Der thebanische Gottesstaat und die volle Auflösung des Reichs. Das Reich von Napata

[49] Etwas mehr Material haben wir aus Theben;82 aber es reicht nicht aus, um ein wirklich zutreffendes Bild zu gewinnen.83 [49] Der Gottesstaat besteht auch unter der neuen Dynastie in den von Ḥriḥor geschaffenen Formen weiter, die Hohenpriester führen nach wie vor auch die militärischen Titel und heißen Oberste der Miliz, gelegentlich nicht nur der des Südens, sondern sogar der von ganz Ägypten. Aber erblich ist die Stellung nicht mehr, vielmehr haben die Könige regelmäßig einen ihrer Söhne zum Hohenpriester eingesetzt, Šošenq I. den Auput, Osorkon I. den Šošenq,84 Osorkon II. den Nimrod, der außerdem das in der Königsfamilie erbliche Hohenpriestertum von Herakleopolis besaß, Takelot II. den Osorkon.85 Unter diesem ist dann, im 15. Jahre seines Vaters, ein großer Aufstand ausgebrochen; aus den Bruchstücken seiner Annalen ersehen wir, daß er Süden wie Norden ergriffen hat und daß »Jahre vergingen im Kampf des einen gegen den anderen«. Schließlich konnte Osorkon vom Süden aus nach Theben zurückkehren und hat hier dann noch lange Jahre das Regiment geführt.

Mit diesen Kämpfen muß irgendwie das Emporkommen einer neuen Dynastie, der dreiundzwanzigsten, zusammenhängen. In der Liste Manethos wird sie als Nachfolgerin der Bubastiden betrachtet und als tanitisch bezeichnet; aber die Zeugnisse aus Theben beweisen, daß sie den späteren Bubastiden gleichzeitig [50] gewesen ist, und die Namen ihrer beiden ersten Könige, Petubastis und Osorkon III., zeigen, daß sie mit diesen irgendwie in Zusammenhang gestanden haben muß. Beide Könige finden sich in Datierungen aus Theben, und einzelne Doppeldatierungen lassen erkennen, daß beide Dynastien sich, wenigstens zeitweilig, vertragen haben müssen. Das gleiche lehrt die Inschrift eines Steinblocks aus Karnak, auf dem auf den vollen Königsnamen des Petubastis die Angabe folgt, daß der große Oberst Pašedbastit, Sohn des Königs Šošenq Meriamon, die große Tür aus hartem Stein gemacht hat.86

Daß die Hohenpriester danach strebten, die volle Selbständigkeit zu gewinnen, wie sie Ḥriḥor besessen hatte, ist sehr begreiflich; und so hat sich schon Šošenq, der Sohn Osorkons I., gelegentlich einmal auf einer dem Amon geweihten Statue des Nilgottes gewissermaßen verstohlen den Königstitel beigelegt87 und sein Amt auch auf seinen Sohn Harsiesis vererbt. Das gleiche finden wir gelegentlich bei einem anderen Harsiesis, obwohl er sonst offiziell immer nur den Priestertitel erhält. Das Anwachsen der Macht dieser geistlichen Fürsten ist auch sonst erkennbar; Osorkon, der Sohn Takelots II., schaltet wie ein Souverän in Theben und hat ganz wie ein König seine große Annaleninschrift auf die Wand der von seinen Vorfahren erbauten Bubastidenhalle im Tempel von Karnak gesetzt; in den Aufzeichnungen über die Höhe der Nilüberschwemmung wird der Datierung nach Königsjahren der Name des Hohenpriesters hinzugefügt, ja schließlich dieser in den Vordergrund gestellt und der König nur nebenbei als sein Vater erwähnt.

Im übrigen freilich bleibt vieles ganz dunkel. Vereinzelt tauchen Königsnamen auf, die wir nicht weiter unterbringen können. Am seltsamsten ist, daß die Statue eines Tochtersohnes des als König titulierten Hohenpriesters Harsiesis II. auf der [51] rechten Schulter zwei Königsnamen trägt, die so geschrieben sind, als bildeten sie einen einzigen: König Meriamon Takelot se Ise – Sohn des Re' Meriamon Osorkon se Ise.88 Dieser Osorkon wird Osorkon III., der Sohn des Petubastis, sein; Takelot (III.) mag ein Angehöriger der zweiundzwanzigsten Dynastie sein. Beide zusammen haben an einer Kapelle des Osiris in Karnak gebaut,89 die dann unter den Äthiopen vollendet worden ist; und neben ihnen steht hier Osorkons Tochter Šepenopet, die er dem Amon zum »Gottesweib« gegeben hat und die uns als solche alsbald wieder begegnen wird. Ganz klar tritt nur hervor, daß das Pharaonenreich sich in voller Auflösung befand und die Autorität der Könige der zweiundzwanzigsten Dynastie außerhalb von Memphis kaum noch irgendwo anerkannt wurde, während es um ihre Rivalen aus der dreiundzwanzigsten Dynastie nicht besser gestanden haben wird.

