Die Literatur der älteren Königszeit.

Dichtungen und Geschichtswerke

[281] Mit der Aufrichtung des Königtums und der Gründung eines geordneten Staatswesens sind die Israeliten in den Kreis der Kulturvölker des vorderen Orients eingetreten. Aus den Raubscharen, die in lockeren Stammverbänden ins Land eingedrungen waren und sich in zahlreichen Fehden unabhängig behauptet, ihr Gebiet erweitert, die ältere Bevölkerung unterworfen hatten, war ein seßhaftes Bauernvolk geworden, das sich jetzt, durch den Druck der Lage zur Einheit zusammengezwängt, unter energischen Herrschern eine glänzende Stellung errungen und allen Nachbarn überlegen erwiesen hatte. Der Stolz über das Erreichte, die Empfindung für den Segen, den das Königtum mit seiner festen Ordnung und dem steigenden Wohlstand gebracht hat, hat in der Literatur dieser Zeit lebendigsten Ausdruck gefunden. In einem Liede verkündet der Ahne Jakob das Schicksal seiner Söhne, der zwölf Stämme Israels. Die drei ältesten, die verschollenen Stämme R'uben, Simeon und Lewi, hat er wegen ihrer Freveltaten verworfen und sie wer den zugrunde gehn; die übrigen werden mit kurzen Strichen scharf charakterisiert. Dan, »die Viper an der Straße, die das Roß in die Hufe beißt, so daß der Reiter rücklings herabstürzt«, und Benjamin, »der räuberische Wolf«, haben den wilden Charakter der alten Zeit bewahrt; Gad, im Ostjordanlande, muß sich der feindlichen Raubscharen erwehren; [281] Išsakar dagegen ist ein knochiger Esel, der in seinem ertragreichen Gebiet sich zum ruhigen Leben eines Fronarbeiters bequemt hat. Auch die Nordstämme Zebûlon, Ašer, Naphtali im Hinterlande der Phoenikerstädte leben in Behagen. Helles Licht fällt auf die beiden Hauptstämme, Joseph, der im Schutze des »Gottes seines Vaters«, des »Stieres Jakobs« und »Steins Israels« die ihn bedrängenden Pfeilschützen (die aus der Wüste einbrechenden Nomaden, S. 231) überwunden und die reichen Segnungen seines Berglands erhalten hat628; und vor allem Juda, den Löwen, der in seiner Jugend von Raub lebte, jetzt aber in der Vollkraft »sich gelagert hat, und wer wird ihn aufstören?« »Juda, dich preisen deine Brüder, deine Hand ist am Nacken deiner Feinde, vor dir neigen sich die Söhne deines Vaters«. »Nicht wird das Zepter von Juda weichen noch der Herrscherstab zwischen seinen Füßen«; er lebt in üppigem Wohlstand, den ihm die Weinberge gewähren, »die Augen trübe von Wein, die Zähne weiß von Milch«.

Mancher dieser Aussprüche mag schon früher geprägt sein; als Ganzes stammt das Lied deutlich aus der Blütezeit des judaeischen Königtums. Das gleiche gilt von einem Liede, das einem Seher Bil'am ben B'ôr – ursprünglich einer edomitischen Gestalt (oben S. 239 Anm. 2) – in den Mund gelegt wird, den nach einer seltsamen Sage der König von Moab geholt hat, um die Israeliten zu verfluchen, die unter Moses durch sein Land ziehn. Aber Jahwe zwingt den Seher, statt dessen ihre unzähligen Scharen zu segnen, ihre Macht und die Üppigkeit ihrer Wohnsitze zu verkünden. Da enthüllt er auch die Zukunft und die Siege Davids629: »Es wird aufstehn ein Stern aus Jakob, ein Zepter aus Israel und zerschmettern die Schläfen Moabs, die Scheitel der Söhne Šet, Edom und Se'îr werden sein Besitz werden«.

