Die Inseln und Nordafrika. Karthago

[105] Die Hauptstationen der Schiffahrt zwischen dem Mutterlande und dem Endziel in Gades bilden die Inseln des mittleren Mittelmeers. Über Sicilien berichtet Thukydides: »Die Phoeniker hatten rings um ganz Sicilien Vorgebirge und kleine vorliegende Inseln besiedelt, um mit den Sikelern Handel zu treiben; als aber die Griechen in Masse das Meer zu befahren begannen,« (also nach der Mitte des 8. Jahrhunderts) »verließen sie die meisten Plätze und zogen sich in den Westen nach Motye, Soloeis und Panormos zurück, wo ihnen die Verbindung mit den Elymern und die Nähe Karthagos Schutz gewährte«. Die Art des phoenikischen Handels tritt in diesem Bericht ganz anschaulich hervor; eine wirkliche Kolonisation und gar eine Besitznahme der Insel lag ihnen ganz fern. Die Ansiedlung auf der kleinen Insel Motye im Lagunen meer an der Westspitze war, wie ihr Name »Die Spinnerei« zeigt (auf Münzen אוטמה mit Artikel!), eine industrielle Faktorei; die Stadt, die wir unter dem griechischen Namen »Allhafen« Panormos kennen, während sie auf den Münzen den einheimischen Namen ץיצ führt, wird erst durch die Karthager zu Bedeutung gekommen sein, und ebenso das benachbarte Soloeis (vielleicht aus dem phoenikischen sela' »Fels« entstanden)209.

[106] Völlig besiedelt sind dagegen die mitten zwischen Sicilien und Afrika gelegenen Felsinseln Malta und Gaulos, deren geschützte Häfen für die Fahrt nach Spanien als Zwischenstationen ganz unentbehrlich waren210. Auf beiden Inseln sind blühende phoenikische Städte mit selbständiger Kommunalverwaltung und mit Heiligtümern des Melqart von Tyros und anderer phoenikischer Götter entstanden; die einheimische Bevölkerung, deren primitive neolithische Kultur mit großen Steinbauten längst verblüht war211, ist von ihnen offenbar in derselben Weise absorbiert worden, wie dann im Mittelalter von den Arabern. In der Folgezeit sind dann auch die Inseln Untertanen Karthagos geworden.

Ob die phoenikischen Seefahrer gelegentlich auch die Küsten Italiens und die Inseln des Westmeers aufgesucht haben, läßt sich nicht erkennen. Ägyptische Amulette und Skarabaeen, die sich mehrfach in etruskischen Gräbern finden, können auch durch andere Vermittler dorthin gelangt sein. Die großen phoenikischen Silberschalen, Kessel u.ä. aus etruskischen und latinischen Gräbern dagegen gehören jedenfalls erst der karthagischen Zeit an, und ebenso die Besiedlung und teilweise Unterwerfung [107] Sardiniens sowie die Besetzung der Pityusen; nach den Balearen sind Phoeniker überhaupt nicht gekommen212.

Die regelmäßige Fahrt nach dem Ozean ging vielmehr von Malta oder Sicilien nach Afrika hinüber, und hier, wie die Küstenbeschreibung des Skylax sagt, führt »von Karthago aus eine Küstenschiffahrt schönster Fahrt in sieben Tagen und sieben Nächten bis zu den Säulen des Herakles«. Bei der Rückfahrt kommt noch die längs der Küste nach Osten laufende Strömung hinzu. Hier an der sich gegen Sicilien vorstreckenden, buchtenreichen Nordostecke des Kontinents, die dann beim Kap Bon (Hermaion, promunturium Mercurii) schroff nach Süden umbiegt, haben die Tyrier mehrere Küstenplätze besiedelt. So vor allem Utika an der Bagradasmündung, nach dem von Timaeos bewahrten Datum der tyrischen Chronik im Jahre 1101 (o. S. 82, 2). Dazu kommt weiter westlich Hippo. Eine zusammenhängende Reihe von Städten findet sich nur in der Mitte der Ostküste: Hadrumeton, Leptis, Thapsos, Acholla213. Diese Kolonien mögen in den nächsten Jahrhunderten nach Utika zu verschiedenen Zeiten entstanden sein. Von einer anderen Gründung, von Auza in Libyen, berichtet eine Chroniknotiz, daß sie unter König Itoba’al (887-856) erfolgt sei214. Man hat diese Stadt häufig in dem späteren Auzea tief im Innern Algeriens (jetzt Aumale) [108] gesucht; aber es ist ganz undenkbar, daß die Tyrier jemals in diese Gegenden vorgedrungen sein sollten, die selbst zum Gebiet der Karthager niemals gehört haben; es muß ein ähnlich lautender Name eines sonst nicht bekannten Küstenorts sein, wie es deren in Libyen mehrere gibt. Den Abschluß bildet dann die Gründung von Karthago im Jahre 814/3.

