Mythen und Göttersagen

[176] Von Mythen und Sagen sind einzelne Trümmer in der israelitischen Sagengeschichte erhalten. So die Erzählung, daß die Göttersöhne sich Menschentöchter zu Weibern nahmen, ganz wie in den griechischen Heroensagen, und von ihnen Riesen zeugten, »die Recken der Urzeit, Menschen (ruhmreichen) Namens«412. Alles weitere ist weggeschnitten; aus einer späteren Erwähnung erfahren wir, daß sie in voller Kampfrüstung in die Unterwelt hinabgestiegen sind und ihre Waffen auf ihren Gebeinen liegen413. Von der phoenikischen Göttergeschichte besitzen wir den dürftigen Abriß, den zur Zeit Hadrians Philo von Byblos aus dem Werk Sanchunjatons übersetzt hat. Der Verfasser wird in uralte Zeit versetzt; aber die Darstellung ist ganz beherrscht von plattem Euhemerismus, alle Götter außer dem für die Sonne erklärten Ba'alšamêm sind Könige der Urzeit, die man nach ihrem Tode göttlich verehrt hat. Damit verbunden ist der Versuch, die schrittweise Entwicklung der Kultur und Religion rationell darzulegen und zugleich nachzuweisen, daß alle griechischen Mythen nur Entstellungen der phoenikischen seien. So stellt sich die Schrift neben die zahlreichen Sammelwerke [176] und Kompendien der griechischen Mythologie aus hellenistischer Zeit und zu gleich neben die zahlreichen jüdischen und samaritanischen Schriften, welche die alttestamentliche Wahrheit den Griechen zugänglich machen wollen, und ist natürlich auch nicht älter als diese414. Es ist sehr möglich, daß Philo diese Tendenzen noch weiter gesteigert hat; daß aber durchweg eine phoenikische Vorlage zugrunde liegt, hätte nie bezweifelt werden sollen. Auch die Sage von dem Kampf des El gegen seinen Vater Uranos, zu dem ihn seine Mutter Erde aufhetzt, und seine Entmannung wird schon Sanchunjaton so gestaltet haben, daß sie als Vorbild Hesiods gelten konnte415; wie sie ursprünglich bei den Phoenikern gelautet haben mag, läßt sich freilich in dieser Aufmachung nicht mehr erkennen416.

Erwähnung erfordert noch die Sage, daß Šamêmrûm (der in Tyros die ersten Schilfhütten baut) im Hader liegt mit seinem [177] Bruder Usôos, einem Jäger, der sich in Tierfelle kleidet417. Dieser Usôos ist wohl sicher identisch mit dem 'Esau der israelitischen Sagen, der gleichfalls ein Jäger und am ganzen Leib dicht behaart ist und in ständigem Zwist mit seinem Bruder Ja'qôb lebt, gleichfalls einer aus der Götterwelt stammenden Sagengestalt, die ursprünglich dem Ostjordanlande angehört418. Da liegen Weiterbildungen eines altkana'anaeischen Mythus vor; bei den Israeliten sind 'Esau und Ja'qob dann die Repräsentanten der Völker Edom419 und Israel geworden und da durch vollends umgewandelt.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 176-178.
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