Der Handel von Tyros

[127] Wie im Seeverkehr des Mittelmeeres haben die Phoeniker und ihre Industrien jetzt auch in dem längst zu einer Einheit erwachsenen und von einem einheitlichen Gewichtssystem beherrschten vorderasiatischen Handelsgebiet die Führung gewonnen. Ihre bunten Prachtgewänder und Stickereien, ihre reichgezierten Metallwaren aus Gold und Silber, Bronze und Zinn und die in derselben Weise mit bildlichen Darstellungen geschmückten, oft mit funkelndem Gestein, Ebenholz und Elfenbein ausgelegten Möbel, Truhen und Schmuckkästen waren überall begehrt und durften an keinem Fürstenhofe fehlen. Dazu kommen die Geschmeide, Halsketten, Ringe, Gürtel und Spangen und weiter die Spielsachen und aller Tand, der nicht nur im überseeischen Verkehr reichen Absatz und Gewinn einbrachte.

Auch im Landhandel sind die übrigen Städte von Tyros weit überflügelt. Im Jahre 586, als Nebukadnezar von Babel sich zum Angriff auf die Seefeste anschickte, hat Ezechiel ein Bild ihres Glanzes gezeichnet, das in Ermangelung älterer Schilderungen hier angeführt werden mag. Das Bauholz der Schiffsplanken sind Zypressen vom Senîr (Ḥermôn), die Masten Zedern vom Libanon, die Ruder sind aus den Eichen von Bašan gearbeitet; die Deckkajüten aus Fichtenholz, mit Elfenbein ausgelegt, liefert Cypern (Kition), das Segeltuch von buntem Byssos ist aus Ägypten bezogen, die Purpurdecken aus »den Inseln Elisas« (Karthago). Die Bewohner, ja die Ältesten und Räte von Sidon, Arados, Byblos sind seine Ruderer269. Alle Schiffe des Meeres finden sich in Tyros zusammen, um seine Waren einzutauschen. Zu seiner Besatzung haben die verschiedensten Völker Mannschaften gestellt270. Aus aller Welt bringen die [128] Händler ihre Produkte hierher, um damit die tyrischen Waren zu bezahlen: die Metalle aus Taršîš, Sklaven und eherne Gefäße aus Griechenland (Jawan) und von den Tibarenern und Moschern am Pontos, Pferde und Maultiere aus Togarma im östlichen Kleinasien, Elfenbein und Ebenholz aus Rhodos und zahlreichen Inseln. Edom liefert kostbare Steine und bunte Stoffe, Juda und Israel landwirtschaftliche Produkte, Damaskus Wein und Wolle. Die arabischen Häuptlinge bringen Kleinvieh, aus Saba kommen Balsam, Edelsteine und Gold. Schließlich werden, in zum Teil arg verstümmeltem Text, Charrân und die übrigen Gebiete Mesopotamiens bis nach Assur hin genannt.

Gar manches in dieser Schilderung gehört erst einer späteren Epoche an, als die Beziehungen sich sowohl durch die Entwicklung Griechenlands wie vor allem durch die Aufrichtung des assyrischen Großreichs verschoben und vielfach erweitert hatten. Indessen die Grundzüge, das Zusammenströmen der Naturprodukte des ganzen Verkehrsgebiets vom Atlantischen Ozean bis nach Mesopotamien und Südarabien in der seemächtigen Stadt gilt bereits für die ältere Zeit. Als das Wesentliche erscheint in Ezechiels Schilderung, daß diese Produkte von all den aufgezählten Völkerschaften nach Tyros gebracht werden, um mit ihnen die dort erhandelten Waren zu bezahlen, während er die Handelsfahrten der einheimischen Kaufleute nicht weiter erwähnt. Das ist in der Tat für die Stellung von Tyros bezeichnend. Wenn es sich zur See mit der Besetzung einzelner geschützter Punkte begnügen mußte und seine Machtmittel nicht ausreichten, irgendwo ein größeres in sich geschlossenes Kolonialreich zu schaffen – das haben erst viel später die Karthager getan –, so war es noch viel weniger imstande, seine Herrschaft über das Binnenland auszudehnen oder hier größere Faktoreien oder gar Kolonien anzulegen271. Der Handelsverkehr auf dem Festlande lag vielmehr nach wie vor in den Händen der alten Handelsstädte Syriens, in denen jetzt überall das aramaeische Element die Führung gewinnt. Von hier aus wurde er in der Wüste und [129] weiter nach Assur und Babel sowie nach Ägypten durch die Karawanen der arabischen Beduinen betrieben272, die die Pfade und Brunnen kannten und, wie noch heutigen Tages, durch Schutzverträge mit den Stämmen sicherten. Der Versuch Chirams, in Verbindung mit Salomo einen direkten Seeverkehr auf dem Roten Meere zu schaffen, ist nach kurzem Erfolge zusammengebrochen. Die vielbegehrten Produkte Südarabiens, Weihrauch, Harze und Gummi, kostbare Hölzer und daneben Gold, gelangten fortdauernd durch Zwischenhandel in die Mittelmeerwelt273; im Lauf des ersten Jahrtausends haben dann die Sabaeer und Minaeer diesen Verkehr in steigendem Maß selbst in die Hand genommen und durch Besiedlung von Zwischenstationen organisiert274.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 127-130.
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