Tyros und die phoenikische Kolonisation

[77] Unter den Städten Phoenikiens hat jetzt Tyros die führende Stellung gewonnen. Es ist, ebenso wie Arados, recht eigentlich eine Seeburg, gelegen auf einem kahlen, vom Festlande durch einen 3/4 Kilometer breiten Meerarm getrennten Felsenriff143. Einen Quell gibt es auf der Insel nicht; das Trinkwasser muß ihr, wie schon eine ägyptische Schilderung aus der Zeit Ramses' II. hervorhebt, auf Kähnen zugeführt werden144. So beruht die Existenz der Stadt ganz und gar auf einer starken Handels- und Kriegsflotte; diese Seeherrschaft ermöglicht sowohl, die [77] Küstenlandschaft – unter deren Ortschaften der Tyros gegenüberliegende Vorort Usu145 oft genannt wird – in Abhängigkeit zu halten, wie Handel und Industrie immer reicher zu entwickeln. So drängte sich in der Enge der Stadt, die wenigstens in späterer Zeit durch gewaltige Mauern aus Felsblöcken geschützt war, eine starke Bevölkerung zusammen – mehr als höchstens etwa 40000 Menschen kann sie freilich niemals betragen haben –; die Kleinheit der Bodenfläche146 zwang zum Wohnen in vielstöckigen Häusern, die immer als für die phoenikischen Städte charakteristisch hervorgehoben werden. Auch Arados ist ein wasserloses Felsenriff, bei dem man aber im Kriegsfalle aus einer Quelle unter dem Meere von Kähnen aus durch eine Pumpe mit Röhren Süßwasser schöpfen konnte147. Die stark befestigte Insel ist freilich noch viel kleiner als Tyros – der Umfang der Stadt wird auf 7 Stadien (1300 Meter) angegeben148 – und konnte daher, so sehr die Stadt auch, wie schon in der ägyptischen Epoche so später, ihre Selbständigkeit zu wahren suchte149, doch mit diesem nicht rivalisieren und hat auch Kolonien nicht gründen können.

[78] Eine bei Justin erhaltene Überlieferung erzählt, lange nach ihrer Ansiedlung in Sidon seien die Phoeniker, vom König der Askalonier überwältigt, auf die Schiffe gestiegen und hätten Tyros gegründet, ein Jahr vor dem Fall Trojas, das wäre nach dem Ansatz des Timaeos im Jahre 1194150. Dies Datum berührt sich aufs engste mit der im Jahre 1198/7 v. Chr. beginnenden Ära, nach der die tyrische Königsliste rechnet, von der uns Josephus (aus der Chronik des Menander von Ephesos) Bruchstücke erhalten und die bereits Timaeos zur Berechnung des Gründungsdatums Karthagos benutzt hat151. Man wird beide Daten als ursprünglich identisch ansehn dürfen. Weiteres Material zur Prüfung der Daten der Königsliste besitzen wir nicht; aber wo eine Kontrolle möglich ist, bei Chiram I., dem Zeitgenossen Salomos, und bei Itoba'al I., dem Schwiegervater [79] Achabs von Israel, stimmen sie zu den jüdischen Nachrichten aufs beste. Daß in Tyros eine zuverlässige Überlieferung in Form von Chroniken weit höher hinaufreichte als bei den Israeliten, kann keinem Zweifel unterliegen. Von den künstlich (mit den stereotypen 40 Jahren) zurechtgemachten Daten der israelitischen Listen bis auf Salomo findet sich denn auch in der tyrischen Chronik nichts, ihre Angaben über Regierungsdauer und Alter der Könige sind völlig unverdächtig. Diese Annalen sind von Timaeos benutzt, von Menander übersetzt und bearbeitet worden152. Einzelne Zahlen sind gelegentlich in der Überlieferung entstellt153, aber im übrigen liegt kein Grund vor, sie nicht als ebenso zuverlässig anzunehmen wie die der babylonischen und assyrischen Königslisten schon für eine wesentlich frühere Zeit154. Wir dürfen also daran festhalten, daß das Jahr 1198 v. Chr. in der Geschichte von Tyros einen tiefgreifenden Einschnitt bedeutet hat, wenn auch weder die Gründung der Stadt noch, wie Neuere vermutet haben, ihre Verlegung vom Festland auf die Insel, da die Inselstadt sehr viel älter ist155.

