Literatur. Kunst. Die Königsstädte.

Die hieroglyphischen Inschriften

[520] Die Anfänge einer höheren Kultur im chetitischen Gebiet gehn auf die im 3. Jahrtausend von Babylonien und Assyrien gekommenen Einwirkungen zurück. Neben den materiellen und technischen Elementen – zu denen auch der Gebrauch des Siegels gehört, für das hier (neben Zylindern und Knopfsiegeln) die Form des Petschafts vorherrscht – ist von hier auch die Schrift übernommen, die dann auch zur Schreibung der einheimischen Sprachen verwendet wird [520] und schließlich zur Entstehung einer chetitischen Literatur geführt hat. Sie beginnt mit Übersetzungen babylonischer Ritualtexte, Mythen und Sagen und mit lexikalischen Hilfsbüchern zur Erlernung der Schrift nach babylonischem Muster. Dazu treten dann, neben den Königserlassen, Chroniken und Urkunden, gleichartige Schriften in chetitischer Sprache. Auch auf diesem Gebiet macht sich das Reich fortschreitend immer selbständiger: während die von Subbiluljuma erhaltenen Vertragsurkunden alle, oft unbeholfen genug, in babylonischer (akkadischer) Sprache abgefaßt sind, wird von Mursil II. an immer häufiger das Chetitische verwendet; nur für den Verkehr mit Amurru und mit Ägypten wird die internationale Diplomatensprache beibehalten.

In den einheimischen Schriftwerken tritt wieder die Sonderstellung der Chetiter im Kreise der orientalischen Völker anschaulich hervor: während die gesamte Literatur sowohl Ägyptens wie der babylonisch-semitischen Welt anonym ist, nennen die chetitischen Schriften in der Regel den Verfasser, und zwar nicht nur bei von Priestern oder Priesterinnen verfaßten Werken über Vorzeichen und Rituale, bei denen die Autorität des Sachkenners die Zuverlässigkeit durch seinen Namen deckt993, sondern ebenso z.B. bei dem Werk des Kikkuli von Mitani über Pferdezucht und Wettrennen (o. S. 34f.). Darin zeigt sich eine Schätzung der Individualität auf geistigem Gebiet, wie sie sonst allen älteren Kulturen völlig fremd ist.

In der Architektur und der bildenden Kunst setzt sich die Entwicklung, die wir früher (S. 31f.) schon in Mesopotamien und Nordsyrien kennen gelernt haben, im chetitischen [521] Großreich weiter fort. Das größte Bauwerk ist die Hauptstadt Chattusas (Boghazkiöi). Sie liegt in einer sich nach Nordwesten öffnenden Talmulde des Hochplateaus, über die rings steile Felskuppen bis zu Höhen von 200 Metern aufragen, ja die Fläche der Oberstadt im Süden bis zu 300 Metern. Neben Babel ist sie weitaus die größte Stadt des damaligen Vorderasiens; auch die Ramsesstadt wird schwerlich größer gewesen sein. Ursprünglich mag hier, im Anschluß an die steilen und leicht verteidigungsfähigen Felsburgen, eine kleinere Stadt gelegen haben; in ihrer abschließenden Gestalt aber ist sie einheitlich, unter geschickter Benutzung des Terrains, als starke Festung angelegt. So darf man vielleicht vermuten, daß diese Anlage bei der Rückverlegung der Hauptstadt geschaffen ist, vielleicht erst unter Chattusil III. Der Mauerring aus großen Steinquadern, in regelmäßigen Abständen durch Türme verstärkt, mit einer niedrigeren Vormauer wie in den syrischen Festungen, ruht auf einem geböschten Erdwall, der an den exponiertesten Stellen, so beim Südtor, eine beträchtliche Höhe erreicht. Die Burgkuppen im Innern sind stark befestigt und durch Zwischenmauern verbunden; ebenso wehren in der Unterstadt mehrere solche Mauerlinien dem eingedrungenen Feinde das weitere Vorschreiten.

