Das Gottesbild. Aharon. Der bildlose Kult von Sichem und die Bundesidee

[310] Zum landesüblichen Kultus, den die Lewiten besorgten, gehörte das Gottesbild, das auch zur Einholung der Losorakel, wie die sehr anschaulichen Erzählungen aus der Zeit Sauls und Davids zeigen, unentbehrlich war. Verbunden damit ist die rätselhafteste Gestalt der israelitischen Sagengeschichte, die des Aharon. Den älteren Fassungen sowohl von J wie von E ist er noch fremd, in den Erweiterungen zu E erscheint er dann ganz unvermittelt als Bruder des Moses und erhält dabei den Amtstitel »der Lewit«677; er wird von Jahwe zum Redner vor dem Volk bestellt, als »Mund« des Moses, der ihn unterweist und »für ihn Gott ist« – eine ganz treffende Charakterisierung des Lewiten, der die ihm von Moses überkommenen Lehren dem Volk vorträgt. Daneben aber steht die Erzählung, daß er dem Volk ein Gottesbild in Gestalt eines mit Gold überzogenen Kalbes errichtet und ihm ein Opferfest gefeiert habe. Im jetzigen Text wird das als ein Abfall von Jahwe dargestellt, und Moses zerstört das Bild; aber es ist klar, daß hier ursprünglich die Entstehung des durchaus legitimen Bilderdienstes dargestellt war, wie er in Bet-el, Dan und sonst bestand, und daß Aharon als dessen Begründer galt. Eben darum wird er auch nicht dafür bestraft678, konnte vielmehr neben Moses als dessen Bruder stehn.

[310] Indessen in den Werken des Jahwisten und des Elohisten ist diese Anschauung ein später Eindringling. Ein Gottesbild widerspricht nicht nur ihren eigenen Anschauungen, sondern auch den von ihnen aufgenommenen Traditionen durchaus; wo die nomadischen Erinnerungen fortleben, ist es eine Neuerung, die das Wesen Jahwes verfälscht. In Jerusalem ist es überdies dadurch ausgeschlossen, daß Jahwe hier auf der Lade thront. Aber auch in Israel ist es nicht überall durchgedrungen. Von besonderer Bedeutung ist hier die Gestalt gewesen, die der Kultus in Sichem angenommen hatte. Diese Stadt, ursprünglich von dem kana'anaeischen oder choritischen Clan Chamôr bewohnt, ist seit der Eroberung und Verwüstung durch Abimelek (o. S. 236) israelitisch und gilt der Tradition als Erwerb Jakobs679; Joseph soll hier begraben sein680. Nach Lage und Bedeutung ist es der Mittelpunkt Israels; hier trat die Volksversammlung zusammen, die der judaeischen Dynastie aufgesagt und Jerobeam zum König eingesetzt hat, und dieser hat es zu seiner Residenz gemacht. Aber unter den Orten, an denen er ein Stierbild Jahwes aufstellt, ist es nicht genannt, und ebensowenig bei Hosea in seiner Polemik gegen diese Kulte. Danach kann es nicht zweifelhaft sein, daß in Sichem der Kult bildlos war; wohl aber hauste Jahwe hier in dem »Gottesbaum des Toraerteilers«681, also an der Stätte, wo Weisungen (Orakel) gegeben werden. Nach der Erzählung von E hat Jakob unter ihm die Götter der Fremde, die seine Familie aus Aram mitbrachte (so den Teraphîm), sowie die als verpönt geltenden Ohrringe vergraben682; der Gott[311] von Sichem duldet also die Verehrung anderer Götter nicht, sondern ist so exklusiv wie der Gott des Sinai.

In der Geschichte Abimeleks trägt der Gott, der in Sichem einen Tempel hat, den Namen »Bundesgott« (El-brît oder Ba'al-brît). Nun haben wir Kunde von einem Festritus, bei dem sich die Volksgemeinde vor der Stadt angesichts der beiden Berge Garizîm und 'Ebal versammelt, an deren Fuß sie liegt, und der Chor der Lewiten auf den Garizîm, auf dem ein Altar Jahwes steht, die Formeln des verheißenen Segens, auf den 'Ebal, den Sitz der bösen Geister, die des Fluchs gegen die Übertreter der göttlichen Gebote legt. Die Gemeinde erklärt bei jeder Formel durch amên ihre Zustimmung, und dann wird auf Grund der in ihnen enthaltenen Verpflichtungen durch Besprengung des Altars und des Volks mit Opferblut der Bund mit Jahwe geschlossen. Beim Elohisten hat Josua nach der Eroberung des Landes dieses Ritual auf Grund der Weisungen Moses in Sichem vollzogen und durch Aufrichtung eines großen Steins unter dem Gottesbaum für alle Zukunft bezeugt; dadurch hat Israel selbst in freiem Entschluß Jahwe zu seinem Gotte erwählt683.