Daß wir dies den tyrischen Annalen entnommene Datum als authentisch betrachten dürfen, ist früher schon dargelegt. Anders steht es mit der Gründungsgeschichte, die Timaeos daran angeknüpft hat; da ist aus Märchenzügen, einheimischen Traditionen und griechischen Erfindungen ein Roman zusammengebraut, der von den geschichtlichen Vorgängen keinerlei Kunde enthält215. Danach wäre die Stadt von einer Schwester des Königs [109] Pygmalion gegründet, der ihren Gatten, den Oberpriester des Melqart, getötet hatte, um sich seiner Schätze zu bemächtigen; ihr dagegen gelingt es durch List, mit diesen nach Afrika zu entkommen. Hier wird sie sowohl von den Utikanern wie von den Eingeborenen freundlich aufgenommen, und diese überlassen ihr den Boden der neuen Stadt gegen einen Jahreszins. Als aber Iarbas, der König der Maxyer216, sie zur Ehe zwingen will, gibt sie sich in den Flammen eines Scheiterhaufens selbst den Tod; und »solange Karthago unbesiegt war, ist sie als Göttin verehrt«.

Weiter ausgeschmückt ist die Erzählung durch Geschichten, die deutlich griechischen Ursprung und die Mache des Timaeos zeigen. Auf der Fahrt werden in Cypern achtzig Jungfrauen geraubt, die zur sakralen Prostitution ans Meer gekommen sind – da ist Herodot I 199 benutzt; außerdem geht der Priester des Zeus mit und wird Ahne des karthagischen Priestergeschlechts. Bei der Anlegung der Stadt findet man erst einen Rindskopf, der auf Fruchtbarkeit, aber Knechtschaft deutet, dann aber neben einer Palme einen Pferdekopf, der kriegerische Kraft und Macht verheißt; das ist daraus entnommen, daß Pferdekopf und Palme, teils nebeneinander, teils einzeln, regelmäßig als Wappen auf den karthagischen Münzen stehn217. Besonders bezeichnend ist, daß der Name der Burg, Byrsa, aus dem griechischen βύρσα »Haut« erklärt wird: man habe sich ein Stück Land schenken lassen, das mit einer Rindshaut umfaßt werden könne, und durch Zerschneiden in ganz dünne Streifen die ganze Fläche der Burg gewonnen218.

[110] Wirklich phoenikisch sind dagegen die Namen219. Die Gründerin heißt Elissa; das ist der Name, den im AT. das Gebiet von Karthago trägt220. Dann erhält sie den deutlich echt punischen Beinamen Dido, mit dem sie meist genannt wird221 und der ihr eigentlicher Kultname gewesen zu sein scheint; denn es ist wohl kaum zu bezweifeln, daß sie wirklich die Schutzgöttin der Stadt gewesen ist, an die ein Mythus von ihrem Flammentode anknüpfte. Eng verbunden mit ihr ist ihre Schwester, die den sehr geläufigen Namen Anna führt222. Was sie in der Sage zu bedeuten hat, ist völlig dunkel, wie denn überhaupt die Versuche, von hier aus weitere Aufschlüsse über die karthagische Religion zu finden, etwa durch Gleichsetzung mit anderen Gottheiten wie Astarte, zu einem Ergebnis bei dem Zustande unseres Materials nie führen können.

[111] Den Namen »Neustadt«, Qartchadašt, teilt die Ansiedlung mit der Stadt Kition auf Cypern (o. S. 86). Als einheimischer Name wird Κακκάβη oder statt dessen in einem Teil der Handschriften Κάμβη gegeben223; und seltsamerweise finden sich beide Namensformen als Varianten auf Münzen, die die Sidonier im 2. Jahrhundert geprägt haben und auf denen sie sich als Metropole von Kambe oder Kakkabe, Hippo, Kition und Tyros bezeichnen. Es müssen also damals wirklich die beiden Namensformen in Gebrauch gewesen sein.

Auch in Nordafrika liegt der Gedanke an eine umfassende Okkupation auch nur des Küstenlandes den Tyriern völlig fern. Die Fremden, die hier ihre Handelsplätze anlegten, sind der einheimischen Bevölkerung, die im Gegensatz zu den nomadischen libyschen Stämmen im Syrtengebiet und im Westen Ackerbauer waren und in Häusern wohnten224, aber im übrigen immer auf primitiver Kulturstufe geblieben sind, offenbar ganz willkommen, und sie überließen ihnen, wie in allen gleichartigen Fällen, ganz gern einen für sie selbst wertlosen Küstenfleck, um dafür die Genüsse und Schmucksachen beziehen zu können, die die Händler ins Land brachten und denen sie dafür ihr Getreide [112] verkauften. Erst mehrere Jahrhunderte später hat Karthago begonnen, seine Herrschaft über das Binnenland auszudehnen und hier ein Reich zu gründen.

Die Könige von Tyros haben es verstanden, ihre Kolonien dauernd in Abhängigkeit zu halten. Eine der wenigen aus der tyrischen Chronik erhaltenen geschichtlichen Notizen besagt, daß König Chiram I., als Utika die Tributzahlung unterließ, die Stadt auf einem Kriegszug wieder unterworfen hat225. Das Pietätsverhältnis zur Mutterstadt, das in Gesandtschaften und Abgaben an den Tempel des Melqart in Tyros zum Ausdruck kam, hat Karthago dauernd gewahrt, auch als es zur Großmacht geworden war.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 105-113.
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