In der Gesamtanlage und der Technik des Mauerbaus stellt sich Boghazkiöi den im übrigen weit kleineren Festungen von Mykene und Tiryns zur Seite, ebenso in den durch Überkragung überwölbten unterirdischen Gängen (Poternen); an einer besonders exponierten Stelle, wo ein Gießbach das Stadtgebiet durchzieht und der Abhang durch eine Zwischenmauer gedeckt ist, sind diese unter dieser durch den Erdwall hindurchgeführt und ermöglichen rasche Ausfälle der Besatzung. Gleichartig ist eine Poterne tief unter dem Südtor, am höchsten Punkte des Stadtgebiets; außerdem gestatten hier zwei steile Treppen, die am Wall hinabführen, dem Feind größere Abteilungen entgegenzuwerfen, während er zugleich von den hoch darüber aufragenden Türmen beschossen wird. Auch die Stadttore sind unter der darüber [522] fortlaufenden Mauer durch den Wall geführt und überkragt. An den kolossalen Monolithen der Torpfosten eines dieser Tore ist ein Motiv verwendet, das sich schon an den ältesten Torlaibungen von Sendjirli findet (o. S. 32): ein mächtiger Löwe mit weit aufgerissenem Maul, aus dem zwischen den großen Eckzähnen die Zunge heraushängt, starrt schreckhaft den Nahenden entgegen. Gewaltig hebt sich der Kopf aus der riesigen Mähne hervor; durch die aus leuchtendem Stein eingesetzten Augen, durch die Grimm atmenden Nüstern mit den riesigen Barthaaren darunter wird der Eindruck des Furchtbaren noch gesteigert. Dagegen sind Beine und Krallen nur in plumpen Umrissen angedeutet. Offenbar hat man mit Absicht an dem archaischen Stil festgehalten und volle Wiedergabe der Naturwahrheit garnicht erstrebt: es sind überirdische Wesen, die den Schutz der Stadt übernehmen. Das Motiv hat weithin nachgewirkt: aus ihm ist der Erstarrung und Tod bringende Gorgokopf der Griechen hervorgegangen994.

Bei den übrigen Toren fehlen diese Löwen. Dagegen steht an der Stadtseite eines anderen Tores, durch das die Hauptstraße ins Binnenland nach Südwesten führt, in hohem Relief die Gestalt des Kriegsgottes, der hier den zum Kampf ausrückenden Truppen zuschaut, bekleidet nur mit einem kurzen Leibrock, in der Rechten die Streitaxt, im Gürtel das Dolchmesser, auf dem Haupt den nach babylonischer Art mit einem Horn als Abzeichen der Göttlichkeit geschmückten Helm, unter dessen Nackenschirm der lange chetitische Zopf über die Schulter herabfällt. Die Stellung der Gestalt: Kopf und Beine im Profil, die behaarte Brust von vorn, die Linke geballt erhoben, ist durchaus die in der ägyptischen wie in der vorderasiatischen Kunst herkömmliche. Die sorgfältige Modellierung der Muskulatur an Brust und Knie, die etwas weichlichen Gesichtszüge, die durch die zu leisem Lächeln [523] verzogenen Mundwinkel einen wohlwollenden Ausdruck erhalten, erinnern an archaisch-griechische Skulpturen; es ist bei weitem das beste Werk, das uns von chetitischer Kunst erhalten ist, und bestätigt so, daß Mauer und Tor der jüngsten Epoche des Reichs angehören995.

In dem großen Turm über dem Südtor sind die Türlaibungen zu beiden Seiten mit geflügelten Sphinxen geschmückt, die den Laibungslöwen in Sendjirli entsprechen. Dies Motiv, solche Fabeltiere als Wächter des Eingangs aufzustellen, ist später bekanntlich von den Assyrern übernommen worden, ebenso wie die Verkleidung der Wände mit Reliefplatten, die wir in Sendjirli und in Tell Chalaf, vielleicht bereits nach ägyptischem Vorbild, schon in den ältesten Bauten finden, während sie der babylonischen Bauweise ganz fremd ist.

