Phoenikische und israelitische Kosmogonie

[178] Nach Strabo haben die Sidonier nicht nur in der Technik Bedeutendes geleistet, sondern im Anschluß an ihren Handel auch die Astronomie und die Rechenkunst entwickelt420. Daran wird gewiß etwas Richtiges sein. Dabei hat wie in der Technik so auch auf geistigem Gebiet die Verbindung mit Ägypten stark eingewirkt, wie das Zikarba'al von Byblos gegen Wenamon offen ausgesprochen hat (o. S. 15). Deutlich nachweisbar ist das in den einzigen Resten, die aus der phoenikischen Literatur auf uns gekommen sind, zwei Kosmogonien, aus denen uns in griechischer Bearbeitung Auszüge erhalten sind.

Das eine ist die sidonische Kosmogonie, von der, ebenso wie von der Theologie der Babylonier, der Magier, der Arier (d.h. [178] Zoroasters), der Ägypter und der Griechen, Eudemos von Rhodos, der Schüler des Aristoteles, in seinem großen theologischen Werk eine Darstellung gegeben hat. Später ist sie unter dem Namen eines uralten Sidoniers Mochos neu bearbeitet und weiter ausgeführt worden; davon gab es eine griechische Übersetzung, die einem gewissen Laitos zugeschrieben wird421. Aus Eudemos und Mochos hat der späte Neuplatoniker Damascius kurze Auszüge gegeben und nach der Weise seiner Schule gedeutet422. Daneben steht, ungefähr gleichzeitig, das schon erwähnte Werk des Sanchunjaton, das wir durch Philo kennen; da ist die gesamte Göttergeschichte daran angeknüpft. Er berief sich dafür auf die geheimen Inschriften der Ἀμμουνεῖς, der Chammânstelen in den Tempeln (o. S. 149, 2), aus denen er die Urweisheit des Taaut (des aus Ägypten übernommenen Thout, o. S. 162) ergründet habe.

In den Einzelheiten weichen diese Kosmogonien vielfach voneinander ab. Aber die Grundanschauungen sind nicht nur die gleichen, sondern berühren sich, wie wir noch sehn werden, zugleich aufs engste einerseits mit den Kosmogonien der Israeliten, andrerseits mit der der Ägypter. Dadurch wird ihr Alter und ihre Echtheit bestätigt, und wir gewinnen einen Einblick in die religiösen Spekulationen, die sich, unter ägyptischem Einfluß, im Laufe des ersten Jahrtausends auf kana'anaeischem Boden gebildet haben und schließlich in den erwähnten Werken ihren Abschluß fanden.

[179] Der Grundgedanke ist, daß zu Anfang die materielle Welt ungeordnet und ohne eigene Lebenskraft in dunkler Feuchte dalag. Ihr gegenüber steht als belebendes Element der Windhauch. Die Verbindung der beiden Elemente geschieht durch den Geschlechtstrieb; aus der Befruchtung der Materie durch den Lufthauch ist das Weltei entstanden, aus dem die gegenwärtige Welt hervorgegangen ist. In der sidonischen Kosmogonie des Eudemos werden diese beiden Grundbegriffe kurz aneinandergereiht, wie in der Theogonie Hesiods: »Vor allem«, heißt es, »waren Zeit, Trieb und Nebel423; aus der Vermischung von Trieb und Nebel entstanden Luft und Hauch (ἀήρ und αὔρα), und aus diesen ein Ei« (das Weltei)424. Zum Teil modifiziert und erweitert425 erzählt Mochos: Zu Anfang waren Äther und Luft – daneben werden der Wind und speziell die beiden befruchtenden Winde Südwest und Süd genannt426 – und aus ihnen entsteht Οὐλωμός, םלוע 'Olâm, die ewige Zeit des Weltalls. Ulôm begattet sich selbst und zeugt den Chusôr427 und dann das Ei, das dieser öffnet; die beiden Hälften des Eis werden zu Himmel und Erde.