Inzwischen hatte in dem im Neuen Reich völlig zum Koloniallande gewordenen Nubien sich ein selbständiges ägyptisches Reich gebildet, das sich vermutlich bereits weiter nach dem Süden ausgedehnt hatte. Den politischen und religiösen Mittelpunkt bildete die Stadt Napata unterhalb des vierten Katarakts mit dem großen Amontempel am heiligen Berge (Gebel Barkal). Der Amonkult, in streng orthodoxer Gestalt, beherrschte die ganze Bevölkerung; die Herrscher waren eifrige Anhänger der in Theben ausgebildeten Lehre und bestrebt, das von der Priesterschaft entworfene Idealbild des Königtums zu verwirklichen (o. S. 45). Amon selbst hat sie durch sein Orakel eingesetzt; sie betrachten sich gegenüber den Königen und Machthabern in Ägypten als die legitimen Pharaonen und nehmen deren volle Titulatur an. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sie aus Nachkommen des alten thebanischen Hohenpriestergeschlechts des Ḥriḥor hervorgegangen sind, die sich in den Wirren nach Napata zurückgezogen hatten.90

[52] Etwa um 750 v. Chr. hat der äthiopische König, wohl zweifellos Kašta von Napata, sich der Herrschaft über die Thebais bemächtigt; Osorkon III. scheint sich ins Delta nach Busiris zurückgezogen zu haben, wo wir später einen König dieses Namens antreffen. Der selbständigen Stellung des Hohenpriesters von Theben hat der neue Pharao natürlich ein Ende gemacht und das Regiment im Namen Amons selbst übernommen. Das »Gottesweib Amons«, Osorkons Tochter Šepenopet, hat er offiziell in ihrer Stellung belassen und die offizielle Genossin des Gottes als Regentin des riesigen Tempelguts anerkannt; aber sie mußte seine Tochter Amenerdas adoptieren und dieser die Nachfolge übertragen. In derselben Weise sind dann seine Nachfolger verfahren. Dadurch wird eine künstliche Dynastie geschaffen; in Wirklichkeit dagegen ist auf diesem Wege, unter formeller Beobachtung der korrekten Formen, der Besitz des gesamten Kirchenstaats auf die jeweiligen Könige übergegangen.

Wie es im übrigen Ägypten aussah, zeigt anschaulich der ausführliche Bericht, den Kaštas Nachfolger Pi'anchi in einer großen Inschrift in Napata von dem Feldzug gegeben hat, den er in seinem 21. Jahre, um 725 v. Chr. geführt hat, als Tefnacht, der Dynast von Sais, daranging, sich zum Beherrscher Ägyptens zu machen. Nördlich von der Thebais folgt ein Kleinstaat auf den andern, überall haben sich die lokalen Machthaber selbständig gemacht; gerade das Element, das der Idee nach die Hauptstütze des Reichs hätte bilden sollen, der privilegierte Kriegerstand unter den »Großfürsten der Ma«, hat, wie immer in solchen Fällen, die volle Auflösung herbeigeführt.

Nicht weniger als neunzehn dieser Dynasten werden mit Namen genannt. Im nördlichen Oberägypten bestehn noch zwei Fürstentümer, deren Herrscher den Königstitel führen, Hermopolis unter Nimrod,91 seinem Namen nach ein libyscher Großfürst [53] und vielleicht ein Angehöriger der zweiundzwanzigsten Dynastie, und Herakleopolis unter König Pefnefdubast92, der also an die Stelle der früheren Hohenpriester getreten ist; auch sein Name weist auf Beziehungen zu den Bubastiden hin. In Letopolis besteht noch das Hohenpriestertum des Horus unter Peduḥarsamtawi. Memphis dagegen ist ebenso wie die Distrikte des westlichen Delta bereits von dem Herrscher von Sais, dem Fürsten der Ma Tefnacht, dem Begründer der vierundzwanzigsten Dynastie, besetzt worden. Er hat hier der Herrschaft der Bubastiden ein Ende gemacht93 und das Priestertum des Ptaḥ selbst übernommen94; jetzt ist er dabei, seine Herrschaft weiter über Oberägypten auszudehnen.

