule die Texte nach Diktat niedergeschrieben haben; beim Schluß der Schulstunden brechen sie ab, oft mitten im Satz, und haben die Stücke dann auf den Kehrichthaufen geworfen. Dazu kommen, vorwiegend aus Unterägypten und meist aus derselben Zeit, nicht wenige Musterhandschriften der »Schreiber«, die an ihre Vorgesetzten (»Lehrer«) gerichtet und von diesen kalligraphisch korrigiert worden sind (vgl. o. S. 67f.); sie sind ihnen dann mit ins Grab gelegt worden. Aber auch wirkliche Bücher haben sich mehrfach erhalten, daneben natürlich Aktenstücke, Briefe, Rechnungen u.ä.

Unter den in diesen Handschriften bewahrten Texten nehmen auch jetzt die klassischen Literaturwerke des Mittleren Reichs einen großen Raum ein, da sie als Muster des getragenen Stils gelten, der namentlich in den Prunkinschriften der Könige immer wieder nachgeahmt wird, auch in der Sprachform, deren im Leben längst durch tiefgreifende Umbildung gewandelte Gestalt man künstlich festzuhalten sucht. Um so beachtenswerter ist, daß sich, im Gegensatz zu den von der babylonischen Schrift beherrschten Gebieten Vorderasiens, im ägyptischen Schulbetrieb sprachliche Arbeiten, Grammatik und Lexikographie nicht entwickelt haben; was an derartiges erinnert, beschränkt sich auf schlecht geordnete Listen von Ortsnamen, Göttern u.ä. So kommt es, daß infolge der stetigen Vermengung alter und neuer Formen und Schreibungen nicht nur die Orthographie verwildert und das Gefühl für grammatisch und phonetisch korrekte Wiedergabe der Sprache, sowohl der alten wie der neuen, vollständig abhanden kommt, sondern daß auch das Verständnis der klassischen und ebenso der heiligen Texte immer unsicherer wird; die Handschriften der Schüler lassen immer wieder erkennen, wie wenig sie von den Texten verstanden haben, die sie mechanisch niederschrieben.

[507] Neben der erstarrten archaischen hat indessen jetzt auch die lebendige Sprache ihr Recht gewonnen, Wie in Babylonien schon seit der Zeit Sargons das Sumerische durch die semitische Sprache, im Chetiterreich die babylonische durch die chetitische, bei den Kulturvölkern der Neuzeit das Lateinische durch die Volkssprachen verdrängt wird und wie im modernen Griechenland die klassische Sprache dem Neugriechischen hat weichen müssen, so gewinnt in Ägypten das »Neuägyptische« immer weiteren Boden. Im täglichen Leben, im gesamten Geschäftsverkehr, in den amtlichen Aktenstücken, Korrespondenzen und Protokollen wird lediglich neuägyptisch geschrieben, ja seine Sprachformen beginnen trotz alles Widerstrebens – denn Echnatens kecke Neuerung, in seinen staatlichen und religiösen Kundgebungen in der Volkssprache zu reden, ist natürlich von der Reaktion aufgegeben worden – gelegentlich auch in die Königsinschriften einzudringen. Daneben aber hat sich eine reiche, lebensfrische Literatur populären Charakters in dieser Sprache entwickelt, von der auch die Schreiberhandschriften nicht wenig aufgenommen haben, volkstümliche Erzählungen geschichtlichen Inhalts wie die vom Hyksoskönig Apopi oder von der Einnahme von Joppe unter Thutmosis III. durch eine List im Märchenstil, Sagen und Märchen wie das aus mythischen Elementen fortgebildete von den zwei Brüdern, aus dem ein Motiv – die Versuchung des jüngeren durch die Frau des älteren, der er widersteht und die ihn dann verleumdet – in die Josephsage der Israeliten übergegangen ist, oder das Märchen von dem Königssohn, der trotz aller Vorsicht dem ihm verkündeten Geschick nicht entgeht. In die volkstümliche Literatur gehören auch die anmutigen, bei den Gelagen gesungenen Liebeslieder, von denen uns Bruchstücke erhalten sind. Höhere Ansprüche erheben die Dichtungen zum Preise des Königs und der neuen Ramsesstadt, die oben S. 494f. verwertet sind. Auch das große Gedicht über die Schlacht bei Qadeš, das sowohl handschriftlich wie in den Inschriften bei den Gemälden erhalten ist, ist in der Volkssprache abgefaßt.