Weit ausführlicher lautet der Bericht der Kosmogonie Taauts bei Sanchunjaton. Zu Anfang bestand die Luft, dunkel [180] und windartig, und das trübe, erebosartige Chaos, beide grenzenlos. Da entbrannte der Windhauch (πνεῦμα) in Liebe zu seinem eigenen Ursprung428. Diese Mischung heißt Verlangen (πόϑος, Trieb), und das ist der Ursprung der Entstehung des Alls. Der Windhauch selbst kannte seine Entstehung nicht, aus seiner Selbstbegattung aber entstand Môt429, die als Schlamm oder wässerige Fäulnis gedeutet wird; aus ihr ist der Same aller Schöpfung entstanden. Da gab es Lebewesen ohne Empfindung; aus diesen entstanden solche mit Bewußtsein, gebildet in Eigestalt, die Ζωφασημίν (richtig Ṣophê-šamîn) »Himmelsschauer« heißen. Da leuchtete Môt auf, Sonne, Mond und Sterne; zugrunde liegt der Gedanke, daß erst durch das Bewußtsein dieser Himmelsschauer das Licht und die Lichtkörper sichtbar und wirksam werden. Aus der Erleuchtung und dem Erglühen von Luft, Meer und Land entstehen Winde, Nebel, gewaltige Regengüsse, Donner und Blitz, »durch das Getöse erwachten die bewußten Wesen und wurden scheu und bewegten sich auf Land und Meer männlich und weiblich«. Die Produkte der Erde aber, von denen sie lebten (die Pflanzen), verehrten sie und hielten sie für Götter. Dann ist aus der Verbindung des Windes Kolpia – der Name ist nicht deutbar – und des Weibes Baau430, das als Nacht gedeutet wird, der Αἰών, d.i. der Ulômos, 'Olâm des Mochos, und der Πρωτόγονος entstanden, die Weltzeit und der Urmensch. Von diesen stammen Geschlecht und Sippe (Γένος und Γενεά), die Urbewohner Phoenikiens, und an diese schließen sich in langer Reihe die Gestalten der Göttergenealogie mit ihren Kämpfen, die, soweit sie für uns deutbar sind, oben schon besprochen sind.

Neben diese phoenikischen Kosmogonien stellt sich die Schöpfungsgeschichte des ersten Kapitels der Genesis. In ihrer jetzigen Gestalt stammt sie aus dem Buch der Tora, das Ezra im Jahre 458 v. Chr. aus Babel mitbrachte und das im Jahre 445 [181] in Jerusalem als Grundgesetz des Judentums eingeführt wurde. Daß hier eine Vorlage überarbeitet ist, geht daraus hervor, daß die acht Akte, in denen die Schöpfung verläuft, durch zweimalige Zusammenfassung von zweien auf sechs Tage verlegt sind, um Gott am siebenten von seiner Arbeit ruhen zu lassen und so die Heiligung des Sabbats zu begründen, eine Vorstellung, die für Ezra und die babylonische Judenschaft charakteristisch ist. Die acht Akte selbst, in denen Gott durch sein Wort die Welt gestaltet (barâ'), sind eine schematische, durchaus wissenschaftlich gedachte Zerlegung des Weltbildes und nichts weniger als ein Mythus431. Beherrscht aber ist auch diese Darstellung, ganz wie die phoenikischen Kosmogonien, von der dualistischen Auffassung der Welt: auf der einen Seite, im Dunkel liegend, ungestaltet und bewegungslos, die Materie432, auf der anderen der Bewegung, Licht und Leben schaffende und die Welt ordnende »Windhauch« rûach (πνεῦμα). Die Schilderung des Urzustandes entspricht ganz der Sanchunjatons: »Die Erde war eine wüste Einöde« – da ist der Name des phoenikischen Urweibes Baau (bohu) als Bezeichnung des Urzustandes beibehalten433 und in Assonanz mit dem oft vorkommenden [182] Wort tohu, »Einöde, leer, nichtig«, verbunden –, »Finsternis lag auf dem Urmeer (tehom), der Geist Gottes brütete auf den Wassern« – da klingt der Mythus vom Weltei noch nach, und der zeugende Windhauch, die rûach, wird mit der schaffenden Gottheit identifiziert. Mit dem Fortgang »da sprach Gott: es werde Licht, und es ward Licht« setzt dann der neue Gedanke ein, der ausschließlich dem Judentum angehört: die Schöpfung lediglich durch das Wort434. Auch bei Sanchunjaton ist das Licht die Voraussetzung aller weiteren Entwicklung; aber bei ihm entsteht es durch den Naturprozeß der Gährung innerhalb der aus dem πνεῦμα erzeugten Môt.

