Die Toten

[175] Der nüchternen, realistischen Denkweise der Semiten entspricht es, daß die Vorstellungen von einem Dasein nach dem Tode durchweg ganz unentwickelt geblieben sind. An der Leiche erhebt sich die rituell geregelte Totenklage, die Trauernden ändern ihre Tracht, scheren das Haar, verwunden sich auch wohl, um dem Schmerz Ausdruck zu geben. Auch wünscht ein jeder, daß sein Name weiter fortlebt und er daher Nachkommen hat; daß sie versagt sein mögen, ist der schwerste Fluch, den man aussprechen kann409. Aber der Tote ist wirklich tot, er ist eingegangen in die Unterwelt zu seinen Vätern, zu den »Kraftlosen« (Repha'îm)410, wo er höchstens ein ganz schattenhaftes, trübseliges Dasein führt, aus dem ihn vielleicht ein Totenbeschwörer einmal momentan als Gespenst wachrufen kann. Daß man ihm an Festtagen trotzdem Lebensmittel aufs Grab stellt, wird als Widerspruch so wenig empfunden wie das Durcheinanderlaufen der verschiedenartigen Vorstellungen vom Tode überall, auch bei uns; der Tote lebt eben im Bewußtsein der Überlebenden noch eine Zeitlang fort. Aber ein wirklicher Totenkult wie bei den Ägyptern und, wie wir jetzt durch das Königsgrab von Urwissen, in der Frühzeit einmal auch bei den [175] Sumerern hat sich bei den Semiten nirgends gebildet, auch nicht bei den Babyloniern und Assyrern. Es genügt ein einfaches Grab im Felsen oder im Erdboden, in dem der Tote ungestört zu ruhen hofft, gegen Einbrecher und Grabschänder nach Möglichkeit geschützt durch die Fluchformeln, die auf seinem Sarge stehn. Auch die Beigaben sind immer nur dürftig und daher diese Gräber für uns nur wenig ergiebig411.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 175-176.
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