Im Innern der Stadt sind die Grundrisse mehrerer kleinerer Gebäude in der Oberstadt und eines großen in der Unterstadt aufgedeckt, letzteres rings von Reihen langgestreckter Kammern umgeben, die den Magazinen der kretischen Paläste gleichen und demselben Zweck, der Aufbewahrung der Tribute, Lebensmittel und Schätze dienten; außerdem befand sich in ihnen ein Archiv, dem wir einen großen Teil der Tontafeln verdanken. So ist dieser Bau wohl nicht ein Tempel, sondern ein Palast, der aber auch einen Kultraum enthielt. Ein zweites nicht minder ergiebiges Archiv lag in der großen Zitadelle [524] (Böjükkale) im Osten der Stadt; ein weiteres in dem Tempel der Sonnengöttin von Arinna wird in den Texten oft erwähnt.

Etwa vier Meilen nördlich von Boghazkiöi, auf dem Hügel Üjük (richtiger Hüjük), liegen die Reste einer chetitischen Königsburg, von der das von zwei mächtigen Sphinxen flankierte Eingangstor und auf den Steinplatten der Umfassungsmauer mehrere Reliefs erhalten sind, so eine Kultszene, in der König und Königin den auf einem Postament stehenden göttlichen Stier verehren, nebst der daran anschließenden Prozession, ferner Jagden auf Hirsche und einen Eber. An der rechten Innenfläche des Toreingangs ist unter einer Göttin das Reichswappen angebracht, ein doppelköpfiger Adler, der mit den Krallen zwei kauernde Hasen packt996. Diese Reliefs tragen noch einen durchaus primitiven und naiv unbeholfenen Charakter; somit ist Üjük wesentlich älter als Boghazkiöi und mag vielleicht noch beträchtlich vor Subbiluljuma erbaut sein.

In den Sphinxen ist eine in Ägypten geschaffene und nur hier bedeutungsvolle Gestalt, äußerlich schon in Syrien in einen weiblichen Dämon umgewandelt, von den Chetitern als Schirmer der Burg und Abwehrer der Feinde übernommen; auch Kopftuch und Haartracht der Sphinxe von Üjük sind nach mißverstandenen ägyptischen Vorbildern gebildet997. Auch sonst tritt, den politischen und kulturellen Verhältnissen entsprechend, die ägyptische Einwirkung in der Kunst stark hervor und überwuchert die älteren aus Babylonien stammenden Motive. Hierher gehören die Grabstelen mit Darstellung des Totenmahls, die sich im Taurusgebiet (Mar'aš, Sendjirli) vielfach erhalten haben, aber in einem Exemplar auch im Sangariosgebiet südwestlich von Angora; und gerade dieses Relief ist so primitiv und berührt sich so eng mit denen[525] von Üjük, daß dadurch zugleich seine Zeit bestimmt ist998. Weiter aus Ägypten übernommen ist die geflügelte Sonnenscheibe. Auch dieses Symbol wird natürlich mißverstanden und umgedeutet, aus den von der Sonne herabhängenden Uraeusschlangen ein Vogelschwanz gemacht, in die Scheibe ein Stern oder eine Mondsichel gesetzt999. In dieser Gestalt schwebt sie über der Figur des Sonnengottes und ebenso über dem Namen seines irdischen Repräsentanten, des Königs.