So drängt sich die Vermutung auf, daß das Datum mit der Invasion der Seevölker zusammenhängt und daß die bei Justin bewahrte Nachricht wirklich eine gute geschichtliche Tradition enthält. Die Askalonier, derer. König er die Katastrophe von [80] Sidon zuschreibt, können nur die Philister sein156. Nach Ramses' III. Bericht haben sie das Amoriterland »bis zur Vernichtung« ausgeplündert157; daß ihnen dabei auch diese auf dem Festlande gelegene Stadt erlegen ist, so gut wie später unter Sanherib und Arsarhaddon den Assyrern und unter Artaxerxes III. den Persern, ist durchaus begreiflich. Aber die Inselfestung Tyros konnten sie nicht bewältigen, vielmehr wird es ganz richtig sein, daß flüchtige Sidonier hier Schutz fanden und die Stellung der Stadt und ihrer Fürsten so gestärkt wurde, daß man von da an eine neue Dynastie beginnen ließ.

Der jetzt einsetzende Aufstieg von Tyros ist ganz offenkundig. Die Stadt gewinnt im phoenikischen Seehandel durchaus die herrschende Stellung; von ihr allein sind, soweit wir wissen, die phoenikischen Kolonien ausgegangen. Daher gilt überall Melqart (d.i. »König der Stadt«), der Stadtgott (Ba'al) von Tyros, als Gründer und Schirmherr der Kolonien, wie auf Cypern und Malta so in Nordafrika und Spanien. Bei der Gründung der neuen Ansiedlungen wird ihm hier ein Tempel erbaut; das Mutterheiligtum in Tyros aber erhält regelmäßig den Zehnten von allen Erträgen; dadurch ist zugleich die Abhängigkeit der Kolonie von der Mutterstadt religiös geschirmt158. Ganz allgemein [81] verbreitet sind daher auch die an ihn anknüpfenden Personennamen, wie 'Abdmelqart (Bomilkar) »Knecht des M.«, Chanmelqart (Hamilkar) »Gnade des M.« und zahlreiche andere. Die Griechen haben den Gott von Tyros seit alters mit Herakles gleichgesetzt und erzählen daher unter diesem Namen mancherlei von seinen Zügen in den Westen; mit den griechischen Sagen von Herakles' Zügen nach Erytheia und zum Garten der Hesperiden wird das jedoch meist nicht näher verbunden, vielmehr soll der tyrische Herakles in Spanien oder Afrika den Tod gefunden haben und in seinem Tempel in Gades begraben sein159.

Von der griechischen Chronographie wird die Gründung der Kolonien in Spanien und Nordafrika, über die allein einige Angaben vorliegen, meist ganz unbestimmt in die Zeit kurz nach dem troischen Kriege oder etwa gleichzeitig mit der dorischen Wanderung gesetzt, so für Gades in Spanien und für Lixos in Marokko, und auch für Utika in Nordafrika160. Daneben stehn die genauen Daten, die Timaeos für die Städte in Nordafrika gegeben hat. Philistos von Syrakus hatte erzählt, Karthago sei [82] von Zoros und Karchedon 50 Jahre vor der Zerstörung Trojas gegründet worden, hatte also in der naiven Weise der älteren Geschichtsschreibung aus den Eponymen der Mutter-und der Tochterstadt die Namen der Gründer gemacht161. Demgegenüber setzt Timaeos, wie oben schon erwähnt, auf Grund der tyrischen Annalen die Gründung Karthagos ins Jahr 814/3 v. Chr., die von Utika 287 Jahre vorher, also ins Jahr 1101162. Auch diese Daten sind als konstruiert und unbrauchbar verdächtigt worden, vor allem weil die von Timaeos gegebene Gründungsgeschichte Karthagos durchaus legendarisch ist163. Indessen diese Geschichte von Dido-Elissa ist an das Datum nur ganz äußerlich angeknüpft (u. S. 109f.), und es liegt kein Grund vor, zu bezweifeln, daß in den Annalen von Tyros die Koloniegründungen richtig verzeichnet waren und daß Karthago wirklich weit jünger ist als Utika.

