Kleinasiatische Einflüsse. Trauerfeste.

Sakrale Prostitution

[164] Wie in der Gestalt des Hadad und in dem Brauch, das Bild der Götter auf den Rücken ihrer heiligen Tiere zu stellen – so schon die auf einem Löwen stehende Göttin von Qadeš –, so tritt in den Kulten die Einwirkung Kleinasiens überall hervor. Oder vielmehr: die Bevölkerung und Religion ist im ganzen nördlichen und mittleren Syrien ursprünglich kleinasiatisch; die semitischen Eindringlinge haben sich erst seit dem 15. Jahrhundert (in Byblos jedoch schon weit früher) darüber gelagert und dabei die älteren Kulte übernommen, wenn auch zum Teil unter semitischen Namen.

Im Mittelpunkt der kleinasiatischen Religion steht der Dienst der großen Mächte, welche im Wechsel der Jahreszeiten das Leben der Natur und damit auch das Dasein der Menschen beherrschen. In Hierapolis (Bambyke) in Nordsyrien ist dieser Kult ganz gestaltet wie in den Festen der Göttermutter und ihres Lieblings, in dessen Schicksalen sich das Erwachen der Natur im Frühjahr und ihr Absterben und Verdorren in der Glut des Sommers verkörpert373. Der göttliche Jüngling führt denselben Namen 'Ate374 wie der Attis Kleinasiens, die Göttin heißt danach 'Attar'ate (Atargatis), »die 'Attar des 'Ate«. Diese gewaltige Göttin bringt durch einen Zauber auch das Wasser zurück und beschirmt daher die Fische375. Dargestellt wird sie auf Löwen thronend, mit chetitischer Mauerkrone, Spindel und Szepter; neben ihr thront Hadad auf Stieren376. Völlig gleichartig sind die großen Götter von Heliopolis (Ba'albek) und dem Badeort Doliche, die in der Kaiserzeit, als Sonnengötter gedeutet, zu [165] so großem Ansehn gelangt sind; in Emesa (Ḥems) ist der gleiche Kult von den Arabern übernommen worden, die beim Zerfall des Seleukidenreichs hier die Herrschaft gewannen und den Gott in primitiverer Gestalt als einfachen Steinblock unter dem Namen 'Ammudat (»Steinpfeiler«) oder Elagabal (»Berggott«) verehrten. In der Religionskonkurrenz der Kaiserzeit ist dieser Gott von Emesa unter den Severern eine Zeitlang der höchste Gott des Römerreichs geworden, dem die aus Verschmelzung der Atargatis mit den gleichartigen Göttinnen hervorgegangene große syrische Göttin (dea Syria) als Genossin zur Seite steht377. Schon viel früher aber ist diese, offenbar durch aramaeische Kaufleute, nach Gaza, der großen Handelsstadt im Süden Palaestinas, gelangt, wo die Griechen sie unter dem Namen Derketo kennen gelernt haben; der zugehörige männliche Gott wird hier einfach unter dem Namen Mârna, d.i. aramaeisch »unser Herr« verehrt, wie Adonis in Byblos.

Im Kult von Bambyke wird das Versiechen der Natur als Erlöschen der Zeugungskraft des jungen Vegetationsgottes gefaßt, der im Dienst der großen Göttin sich selbst entmannt hat. Daher wird hier, wie in Kleinasien, im Rausche der Orgien ihres Festes die Selbstentmannung von den von der Göttin Erfaßten geübt; diese Kastraten378 werden dadurch der Göttin wesensgleich und nehmen deshalb Weibertracht an und sind dauernd ihrem Dienste geheiligt379.

