Organisation und Charakter des chetitischen Reichs

[512] Neben dem Pharaonenreich steht, seit dem Bündnisvertrag von diesem als gleichberechtigte Großmacht anerkannt, das Reich der Chetiter. Auch in seiner inneren Gestaltung sucht dieses es dem Ägypterreich gleichzutun. Geschaffen ist es durch die Herrscher eines Fürstentums im Innern Kleinasiens, die ihre Macht über die Nachbargebiete ausdehnen und neben dem alten Titel »König von Kussar« den eines »Königs von Chatti« annehmen; seit aber Subbiluljuma die Unterwerfung der Küstengebiete und der syrischen Lande wieder energisch aufnahm und ein wirkliches Großreich begründete, setzt er, und ebenso seine Nachfolger, vor seinen Namen den Titel »Sonne« und redet von sich in offiziellen Erlassen als »meine Sonne«. Das knüpft daran an, daß auch bei den Chetitern die Sonnengottheit an der Spitze des Pantheons steht, ist aber offenbar nicht organisch aus den einheimischen Anschauungen erwachsen, wie in Ägypten, sondern diesem nachgebildet: neben den Pharao, den der Sonnengott (und zugleich alle anderen Götter) als Sohn gezeugt hat, tritt der Chetiterkönig wohl nicht so sehr als Inkarnation, als vielmehr als irdischer Repräsentant der Sonne selbst980. So schwebt denn auch in den hieroglyphischen Inschriften [512] der Chetiter über dem Namen des Königs die geflügelte Sonnenscheibe, und in den Reliefs von Jazylykaja bei Boghazkiöi trägt er die Tracht und den Krummstab des Sonnengottes. In einem dieser Bilder umschließt der Donnergott Tešub, der Schirmherr des Reichs, den König mit dem linken Arm981; es ist genau dieselbe Gestalt, in der nach der Angabe der ägyptischen Inschrift das Siegel des Chattusil auf der an Ramses geschriebenen Vertragsurkunde angebracht war.

Zum Namen des Großkönigs gehört ferner das Beiwort »der Tapfere«982; er ist in erster Linie der Heerführer, der wie der Pharao an der Spitze seiner Truppen kämpft und sie zum Siege führt. Daneben hat er vor allem den Verkehr mit den Göttern zu pflegen und die zahllosen Zeremonien des bis ins Kleinste ausgearbeiteten Kultrituals gewissenhaft zu vollziehn; wie der Pharao und wie die babylonischen Könige ist auch er dadurch in seinem öffentlichen Auftreten auf Schritt und Tritt gebunden und seine Bewegungsfreiheit beschränkt. Zur Seite steht ihm eine zahlreiche Hofbeamtenschaft und daneben seine Hauptgemahlin, die in derselben Weise wie in Ägypten als Mitregentin angesehn wird und ihren starken Einfluß auch nach seinem Tode als Königinmutter behaupten kann. Im Tode geht der König dann wie der Pharao in die Götterwelt ein – »er ist Gott geworden« [513] ist der offizielle Ausdruck für seinen Tod –; auch hier werden, wie in Ägypten, der ganzen Reihe der verstorbenen Herrscher Totenopfer dargebracht983.

Neben diesen Übereinstimmungen und Entlehnungen treten aber auch die Unterschiede beider Reiche stark hervor. Vor allem fehlt dem Chetiterreich die geschlossene Einheit des Nillandes, sowohl geographisch wie national. Die Könige von Chattusas (Boghazkiöi) haben in fortwährenden Kämpfen den Hauptteil des östlichen Kleinasiens von den Taurusketten und der zentralen Steppe bis zum Schwarzen Meer als Chattireich zusammengefaßt, mit Angliederung des Königreichs Kizwadna, das ihnen jetzt durch die Ehe Chattusils III. mit der aus dem dortigen Priestergeschlecht stammenden Königin Puduchepa noch fester verbunden war984. Den Hauptteil, abgesehn vom Irisgebiet und den Landschaften am Taurus und Antitaurus, kann man als Stromgebiet des Halys bezeichnen; jedoch eine innere Einheit vermag ihm dieser Fluß nicht zu geben, der es in weitem Bogen durchzieht, aber weder schiffbar ist noch seine Ufer befruchtet.