Es ist klar, daß hier Überlieferungen aus bester israelitischer Zeit zugrunde liegen; der Elohist hat sie dann im Rahmen seiner Geschichtskonstruktion in einen einmaligen Akt umgesetzt. Aber der Name Bundesgott, den die dort verehrte Gottheit in der ältesten Überlieferung trägt, zeigt, daß diese Idee [312] der Bundesschließung hier uralt und schon vorisraelitisch ist. Erwachsen ist sie aus dem allgemein semitischen Glauben an die zwingende Kraft des Bluts, das im Opferritus Gott und Gemeinde unlösbar verbindet. Hier ist das zu einem formellen Vertragsschluß fortgebildet, bei dem die Gemeinde sich feierlich verpflichtet, die von der Gottheit geforderten Gebote zu befolgen. Man wird annehmen dürfen, daß der geschilderte Ritus bei bestimmten Festen regelmäßig wiederholt wurde.

Aus dem Ritual sind uns die zwölf Fluchformeln erhalten; die Segensprüche werden ganz gleichartig gewesen sein. Da mag im einzelnen manches zugesetzt oder geändert sein, aber als Ganzes stammen sie deutlich aus der Blütezeit Israels und geben die sittlichen und rechtlichen Anschauungen einer schlicht empfindenden Bauerngemeinde wieder. Verflucht wird, wer Vater und Mutter mißachtet, wer Blutschande begeht684 oder einem Tiere beiwohnt; ferner wer die Grenze des Nachbars verrückt, wer einen Blinden irreführt, wer das Recht eines Fremden, einer Waise oder einer Witwe beugt, schließlich, wer heimlich jemanden erschlägt oder wer sich werben läßt, um einen »Schuldlosen« (d.h. nicht mit Blutschuld Behafteten) zu erschlagen. Da tritt die Kulturstufe, der diese Sprüche angehören, besonders deutlich zutage: es sind sittliche Gebote, deren Befolgung sich durch das Recht nicht erzwingen läßt und bei denen daher die Gottheit eingreifen muß, wie bei den Griechen in denselben Fällen die Erinyen. Beachtenswert ist, daß ein allgemeines Tötungsverbot, wie schon im Bundesbuch und dann im Dekalog685, noch ganz fern liegt; wer in offenem Hader oder im Jähzorn[313] einen anderen erschlägt, befleckt die Gemeinde nicht, sondern da tritt die Blutrache ein, die das friedliche Zusammenleben der Menschen schirmt und sichert.

Vorangestellt ist das einzige religiöse Gebot, der Fluch über jeden, »der ein mit Metall überzogenes Schutzbild macht – ein Greuel für Jahwe ist ein Werk von Künstlerhand – und es heimlich aufstellt«. Das entspricht vollständig dem Bilde, das wir vom Kultus von Sichem gewonnen haben; zugleich zeigt es, wie Versuche gemacht werden, im privaten Kult das Gottesbild auch hier einzuführen, und man sich dagegen wehrt.

Der Kultus von Sichem mit der von ihm geschaffenen Idee der Bundesschließung hat für die gesamte weitere Entwicklung der israelitischen Religion grundlegende Bedeutung gewonnen; auf ihm beruhen die großen Akte von 841 und 621 und ebenso die Begründung des Judentums im Jahre 445. Dadurch wird es möglich, die sonst fast verschollene und vom Judentum absichtlich unterdrückte Rolle zu erfassen, welche das eigentliche Israel in dieser Entwicklung gespielt hat. Die von dort ausgehenden Anschauungen fließen mit den vom Süden kommenden Strömungen zusammen: das Ritual von Sichem wird in der großen Erweiterung des Jahwisten und ebenso beim Elohisten auf die Bundesschließung mit Jahwe am Sinai oder Choreb durch Moses übertragen; erst dadurch ist Moses, der Ahne der Lewiten und Quell ihres Wirkens, zum Gesetzgeber des Gesamtvolks geworden686.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 310-314.
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