[83] Die für Gades und Lixos gegebenen unbestimmten Ansätze dagegen gehn schwerlich, wie man wohl angenommen hat, auf eine feste Datierung, eine »Tempelära« zurück – von einer solchen findet sich ja auch in Karthago keine Spur –, und wieweit sie aus Timaeos stammen oder von ihm beeinflußt sind, ist mit Sicherheit nicht zu erkennen. Daß sie aber wenigstens annähernd zutreffend sind, wird dadurch bewiesen, daß im 10. Jahrhundert, zur Zeit des Chiram I. von Tyros und des Salomo von Israel, die Fahrten der Tyrier nach Südspanien (Taršîš, Tartessos) auf für die Ozeanfahrt gebauten Schiffen bereits ganz geläufig waren164

Im allgemeinen ist die phoenikische Kolonisation der ihr nachfolgenden griechischen gleichartig verlaufen. In den neuerschlossenen Gebieten sucht man Handelsbeziehungen mit der auf primitiver Kulturstufe stehenden einheimischen Bevölkerung anzuknüpfen, um Absatzgebiete für die sich dadurch immer reger entwickelnde Industrie und Bezugsquellen für die Naturprodukte der Fremde zu gewinnen; neben dem Seehandel geht, wie immer in solchen Verhältnissen, Seeraub und vor allem Sklavenfang einher. Geeignete Küstenpunkte, vorgelagerte Inseln und leicht zu verteidigende Vorgebirge werden besetzt und befestigt, ganz analog den Städten des Mutterlandes; unter günstigen Bedingungen können sich diese Faktoreien zu größeren Gemeinden entwickeln und ein Stück des Hinterlandes in Besitz nehmen, auf dem sie die Eingeborenen knechten und auch selbst Ackerbau treiben können. Aber sie können den Schirm der Muttergemeinde nicht entbehren, diese setzt ihnen Aufsichtsbeamte und bezieht von ihnen die Abgaben für ihren Stadtgott. Zu einer umfassenden Besiedlung größerer Gebiete wie bei den Griechen an der Westküste [84] Kiemasiens und dann in Unteritalien und Sicilien oder etwa bei der deutschen Kolonisation des Ostens und der englischen Nordamerikas ist es kaum irgendwo gekommen. Zu einer Massenauswanderung fehlte dem Küstengebiet am Libanon das Hinterland und den semitischen Volksstämmen der innere Trieb, wenn auch aus diesen, so aus den Nordstämmen Israels (z.B. dem Stamm Dan, Deboralied v. 17), gar manche sich als Ruderknechte verdingt haben und gelegentlich in der Fremde hängen geblieben sein mögen. Im allgemeinen tragen daher die Kolonien der Phoeniker oder vielmehr die von Tyros etwa denselben Charakter wie die Milets am Schwarzen Meer oder die der Portugiesen in Indien, am Persischen Meerbusen und in Südafrika.

Bei dieser Sachlage ist es durchaus begreiflich, daß unsere Kunde nur sehr dürftig ist; auch Denkmäler und Industrieprodukte aus älterer Zeit, die mit Sicherheit ihnen zugeschrieben werden können, fehlen so gut wie ganz, nicht anders als im Mutterlande selbst. Umso mehr hat man lange Zeit versucht, mit Hilfe phantastischer Etymologien weiterzukommen, nicht selten mit dafür frei erfundenen Worten (so z.B. für Samos, das »Höhe« bedeuten soll); und in derselben Weise wurde mit religiösen Kombinationen operiert, in jedem Herakles ein Melqart, in jeder Aphrodite eine Astarte, in Minos und dem Minotauros ein El oder Moloch, in jedem Menschenopfer, jeder sakralen Prostitution, ja in jeder Siebenzahl phoenikischer Einfluß gesucht und gefunden. So glaubte man, die Phoeniker überall in der Mittelmeerwelt und noch darüber hinaus nachweisen zu können; man betrachtete sie als die großen Kulturträger der älteren Zeit165. [85] Jetzt ist das völlig erledigt und der Bestand der phoenikischen Ansiedlungen und vollends ihre kulturelle Einwirkung auf die einheimische Bevölkerung auf ein recht bescheidenes Maß zurückgeführt.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 77-86.
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