Wie schon zur Zeit der assyrischen Handelskolonien des 3. Jahrtausends zerfällt dieses Gebiet in zahlreiche kleine Gaue mit städtischem Mittelpunkt und lokaler Selbstverwaltung durch die Ältesten; die Reste dieser ummauerten Ortschaften liegen unter den Schutthügeln (türkisch Hüjük), die weithin über die Landschaften zerstreut sind985. Sie alle haben ihre lokalen Gottheiten; zusammen bilden sie »die 1000 Götter des Chattilandes«, die wichtigeren werden in den Vertragsurkunden in langer Liste namentlich als Zeugen aufgerufen. Manche dieser Kultstätten sind zu ansehnlichen Heiligtümern mit reichem Besitz und großen Scharen von Hörigen erwachsen; mehrere dieser »Gottesländer«, so Komana am Iris und die gleichnamige Stadt am Saros, haben sich durch allen Wechsel der politischen und nationalen Gestaltung hindurch [514] als selbständige Priesterfürstentümer bis in die römische Zeit hinein erhalten.

In der Regel waren, so scheint es, die kleineren Stadtgebiete zu größeren Verwaltungsbezirken zusammengefaßt, die an die Magnaten des Hofstaates und des Heeres, darunter die Angehörigen des Königshauses, vergeben wurden. Zu ihnen gehören vor allem das »obere Land« und das Königtum von Chakpis, mit denen, nebst zahlreichen anderen Gebieten, Chattusil von seinem Bruder belehnt wurde (o. S. 446. 472). Offenbar war die wirtschaftliche Entwicklung nicht so weit fortgeschritten, daß ein wirklicher Beamtenstaat wie der des Neuen Reichs möglich gewesen wäre; man konnte lokale, selbständig gestellte Machthaber nicht entbehren, und das Reich stand eher auf der Stufe, die Ägypten nach dem Ende des Alten Reichs erreicht hatte und aus der dann die Monarchie des Mittleren Reichs erwachsen war.

Dazu kommt weiter, daß die Bevölkerung nichts weniger als homogen ist. Die für manche Kultgesänge und Beschwörungen vorgeschriebenen, zum Teil auch in literarischen Texten vorliegenden Sprachen, das Protochattische, Charrische, Luwische, Balaische, sind nicht etwa nur durch die geheiligte Tradition künstlich im Kultus beibehalten, wie das Sumerische in Babylonien, das Sanskrit in Indien oder die christlichen Kirchensprachen, sondern völlig lebendige Volkssprachen; Unterschiede in der Rechtsstellung ihrer Gebiete finden sich auch im Gesetzbuch986. Die darüber gelagerte chetitische Reichssprache aber ist eine aus den verschiedensten Elementen gebildete Mischsprache, die äußerlich in ein indogermanisches Flexionsschema gezwängt, aber im Wortschatz ganz von fremdem Gut überwuchert ist. So ist sie nicht organisch erwachsen und schwerlich wirklich bodenständig gewesen, sondern macht weit eher den Eindruck einer künstlichen Bildung oder eines aus dem Sprachwirrwarr entstandenen Notbehelfs. Jedenfalls zeigt sie, daß der Volksstamm, von dem das Reich ausgegangen [515] ist, sich nicht rein erhalten hat, sondern sich aufs stärkste mit der unterworfenen Bevölkerung gemischt haben muß.

Bei den sich immer wiederholenden Aufständen und den Invasionen der Gasgaeer werden diese Gegensätze mitgewirkt haben ebenso bei der zeitweiligen Verlegung der Hauptstadt ins »Unterland« durch Muwattal (o. S. 446). Jedenfalls ist klar, daß der Zusammenhalt des Reichs wesentlich auf der Armee und auf der Persönlichkeit des Königs beruht. In der Götterwelt wird es beschirmt durch die großen Reichsgötter, die (weibliche) Sonnengottheit des großen Zentralheiligtums von Arinna, »die im Chattilande das Königtum des Königs und der Königin lenkt«, und den Donnergott (Tešub) »den Herren des Chattilandes«987.

