Allgemeiner Überblick

Die große Völkerbewegung, die um die Wende zum 12. vorchristlichen Jahrhundert die gesamte Umwelt des Mittelmeers erschüttert und umgewandelt hat, bildet einen tiefen Einschnitt in ihre politische und kulturelle Gestaltung. Sowohl die innerlich schon erschlaffte kretisch-mykenische Kultur wie die aufstrebende Gestaltung der chetitischen Kultur sind in diesen Stürmen zugrunde gegangen. Das chetitische Großreich ist zusammengebrochen; die Versuche der Assyrerkönige, im Kampf mit diesem sowie mit Babylonien eine größere Macht zu begründen, sind überrasch vorübergehende Erfolge nicht hinausgekommen; das Pharaonenreich hat sich zwar unter Ramses III. noch einmal siegreich behauptet, aber damit sind seine Kräfte erschöpft; der Herrscherwille erlahmt, und so entgleitet ihm ohne Eingriffe von außen die führende politische Stellung, die es vier Jahrhunderte hindurch eingenommen hatte. Eine neue Großmacht, die imstande gewesen wäre, die vakante Stellung einzunehmen, hat sich jahrhundertelang nicht gebildet; auch die Versuche der Assyrerkönige, die zentralen Gebiete zu einer Einheit zusammenzufassen, haben bis in die Mitte des 8. Jahrhunderts hinab eine feste Gestaltung nicht zu schaffen vermocht.

So entschwindet der universelle Zusammenhang, der seit dem 16. Jahrhundert die Völker des vorderen Orients nebst der ägaeischen Welt zu einem Staatensystem mit reger politischer und kultureller Wechselwirkung verbunden hatte. An Beziehungen zwischen den einzelnen Gebieten, an Verkehr und Kriegen fehlt es auch jetzt nicht; aber im allgemeinen stehn die einzelnen Völker fortan jahrhundertelang isoliert nebeneinander, und ihre äußere Geschichte verläuft in derselben ermüdenden Monotonie, wie schon seit langem die der mesopotamisch-babylonischen Welt. Es ist eine Epoche der Kleinstaaterei [3] und lokalen Stillebens, deren Charakter auch durch die zeitweiligen Erfolge der Assyrer nicht wesentlich geändert wird.

Bezeichnend dafür ist, daß, im Gegensatz zu der vorhergehenden Epoche, in dieser ganzen Zeit monumentale Bauten von größerer Bedeutung nirgends geschaffen wurden, weder in Vorderasien noch in Ägypten noch in der ägaeischen Welt. Auch die bildenden Künste stagnieren. Die alten Formen setzen sich im Kunsthandwerk fort und mischen sich im Handelsverkehr, der zu Lande und zur See die einzelnen Völker verbindet. Aber ein Kunstwerk von selbständiger Bedeutung oder gar einen neuen lebenskräftigen Stil haben diese Jahrhunderte an keiner Stelle zu erzeugen vermocht.

Wohl aber ist, eben durch die Ohnmacht der größeren Mächte, kleineren Volkstümern und Staatenbildungen der Spielraum zu freier Entwicklung und individueller Gestaltung gegeben; dadurch ist ebensowohl das Aufblühen des phoenikischen Händlervolks mit seinen Entdeckungsfahrten und Kolonien und die Ausbreitung der Aramaeer in Syrien und Mesopotamien ermöglicht worden, wie die ungehemmte Ausbildung einer selbständigen geistigen Kultur bei den Israeliten und bei den Griechen. Daneben steht in Ägypten die Weiterbildung der aus seiner alten Kultur hervorgewachsenen Ideen zu abschließender Gestaltung des Volkstums und seiner staatlichen Form. Charakteristisch für alle diese Bildungen, so verschiedenartig sie gestaltet sind, ist das immer stärkere Hervortreten der Religion, in der das einzelne Volkstum seine Eigenart auszuprägen und dauernd festzulegen strebt; das tritt auch in der Entwicklung hervor, welche seit dem 8. Jahrhundert in der griechischen Welt einsetzt, sowenig auch ihre Bedeutung damit erschöpft ist.

Aus dieser Gestaltung der Weltlage ergibt sich, daß wir jetzt, anders als in der vorhergehenden Epoche, die Entwicklung der einzelnen Völker bis zum 8. Jahrhundert hinab gesondert darstellen müssen. Wir beginnen mit Ägypten und lassen dann die Gebiete der vorderasiatischen Welt folgen, soweit sie sich überhaupt geschichtlich erkennen lassen, Phoeniker, Israeliten, [4] Aramaeer und Assyrer. Es könnte naheliegen, daran gleich die ältere griechische Geschichte anzuschließen und dadurch sowohl den Parallelismus wie den Gegensatz, vor allem zu der israelitischen Entwicklung, klar hervortreten zu lassen. Aber ratsamer erscheint es doch, zunächst die Geschichte des Orients zu Ende zu führen und dann erst, im nächsten Bande, die gleichzeitige Entwicklung der Griechenwelt und des Westens nachzuholen. Die entscheidende Wendung für den Orient bildet die Aufrichtung des assyrischen Großreichs durch Tiglatpileser III. und seine Nachfolger seit 745 v. Chr.; durch rücksichtsloses, streng methodisch durchgeführtes Vorgehen haben sie dem politischen Sonderleben der einzelnen Volkstümer überall ein Ende gemacht. Der Versuch, bei seinem Zerfall auf den Trümmern noch einmal ein Staatensystem aufzubauen, ist nach kurzem Erfolge gescheitert; die Erbschaft ist einem neu in die Geschichte eintretenden Volk zugefallen, den Persern, deren inneres Leben durch die Gestaltung bestimmt ist, die Jahrhunderte vorher der Prophet Zoroaster der iranischen Religion gegeben hatte. Die Formen, die das politische Leben im Weltreich der Achaemeniden angenommen hat, sind dann maßgebend geblieben für die gesamte Geschichte der vorderasiatischen Welt bis auf unsere Gegenwart hinab.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 1-6.
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