Daß diese Vorstellung schon geraume Zeit vor der abschließenden Bearbeitung im Priesterkodex literarisch gestaltet vorlag, wird dadurch bestätigt, daß sie von Jeremia an wiederholt verwendet wird435. Sie übernimmt die in der kana'anaeischen Welt und vor allem bei den Phoenikern entwickelten Anschauungen, soweit sie sie brauchen kann, und verwendet sie für die Ausgestaltung der Jahwereligion. Diese Anschauungen berühren sich nun aufs engste mit denen der ägyptischen Theologie. Nicht nur der Dualismus zwischen toter Materie und bewegender und daher gestaltender und schaffender Kraft ist ihnen gemeinsam, in schroffem Gegensatz gegen die griechische Auffassung, der jede Naturerscheinung zugleich Person und Gottheit ist; sondern ebenso, daß diese belebende Macht im Lufthauch erkannt wird, also in einem Element, das nach naturwüchsiger Anschauung durchaus immateriell ist und doch ununterbrochen als wirksam empfunden wird. Dieser Gedanke ist die Grundlage der Amonreligion: »Amon ist«, wie SETHE sein Wesen formuliert hat436, [183] »derjenige der acht Urgötter der in Hermopolis geschaffenen Lehre, der als Lufthauch zuerst Bewegung in das Urwasser bringt und so die Sonne und die Welt aus ihm entstehn läßt«; in der abschließenden Gestalt der thebanischen Amonsreligion (o. S. 26) ist er dann ein rein geistiges, transzendentes Wesen, der Schöpfer und Regierer der Welt, der sich zwar in der Sonne und im Licht sinnlich offenbart, aber in Wirklichkeit aller Kreatur, Göttern wie Menschen, unerkennbar bleibt. Das alles ist von der phoenikischen und weiter von der israelitischen Spekulation übernommen. Auch das Ei, aus dem die Elementargötter entstanden sind, ist ägyptisch; und dazu kommt dann noch ein so spezifisch ägyptischer Zug wie die Zeugung durch Selbstbegattung sowohl bei Mochos wie bei Sanchunjaton. Der tiefgreifende Einfluß, den die lange Herrschaft Ägyptens und die ununterbrochen fortdauernden politischen und kulturellen Beziehungen auch auf das Geistesleben Phoenikiens und Palaestinas geübt haben, tritt darin anschaulich zutage.

Auch die weit ältere Erzählung vom Paradiese und der Bildung des Menschen aus Erde durch Jahwe, der ihm dann den Lebensodem einbläst, berührt sich mit dieser Kosmogonie darin, daß die Erde ursprünglich ohne Vegetation war und dann aus ihr ein 'êd aufsteigt und ihre ganze Ackerfläche mit Wasser tränkt437; das ist offenbar der Urnebel bei Eudemos, dem bei Sanchunjaton die Schlammasse der Môt entspricht.