Das Regiment des Königs ist nicht die Willkürherrschaft eines Eroberers, sondern beruht auf einer festen Rechtsordnung, zu deren Durchführung er berufen ist. Wie seit alters in Ägypten, Babylonien und Assyrien sind ihre Sätze auch im chetitischen Reich in einem Rechtsbuch niedergelegt, von dem uns nahezu 200 Paragraphen erhalten sind988. Dadurch gewinnen wir zugleich einen Einblick in die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Die Grundlage bildet natürlich Landwirtschaft und Viehzucht; daneben sind alle Gewerbe vertreten, und ebenso, wie seit alters, die Kaufleute und Händler. Im Geschäftsverkehr herrschte, wie in ganz Vorderasien, die babylonische Rechnung nach Silbergeld mit sexagesimaler Gliederung der Gewichtseinheiten (Talent, Mine, [516] Šeqel); auch die Bußen für Körperverletzung, Diebstahl, Sklavenraub, Geldfrevel und andere Vergehen sind vielfach neben oder an Stelle der Sachentschädigung in Geld zu entrichten. Ebenso sind die Normalpreise für Vieh, landwirtschaftliche Produkte, Zeugstoffe, Tierhäute u.a. im Gesetzbuch festgesetzt989.

Die Rechtsstellung der Bevölkerung zeigt zahlreiche Abstufungen, von den Vollfreien bis hinab zu den niedrigeren Berufen und zu den Sklavenmassen, deren Stellung und Ehen gleichfalls gesetzlich geregelt sind, so daß sie eher als Hörige oder Leibeigene betrachtet werden müssen. Sie werden großenteils aus den Scharen von Kriegsgefangenen hervorgegangen sein, die seit Subbiluljumas Kriegszügen ins Chattiland verpflanzt worden sind. Der Hauptteil der Gutshöfe ist freies Eigentum, mit zahlreichen Leibeigenen – einen Anhalt zur Schätzung der Zahl der Knechte gibt neben anderen Sätzen die Bestimmung, daß wer einen freien Menschen, Mann oder Frau, erschlägt, dafür vier Köpfe, für einen Sklaven oder eine Sklavin zwei zu stellen hat. Anderes Land ist vom König verliehenes Lehensgut, mit der Verpflichung zu persönlichem Kriegsdienst. Auch sonst liegt, so scheint es, auf den Grundstücken die Verpflichtung zur Stellung von Kriegern, die dafür auch gegen Lohn gemietet werden können; daneben finden wir Gefolgsleute, die sich den Vollkriegern angeschlossen haben – man kann dabei vielleicht an die Schildträger und Kutscher der Wagenkämpfer denken. Auch die Abgabenpflicht ist nach der Rechtsstellung des Grundbesitzes und der Privilegien der einzelnen Volksgruppen verschieden geregelt.