Wie es den Chetitern gelungen ist, mit den primitiven Mitteln ihrer Kunst dennoch ihre religiösen Anschauungen in den Götterbildern eigenartig und wirkungsvoll darzustellen und damit in die religiöse Symbolik neue bedeutsame Motive einzuführen, die sich weithin verbreitet haben, ist früher schon dargelegt1000. Dort ist auch die eindrucksvollste dieser Darstellungen besprochen worden, die große Götterprozession in der Felsschlucht von Jazylykaja bei Boghazkiöi, die geradezu zu einem Weltbild geworden ist. Hier finden sich neben den Göttern und den Königsbildern auch Beischriften in einer eigenartigen Hieroglyphenschrift. Diese Schrift1001 hat sich, zum Teil in einer Kursive, bis weit in die Assyrerzeit hinein erhalten und tritt uns damals auf nicht wenigen Denkmälern aus Nordsyrien und dem Taurusgebiet entgegen. So wird vielfach angenommen, sie sei erst nach dem Fall des Chetiterreichs von einem ganz an deren Volk geschaffen worden. Aber die Skulpturen von Jazylykaja lassen sich von der Chetiterstadt Boghazkiöi unmöglich trennen; und die vollständige Übereinstimmung des hier dargestellten, von Tešub umarmten Königs mit dem Siegel Chattusils auf der ägyptischen Vertragsurkunde [526] beweist vollends, daß hier ein König des Chetiterreichs, wahrscheinlich eben Chattusil III., dargestellt ist und daß er diese Skulpturen geschaffen hat.

So werden wir annehmen müssen, daß sich die Che-titer neben der Keilschrift für monumentale Darstellungen nach ägyptischem Vorbild eine eigene Bilderschrift geschaffen haben1002, die dann später auch zum Schreiben (z.B. auf Bleitafeln und auf Gefäßen) benutzt wurde, vielleicht auch von ganz anderssprachigen Völkern. Völlige Sicherheit wird natürlich nur zu gewinnen sein, wenn die Entzifferung, die bisher allen Bemühungen getrotzt hat, doch noch gelingen sollte.

Denkmäler mit Königsnamen in dieser Schrift haben sich auch sonst mehrfach gefunden1003. Einer steht am Anfang einer ganz verwitterten Inschrift an einer Felswand (Nišantaš) unterhalb der Burg Sarykale in Boghazkiöi. Südlich vom Argaeos, bei Fraktin am Zamanti-su, ist ein nur in Umrissen skizziertes Felsrelief1004 offenbar aus ziemlich früher Zeit erhalten, auf dem ein König und eine Königin, beide mit beigeschriebenen Namen, einem Gott resp. einer Göttin [527] libieren. Der Name des in Jazylykaja von Tešub umarmten Königs, also wahrscheinlich Chattusils, kehrt auf einem Altar in Emirghazy in Lykaonien wieder. In der Nachbarschaft, an einem Hügel des Gebirges Karadagh mit den Ruinen einer Festung, sind mehrere Inschriften eines anderen Königs erhalten, davon eine neben seinem roh in den Felsen geritzten Bilde, das ihn auf dem Thron sitzend darstellt. Somit hat sich das Gebiet des Reichs jedenfalls bis zum isaurischpisidischen Alpenland hin erstreckt, was durch die Angaben der Inschriften bestätigt wird. Weiter nördlich, jenseits der zentralen Steppe, liegen auf einem Felsen die von einer mächtigen Steinmauer umschlossenen Ruinen einer großen Königsburg (Giaurkalessi, südwestlich von Angora), die derselben Zeit angehört; an der Felswand sind zwei Götter in der Tracht des Tešub dargestellt, die auf eine vor ihnen sitzende Göttin zuschreiten1005.

Die besprochenen Monumente zeigen, daß die chetitische Kunst sich selbständig neben die ägyptische und babylonische gestellt hat und in aufsteigender Entwicklung begriffen ist. Diese Entwicklung ist durch den jähen Untergang des Reichs geknickt worden und sie ist verkümmert; aber die Schöpfungen, die das Gepräge ihrer Eigenart tragen, haben noch lange tiefgreifend nachgewirkt sowohl auf Syrien und Assyrien wie nach Westen auf die Entwicklung der griechischen Welt.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 520-528.
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