Das Alte Testament.

Entwicklung der wissenschaftlichen Kritik

[187] Die Geschichte des israelitischen Volks mündet aus in der Entstehung des Judentums; und aus diesem wieder sind, teils unmittelbar, teils durch die Einwirkung der vom Judentum geschaffenen religiösen Anschauungen und ihrer Festlegung in einem Offenbarungsbuch, in der »Schrift«, die beiden großen Weltreligionen des Christentums und des Islâms erwachsen. Darauf beruht es, daß wir von der israelitischen Geschichte und damit von gar manchen, oft für ihre eigene Zeit recht unbedeutenden Vorgängen noch zuverlässige Kunde besitzen und daß die israelitische Literatur die einzige vorchristliche des vorderen Orients ist, von der durch ununterbrochene literarische Überlieferung noch Überreste, und zwar von recht beträchtlichem Umfang, bis auf uns gelangt sind. Zugleich aber hat das bewirkt, daß diese Schriften zwei Jahrtausende hindurch dem geschichtlichen Verständnis so gut wie völlig verschlossen geblieben sind. Denn sie sind vom Judentum als heilige, unmittelbar von der Gottheit offenbarte Bücher betrachtet worden und mußten daher als untrügliche Wahrheit und Weisung für das Leben gedeutet, alle die zahlreichen Widersprüche und die schweren Anstöße, die sie dem geläuterten sittlichen und religiösen Gefühl boten, durch gewaltsame Interpretation und durch Hineinlegung eines geheimen Sinnes beseitigt werden442. Im Christentum, das das jüdische Buch gläubig übernahm, ist das noch gesteigert worden, da man jetzt nachweisen mußte, daß die Juden es völlig mißverstanden hätten und es sich in Wirklichkeit [187] durchweg auf das Christentum beziehe443. Ansätze zu einer kritischen Auffassung finden sich gelegentlich auch schon früher; aber erst der tiefgreifende Wandel der religiösen Anschauungen, den seit dem 18. Jahrhundert die Aufklärung und der Deismus brachte, hat Bahn gebrochen für die Bestrebungen, zu einem geschichtlichen Verständnis zu gelangen. In weitem Umfang behalf man sich, ganz wie es die griechischen Aufklärer seit dem Erwachen philosophischen Denkens getan hatten, mit dem Rationalismus; auf Grund des gesunden Menschenverstandes wurden die Wunder und die sonstigen Anstöße beseitigt und in natürliche Vorgänge des Alltaglebens umgedeutet; daß das so gewonnene Bild in Wirklichkeit noch viel widersinniger und innerlich unmöglicher ist als die alten Erzählungen, wenigstens soweit diese aus naivem Volksempfinden entstanden sind, wurde und wird dabei nicht beachtet. Aber diese Betrachtungsweise wird immer die eigentlich populäre bleiben, weil sie scheinbar so einfach und natürlich ist; wo man mit ihr nicht auskommt, bleibt dann der Skeptizismus, der Verzicht auf jede Lösung der Probleme, der oft genug ganz unvermittelt der rationalistischen Deutung zur Seite tritt.

Indessen daneben hat sich stetig fortschreitend auch die wahre wissenschaftliche Behandlung und ihre Grundlage, die echte, die Irrwege sowohl des Rationalismus wie der Skepsis ablehnende Kritik ausgebildet. Ausgegangen ist sie von dem Bestreben, zu einem Verständnis der in wunderlich verwirrter Gestalt, voll von Widersprüchen und von Wiederholungen vorliegenden Literaturwerke zu gelangen, indem man ihrer Entstehung nachging. Im Mittelpunkt stand das Problem der Komposition der Genesis, in der die nebeneinander stehenden Parallelerzählungen sich zum Teil durch die beiden Gottesnamen Elohîm und Jahwe schon auf den ersten Blick voneinander scheiden. Allmählich ist diese Analyse dann immer mehr verfeinert und zugleich auf die übrigen Schriften des AT. ausgedehnt [188] worden. Dadurch wurde es ermöglicht, sie auch inhaltlich richtig zu verstehn und chronologisch einzuordnen und so zu einem wirklichen Verständnis sowohl der Geschichte – dabei hat die fortschreitende Erschließung der assyrischen Berichte im Laufe der letzten beiden Generationen wesentlich geholfen – wie der religiösen und kulturellen Entwicklung des Volkes von seinen naturwüchsigen Anfängen bis zum Abschluß im Judentum zu gelangen. Den ersten großen Schritt zu einer freien geschichtlichen Auffassung bezeichnet die von DE WETTE 1806 begründete Erkenntnis, daß das im Jahre 621 unter König Josia von Juda eingeführte Gesetzbuch das Deuteronomium ist und daß die ältere geschichtliche Literatur auf Grund desselben überarbeitet worden ist. Für den weiteren Fortschritt ist dann der Nachweis von entscheidender Bedeutung gewesen, daß das daneben stehende Gesetzbuch, das die mittleren Bücher des Pentateuchs umfaßt (von uns als Priesterkodex bezeichnet), das als von Moses während der Wüstenwanderung gegeben auftritt und daher zunächst in die Urzeit oder wenigstens in die erste Königszeit verlegt wurde, in Wirklichkeit vielmehr das Endergebnis der ganzen Entwicklung ist, wie es denn nach der darüber erhaltenen, völlig authentischen Überlieferung erst im Jahre 458 v. Chr. durch den Priester Ezra aus Babylonien nach Jerusalem gebracht und auf Grund der ihm vom Perserkönig Artaxerxes I. gegebenen Vollmacht unter Mitwirkung des persischen Statthalters Nehemia durch einen feierlichen Akt am 24. Tišri (30. Oktober) 445 als die gesamte Judenschaft bindendes Gesetzbuch eingeführt worden ist.

Diese Erkenntnis, in früheren Zeiten vereinzelt ein mal ausgesprochen und als furchtbarste Ketzerei betrachtet, ist wissenschaftlich vor allem von VATKE und GRAF begründet und 1878 von WELLHAUSEN in glänzender Darlegung voll erwiesen worden. Sie hat sich alsbald in der gesamten wissenschaftlichen Welt so gut wie allgemein durchgesetzt, welchen Standpunkt der einzelne Gelehrte auch sonst einnehmen mag444. Gegenwärtig ist [189] diese kritische Arbeit in allem wesentlichen abgeschlossen, wenn auch bei Einzelfragen immer verschiedene Auffassungen möglich bleiben werden. Dieser Zustand hat dann nicht selten zu einer Überspannung der kritischen Analyse geführt, die über die der Erkenntnis gesetzten Schranken hinausdringen möchte. Daneben hat sich in den letzten Jahren, im Zusammenhang mit der inneren Zersetzung, die unser Volk ergriffen hat, das Bestreben geltend gemacht, die strenge methodische Arbeit als unfruchtbar und überflüssig beiseite zu werfen und die Fundamente aller wissenschaftlichen Erkenntnis leichtfertig zu untergraben, um an ihre Stelle durch Intuition und Wesensschau einen phantastischen Neubau zu setzen, den jeder Nachfolger ohne Mühe wieder über den Haufen werfen und durch einen anderen ersetzen kann. Davon, ob es gelingen wird, diese Tendenzen zu überwinden, wird es abhängen, ob ein gesundes wissenschaftliches Leben sich weiter zu erhalten vermag oder ob es in dem alle wahre Kultur bedrohenden Zusammenbruch dem Untergang entgegengeht.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 187-190.
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