Neben ihm stehn zahlreiche Dynasten im Delta, die ihm großenteils Heeresfolge leisten. Darunter sind zwei Könige, Auput von Tentremu (und anderen Orten), vermutlich ein Nachkomme des in einem Datum in Theben unter Petubastis genannten Königs Auput95, und Osorkon von Busiris, wahrscheinlich identisch mit Osorkon III. oder etwa dessen Sohn. Daß ihnen der Königstitel zugebilligt wird, wird auch hier darauf beruhen, daß sie Angehörige der alten Königsgeschlechter sind. Von andern Fürstentümern werden genannt Mendes nebst dem benachbarten Hermupolis parva96, Sebennytos, Busiris, Kynopolis,[54] Athribis, ferner im Osten Phakusa und Phagroriopolis, weiter die Festung Babylon (Kairo) bei Memphis, und dazu mehrere, deren Sitz nicht angegeben oder nicht identifizierbar ist. Diese Dynasten erhalten meist den Titel hati'o, »Graf«, zwei den alten Fürstentitel rpa'ti; daß dabei eine bestimmte Rangordnung bestand, läßt sich nicht erkennen. Sie alle und dazu die Schaar der Ungenannten sind aber »Großfürsten der Ma« und »Häuptlinge, die die Feder tragen«; das zeigt deutlich, wie die Anarchie im Delta entstanden ist. Die Nachkommen dieser Dynasten treffen wir zwei Generationen später in derselben Stellung zur Zeit der Invasion der Assyrer.

Als Tefnacht immer weiter vordrang und auch Nimrod von Hermopolis sich ihm unterworfen hatte, hat Pi'anchi den an ihn ergehenden Hilferufen Folge geleistet (um oder bald nach 730). Seine Truppen warfen die Tefnachts auf dem Nil zurück und schlossen Nimrod in Hermopolis ein; Pi'anchi selbst zwang ihn dann zur Kapitulation, nahm seine Geschenke entgegen und hielt triumphierend seinen Einzug; er hebt hervor, daß er seine Weiber, als sie ihm huldigten, nicht angesehn habe, aber entrüstet war, als er sah, daß das schöne Gestüt durch den Hunger gelitten hatte. Alle folgenden Städte unterwarfen sich, nur Memphis mußte mit Sturm genommen werden. Nachdem er hier dem Ptaḥ geopfert und alle vorgeschriebenen Zeremonien vollzogen hatte, rückte Pi'anchi ins Delta vor. Alle kleineren Dynasten beeilten sich, vor ihm zu erscheinen und ihm mit reichen Gaben zu huldigen; als streng orthodoxer Ritualist bemerkt er, daß er von ihnen allen, weil sie Fische aßen und daher unrein waren, nur den Nimrod, der keine Fische aß, in sein Haus eintreten ließ, die übrigen mußten draußen bleiben. Auch Tefnacht gab den Krieg auf und erklärte sich bereit, den Huldigungseid zu leisten, wenn man ihn von dem persönlichen Erscheinen entbinde. Damit hat Pi'anchi sich zufrieden erklärt; deutlich sieht man, daß er empfand, daß seine Macht zur wirklichen Unterwerfung des Deltas nicht ausreiche, und froh war, eine Form zu finden, die wenigstens den Schein wahrte und die triumphierende Heimkehr gestattete.

[55] So ist Pi'anchis Kriegszug ohne nachhaltige Folgen geblieben. Es kann kein Zweifel sein, daß Tefnacht alsbald seine Eroberungen wieder aufnahm. Ihm ist sein Sohn Bokchoris gefolgt, der bei Manetho als einziger König der vierundzwanzigsten Dynastie erscheint und von dem wir wissen, daß er Memphis besessen hat. In der von den Griechen übernommenen Tradition leben beide Könige fort als einsichtige und gerechte Herrscher. Tefnacht soll auf einem Feldzug gegen die Araber die einfache Lebensweise, die er hier genießen konnte, gepriesen und den Menes als Einführer des Hofprunks verflucht haben; Bokchoris gilt als einer der großen Gesetzgeber Ägyptens, der vor allem das Schuldrecht verständig geordnet habe97. Außerdem knüpft an ihn die Erzählung von einem göttlich inspirierten Lamm, das ihm die über Ägypten hereinbrechenden Schicksale und die kommende Fremdherrschaft prophezeit und dann, wie immer in diesen Erzählungen, entseelt niedersinkt98.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 49-56.
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