[166] Diese extremste Gestalt des Kultus hat in der übrigen semitischen Welt keinen Eingang gefunden, wohl aber der auch in Kleinasien danebenstehende Glaube, daß der junge Vegetationsgott in der Blüte seiner Kraft einer feindlichen Macht erliegt und auf der Jagd von einem Eber getötet wird – damit wird zugleich das Verbot des Schweinefleisches (o. S. 156) religiös motiviert. Im nächsten Jahre kehrt der Gott dann zurück, um von neuem dasselbe Schicksal zu erleiden; er ist also durch den Tod doch nur entrückt und lebt wieder auf. Seinen Hauptsitz hat dieser Kultus in Byblos: hier ist der »Herr« (Adonis, o. S. 147), der Geliebte der Ba'alat von Byblos, im Gebirge bei Afqa380 vom Eber erschlagen worden, an der Quelle des aus dem Felsen hervorbrechenden Adonisflusses (jetzt Nahr Ibrahîm), dessen Wasser sich daher alljährlich rot färbt. In dem großen Feste, das ihm gefeiert wird, wird der ganze Hergang dargestellt; rasch aufblühende und verwelkende Kräuter, die man in kleine Beete steckt, veranschaulichen den Sinn der Feier. Dem entspricht in Bambyke die Verbrennung des Gottesbaums wie in Kleinasien, vor allem in Tarsos, im Kultus des Sandon (Bd. I § 484). Die Totenklage verläuft hier und in Bambyke wie bei menschlichen Leichenfeiern, nur noch gesteigert: das Haar wird geschoren, die Verehrer zerfleischen sich durch Schläge und Schwerthiebe unter rauschender Musik von Pauken und Gesängen381, wie sich das bei den Schiiten Persiens im Trauerfest um Ḥasan und Ḥusein bis auf den heutigen Tag erhalten hat.

[167] Dieser Kult hat sich weithin verbreitet. In Tyros hat König Chiram I. ein Fest der Erweckung des Melqart zu Beginn des Frühjahrs eingeführt382; da ist er also auf den Stadtgott übertragen. Im Ostjordanlande beweinen die Töchter des Volks im Gebirge vier Tage lang die Tochter Jephtachs (des »Eröffners«), die, wie die Legende erzählt, infolge eines Gelübdes von ihrem Vater der Gottheit als Opfer verbrannt worden ist383; hier ist also an Stelle des Jünglings eine Jungfrau getreten. Gleichartigen Ursprungs wird der Name eines Ortes Bokîm oder Bakût, »Weinen«, auf dem Gebirge Ephraim bei Bet-el gewesen sein, mit einem Gottesbaum, der als Sitz oder Grab einer Sagengestalt Debora (»Biene«) galt384. Ebenso hören wir, allerdings erst in hellenistischer Zeit, von einem Trauerfest um Hadad-Rimmôn bei Megiddo385; da ist also dieser Gott (o. S. 164) an Stelle des Adonis oder Attis getreten386.

Zweifellos verwandt mit diesem Kultus ist der sumerische Gott Tammûz387; da liegen uralte, auch sonst gelegentlich hervortretende Zusammenhänge vor, die geschichtlich aufzuhellen unser Material nicht gestattet. Dagegen gehört der Mythus und Kultus des Osiris seinem Ursprung nach nicht hierher, ist vielmehr, wie sich jetzt wohl mit Sicherheit sagen läßt, aus der Nilüberschwemmung erwachsen; auf seine spätere Gestaltung hat dann allerdings infolge der engen Beziehungen zwischen Ägypten und Byblos der Adonismythus stark eingewirkt.

[168] Das Gegenstück zu der Teilnahme an den Leiden der Gottheiten ist die sakrale Übung des Geschlechtsakts. Wie in Lydien und Armenien, an manchen Orten auf Cypern sowie in Babylonien388 müssen sich auch in Byblos die Jungfrauen als Opfer an die große Göttin im Anschluß an das Adonisfest an einem bestimmten Tage einem beliebigen Fremden preisgeben389. Auch Knaben und Verschnittene geben sich dabei feil. Diese Prostitution beider Geschlechter herrscht in den syrischen Kulten ganz allgemein und hat im Anschluß an die Schmausereien und Gelage im Tempel die Götterfeste zu wüsten Orgien gestaltet. Dem entspricht bei den Israeliten in der Geschichte vom goldenen Kalb die Schilderung des Festes, das dem Gottesbilde gefeiert wird: nach dem Opfer am frühen Morgen »setzte das Volk sich hin zu essen und zu trinken, und dann standen sie auf, ihre Lust zu treiben«390. In dieser Weise ist es nach den Schilderungen der Propheten im Tempel von Jerusalem und an den übrigen israelitischen Kultstätten allezeit zugegangen; die männlichen und weiblichen Prostituierten heißen Qadeš und Qadeša, »Geweihte«391.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 164-169.
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