Charakteristisch für das chetitische Gesetzbuch ist das Streben nach gerechter und maßhaltender Abwägung der gegebenen Bedingungen und eine humane Gesinnung, die schon [517] in der Gesetzgebung des Telibinus (o. S. 28) eindrucksvoll hervortritt. Nur ganz selten werden Leibes- und Lebensstrafen, Verstümmelungen u.ä. verhängt, in scharfem Gegensatz gegen die harten Strafen der babylonischen und assyrischen und auch der ägyptischen Gesetze. Wir werden darin ein Erbteil erblicken dürfen, das das herrschende Volk aus indogermanischer Vorzeit mitgebracht und weiter ausgebildet hat. Wenn auch für Totschlag nur Ersatz des Erschlagenen durch mehrere »Köpfe«, für Körperverletzung nur eine hohe Geldbuße verlangt wird – für den Leibeigenen die Hälfte des Satzes für den Freien –, so liegt dem allerdings die Anschauung aller auf naturwüchsiger Kulturstufe stehenden Völker zugrunde, die die Tötung noch nicht als kriminelles Verbrechen betrachtet und dafür nur eine Blutbuße verlangt; aber sie ist mit Bewußtsein festgehalten und weitergebildet, und das Talionsrecht (»Auge um Auge, Zahn um Zahn«), das sonst auf dieser Stufe überall herrscht, ist völlig aufgegeben. In der auf uns gekommenen Redaktion, die aus der Zeit des Chattusil III. oder seiner Nachfolger stammen wird, wird mehrfach hervorgehoben, daß die älteren Sätze jetzt noch weiter gemildert sind, und ebenso, daß der König auf die Gebühren, die er in solchen Fällen früher »für den Palast« erhob, jetzt verzichtet hat. Bei schweren Verbrechen, z.B. der mit dem Tode bestraften Unzucht mit einem Tier oder der Vergewaltigung einer Ehefrau, ist dem König das Begnadigungsrecht vorbehalten. Dieser Denkweise entspricht die überraschend milde Behandlung, die besiegten Feinden, äußeren und inneren, durchweg zuteil wird, während die Pharaonen und ebenso die semitischen Könige, so die der Assyrer und der Israeliten, oder später die Römer, ihrem Grimm in Abschlachtung und brutaler Mißhandlung der Besiegten freien Lauf lassen. Das ist umso auffallender, da die Chetiterkönige in ihren Inschriften immer bemüht sind, nachzuweisen, daß sie streng rechtlich verfahren sind. Sie wollen keine nach fremdem Gut verlangenden Eroberer sein, sondern haben zu den Waffen nur gegriffen, wenn die Erfüllung [518] ihrer durch frühere Verträge begründeten Ansprüche und Forderungen verweigert ist. Dann bleibt ihnen, wenn alle Verhandlungen erfolglos sind, nichts übrig, als der Appell an das Gottesgericht des Krieges, das der gerechten Sache den Sieg gewährt. Fällt die Entscheidung gegen den König oder trifft ihn sonst ein Unglück wie z.B. die langjährige Epidemie nach dem Kriege Subbiluljumas gegen Ägypten (o. S. 404), so sucht er den Grund seiner Verschuldung – so bekennt Mursil, daß sein Vater den Krieg gegen Ägypten rechtswidrig begonnen hat – und bemüht sich, die verscherzte Gunst der Götter durch Sühnezeremonien wiederzugewinnen.

Diese Auffassung, die lebhaft an das Verhalten der Römer bei ihren Kriegen erinnert, regelt auch das Verhalten zu den Göttern. Hier ist der Ritualismus, der alles Gewicht auf die korrekte Vollziehung der vorgeschriebenen Handlungen legt, in ähnlicher Weise ausgebildet, wie später bei Etruskern und unter ihrem Einfluß bei den Römern. Hierher gehört auch die Ausbildung der Lehre von den Vorzeichen aus Opfern und Vogelflug und aus Prodigien aller Art und die bestimmte Formulierung der darauf begründeten Anfragen über die Deutung beim Orakel, das dann die Entscheidung gibt. Darauf hat Babylonien stark eingewirkt, wo ja diese Künste seit langem voll entwickelt sind, so vor allem in der Beobachtung der Vorzeichen, die Sonne und Mond und andere Himmelserscheinungen geben990. Eigenartig und [519] wieder ganz mit dem römischen Ritual übereinstimmend ist, daß wenn man eine feindliche Stadt zerstören will, ihren Göttern Opfergaben hinstellt und sie aufgefordert werden, auf dem ihnen durch daraufgelegte bunte Tücher bezeichneten Wege die Stadt zu verlassen; dann soll der Reichsgott Tešub sie zerstören und seinen Stieren zum Weideland geben, kein Mensch soll sie wieder besiedeln991. Ebenso wird in einem Gebet die Istar von Ninive – die mächtige Göttin, deren Kult sich weithin über Mesopotamien und die nördlichen Gebirgslande verbreitet hat (vgl. S. 356) – angerufen, aus allen Orten, wo sie wohnen mag, herbeizukommen, dem Königshause und dem Chattilande Segen zu bringen und den Feinden ihre Kraft zu rauben und hier Männer wie Frauen unfruchtbar zu machen992.

Im übrigen muß für die chetitische Religion ein Verweis auf die Darstellung im ersten Bande (§ ff.) genügen; denn für eine Ausnutzung des in den Urkunden aus Boghazkiöi enthaltenen Materials und eine Erörterung der Frage, ob in ihr neben den von der älteren Bevölkerung übernommenen und den aus Babylonien eingedrungenen Anschauungen noch indogermanisches Gut erhalten ist, ist die Zeit noch nicht gekommen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/1, S. 512-520.
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