[508] Einen großen Raum nehmen in den Schreiberhandschriften außer den »Weisheitslehren«, den Weisungen zu wohlanständigem Verhalten und sittlich korrekter Lebensführung die altherkömmlichen Mahnungen zu eifrigem Lernen und die Schilderung der glänzenden Stellung des »Schreibers« ein, daneben die Sammlungen von teils fingierten, teils wirklich dem Leben entnommenen Musterbriefen, an denen der feine Stil gelernt werden soll. Welch reges literarisches Leben aber in diesen Kreisen geherrscht hat, zeigt in überraschender Weise eine umfangreiche Streitschrift gegen einen Beamten der Zeit Ramses' II., dessen literarische Leistungen von seinem Gegner, unter notdürftiger Verhüllung durch die obligaten Höflichkeitsphrasen, aufs ärgste sowohl stilistisch wie inhaltlich zerzaust werden; am Schluß wird ihm ausführlich nachgewiesen, daß ihm jede wirkliche Anschauung der Verhältnisse Syriens fehlt, so viel er sich auch darauf zugute tut (vgl. o. S. 430). Offenbar hat diese Fehde zwischen den Gelehrten ein lebhaftes Interesse erweckt; Stücke aus der Invektive sind vielfach als Vorlagen für Diktate in der Schule verwendet worden. Sie läßt ahnen, daß hinter den traditionellen Formen in derselben Weise, wie wir es auf dem Gebiete der bildenden Kunst annehmen müssen, auch in der Literatur in der Gestaltung des Stoffs und der Stilform im Wetteifer der Persönlichkeiten auch grundsätzliche Anschauungen bewußt hervorgetreten sind, so wenig daraus eine theoretische Erörterung der Prinzipien nach griechischer Art erwachsen ist.

Im allgemeinen trägt die gesamte Kultur der Ramessidenzeit ein durchaus modernes Gepräge. Das humane Empfinden, das das Ägyptertum seit alters auszeichnet, und das Streben, die Sittengebote zu befolgen, gegen die Mitmenschen gerecht und wohlwollend zu handeln, gesteigert durch das Bewußtsein, im Totengericht Rechenschaft ablegen zu müssen, tritt in der Literatur überall hervor und gelangt auch in den Äußerungen Ramses' II. im Schlachtgedicht wirkungsvoll zum Ausdruck. Der erreichten Höhe, die das Leben so [509] schön und genußreich zu gestalten gestattet, ist man sich voll bewußt, und man lebt des Glaubens, daß unter dem Schutz der Götter die nach außen wie nach innen gefesteten Zustände in alle Zukunft weiter bestehn werden.

Daher ist für neue Ideen kein Raum. Wir haben schon gesehn, wie unter der Herrschaft der restaurierten Orthodoxie das geistige Leben erstarrt und die Kultur unfruchtbar wird. Ständig gesteigert wird, eng verbunden mit dem wachsenden Aberglauben, die Religiosität. Es wird allmählich Brauch, nicht nur über die Zukunft das Orakel zu befragen, sondern auch in allen Streitigkeiten über den Tatbestand und Rechtsfragen die Entscheidung des Gottes einzuholen – nachweisbar zuerst, seit Ramses III., beim Kultus des zum Gott gewordenen Amenophis I. in der thebanischen Nekropole977; alsbald wird die Entscheidung bei großen Staatsaktionen von Amon selbst erbeten, dessen Fetisch sie in derselben Weise erteilt, wie er seine Priester bestellt oder nach der offiziellen Darstellung Thutmosis III. zum Thronfolger erwählt hat (o. S. 112).

So wächst denn die Macht der Priesterschaft und auch ihre Zahl ständig; oft genug wird sie, so wenig die offiziellen Texte davon reden, auch den allmächtigen Gottessohn auf dem Thron des Horus unter ihren Willen gezwungen haben. Durch die ununterbrochen den Göttern zufließenden Geschenke an Grundbesitz, an Sklaven und Schätzen aller Art aus der Beute und an sonstigen Gaben schwillt der unter ihrer Verwaltung stehende Besitz der großen Tempel ins Ungemessene an. Genauere Kunde darüber gibt die Zusammenstellung, die beim Tode Ramses' III. über den Besitz der Götter, ihre Einkünfte und die ihnen neu zugekommenen Gaben gemacht worden ist978. Daraus ergibt sich zugleich, [510] wie unendlich Amon von Theben tatsächlich die beiden anderen, ihm offiziell gleichberechtigt zur Seite stehenden Reichsgötter, den Atum-rê' von Heliopolis und den Ptah von Memphis überflügelt hat – die übrigen Götter und Tempel kommen demgegenüber kaum in Betracht. Danach gehört dem Amon etwa ein Zehntel des Kulturbodens Ägyptens, mit 81322 Leibeigenen, 421362 Stück Vieh u.s.w.; der Grundbesitz des Atum-rê' beträgt kaum den fünften, der des Ptah gar nur den fünfundachtzigsten Teil der Grundfläche des Amon, jener mit 12963 Menschen und 45544 Rindern, dieser mit 3079 Menschen und 10047 Rindern.

So ist der Besitz des Amon zu einem Staat im Staat erwachsen. Eine starke Regierung vermag noch, die Hand über ihm zu halten, zumal die Ernennung der Oberpriester, auch wenn dafür formell das Orakel eingeholt wird, tatsächlich doch dem Pharao zusteht. Erschlafft aber die Staatsgewalt, so wird, zumal da gleichzeitig die Religiosität immer weiter anwächst, dieser Kirchenstaat seine eigenen Wege gehn und zuletzt den Herrscher zur Puppe machen oder vom Throne verdrängen. Das ist die Entwicklung, die sich, langsam und unbemerkt fortschreitend, in Ägypten vollzogen hat; durch sie hat schließlich das Königtum des Neuen Reichs sein Ende gefunden979.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 506-512.
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