Diese Darstellung, mit der der Jahwist sein Werk begonnen hat, bildet den Eingang zu dem von ihm übernommenen, etwa zu Ende des 10. Jahrhunderts aufgezeichneten Märchen vom Paradiese. Weitere kosmogonische Bestandteile enthält diese Erzählung nicht; die anschließende Verjagung des Urmenschen aus dem [184] Gottesgarten durch die eifersüchtige Gottheit, den φϑόνος ϑεῶν, gibt vielmehr die Anschauungen eines Bauernvolks über das Menschenschicksal wieder (s.u. S. 289f.). Daran schließen weitere Sagen aus der Götter- und Menschengeschichte, von denen nur das kleine Bruchstück (6, 1-4) erhalten ist, wie die Göttersöhne sich mit schönen Menschentöchtern verbinden und mit ihnen die riesigen Heroen der Urzeit zeugen, ganz wie in der griechischen und offenbar auch in der phoenikischen Mythologie438. Diese ganze Traditionsmasse ist an sich durchaus polytheistisch; auch in der Paradiesesgeschichte und in der vom babylonischen Turm ist Jahwe umgeben von einer ganzen Schar von Göttern, mit denen er berät und nach deren Bilde er den Menschen bildet; in der auf uns gekommenen, streng monotheistischen Bearbeitung ist das bis auf vereinzelte Reste, die man stehn ließ, weggeschnitten. Daran schließen weitere Sagen wie die vom Turmbau zu Babel und der Zerteilung der Völker oder die vom ersten Weinbauer Noach; damit sind in der uns vorliegenden Bearbeitung Ansätze zu einer kulturgeschichtlichen Entwicklung439 in derselben Weise verbunden wie bei Sanchunjaton. Es sind die Erzählungen und Gedanken des seßhaft gewordenen israelitischen Bauernvolks, das die Kultur und die Traditionen der älteren kana'anaeischen Bevölkerung übernommen und äußerlich mit seinem Gott Jahwe verbunden hat.

Eingefügt in sie ist eine Reihe ganz andersartiger Sagen, die den Lebensformen und Anschauungen der nomadischen und halbnomadischen Stämme des Südens entstammen und beherrscht sind von der Idee des auf Blutsverwandtschaft beruhenden, durch die Pflicht der Blutrache zusammengehaltenen Stammverbandes, so in den Geschichten von Qain und Abel, von Lamekh und seinen Söhnen. Den hier besprochenen Erzählungen dagegen liegen diese Vorstellungen und daher auch die genealogische Gliederung der [185] Bevölkerung und ihre Ableitung von Stammeseponymen ganz fern; für sie ist die Menschheit ursprünglich eine Einheit und dann durch Eingreifen der Götter mittels der Sprachverwirrung künstlich getrennt; und die Urmenschen heißen Adam »Mensch«, Enoš »Mann«, Išša »Weib«. Der Ursitz der Menschheit und der Gottesgarten 'Eden liegt fern im Osten; von hier haben sich die Menschen schrittweise nach Westen verbreitet. In der Sage vom Turmbau bildet Babel die Hauptstation; aber diese Sage stammt keineswegs aus Babylonien – dort würde man den großen Tempelturm des Bel nie in einen zur Erstürmung des Himmels bestimmten Turm umgewandelt, den Namen »Gottespforte« Bab-il nicht als »Verwirrung« gedeutet, auch Babel gewiß nicht als älteste Stadt bezeichnet haben –, sondern zeigt lediglich die zentrale Stellung, die die große Stadt am Euphrat in den Vorstellungen des Westens einnahm440. Wirklich babylonisches Gut ist, wie schon erwähnt, in diesen und ebenso in den phoenikischen Sagen nirgends enthalten, so oft das auch behauptet worden ist441. Die Sintflutgeschichte ist allerdings aus der babylonischen Literatur übernommen; aber sie ist deutlich eine Einlage in das Werk des Jahwisten, mit dessen Darstellung sie überall in Widerspruch steht, und wird schwerlich vor der Assyrerzeit nach Palaestina gekommen sein.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 178-187.
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