[282] Diese Lieder lassen zugleich erkennen, wie die Sagenüberlieferung ausgestaltet und im einzelnen festgelegt wird. Im Gegensatz zu der noch bei der Reichsteilung hervortretenden älteren Auffassung (o. S. 258) ist Juda ein Sohn des mit Israel gleichgesetzten Jakob und folgt unmittelbar auf die drei ältesten, verworfenen Stämme; Joseph und Benjamin, die Söhne des Lieblingsweibes Rachel und der Kern des eigentlichen Israel, müssen sich in der Folge der Söhne mit den beiden letzten Stellen begnügen630. Darin, daß sich diese Gestaltung allgemein durchgesetzt hat, tritt der maßgebende Einfluß anschaulich hervor, den das Königtum Davids auch literarisch geübt hat; die ephraimitische Tradition hat sich dann dadurch geholfen, daß nach ihr Rachel das Weib ist, um das Jakob wirbt, und ihre ältere Schwester Lea ihm von Laban nur durch Betrug untergeschoben wird.

Aus der Zeit nach dem Zerfall des einheitlichen Reichs stammt eine Nachbildung des Segens Jakobs, die uns dadurch erhalten ist, daß die Schlußredaktion sie, widersinnig genug, für einen Segen Moses ausgibt. Dieses Gedicht ist etwa zu Anfang des 9. Jahrhunderts in Israel entstanden631. Für R'uben wird noch der matte Wunsch ausgesprochen: »Es lebe R'uben und sterbe nicht, und seiner Mannen sei eine Zahl«. Über Juda heißt es: »Höre, Jahwe, die Stimme Judas und bringe ihn zurück zu seinem Volk!« Dann werden die Rachelstämme vorweggenommen, zuerst kurz Benjamin, der jetzt unter dem Schirm Jahwes in Sicherheit wohnt, dann eingehend, mit vielfacher [283] Benutzung der älteren Dichtung, Joseph in seiner herrlichen Landschaft. Er ist »der Erstgeborene seines Stieres (d.i. des Gottes von Bet-el), der mit Wildstierhörnern die Völker insgesamt niederstößt an den Enden der Erde. Das sind die Myriaden von Ephraim und die Tausende von Manasse«. Dann folgen die Sprüche über die Nordstämme nebst Gad. An Stelle der untergegangenen Stämme Simeon und Lewi aber erscheint hier zum erstenmal, gleich hinter Juda eingereiht, der Priesterstamm Lewi, ein nicht auf der Abstammung beruhender, sondern durch freie Berufswahl entstandener Stamm, der dem Volk die Weisungen seines Gottes und das richtige Recht übermittelt, das ihm Moses im Ringen mit Jahwe gewonnen hat. Da tritt uns der kulturelle und religiöse Fortschritt entgegen, der sich jetzt vollzieht. Den bezeichnendsten Ausdruck hat diese Entwicklung darin gefunden, daß dieses Lied für Israel eine künstliche Namensbildung Ješurun eingeführt hat, die das Volk als das gerade oder rechtlich handelnde bezeichnen soll. Seine Existenz beruht auf seinem Gott, und dieser Gott ist der Gott des Rechts.

Das überraschendste Erzeugnis der ersten Königszeit ist die geschichtliche Literatur, die sie geschaffen hat. Daß mit dem Eintritt unter die Kulturstaaten auch annalistische, nach Königsjahren datierte Chroniken entstanden, ist nichts Auffallendes; wir können daraus entnommene Daten von Salomo an nachweisen (s.o. S. 276). Aber daneben stehn, fundamental von ihnen verschieden, die Geschichtswerke, deren Reste wir in den Erzählungen von Gideon und Abimelek, von David und Salomo, von der Absetzung Reḥabe'ams kennengelernt haben. Was sie charakterisiert, ist das Interesse am Individuellen, am Einzigartigen des einzelnen Vorgangs, auf dem seine entscheidende geschichtliche Wirkung beruht; seine Motive, seinen wahren Verlauf suchen sie zu erfassen und festzuhalten. Dadurch erhalten sie, wie mit Recht bemerkt ist, einen novellistischen Charakter, ähnlich so manchen Erzählungen bei Herodot und dann wieder bei Xenophon. Aber sie sind weit mehr als nur Novellen, denn in ihnen hat sich die Geschichte des Volks und des Reichs vollzogen. Die Massenerscheinungen, die äußeren Vorgänge, auch [284] die Kriegsgeschichte treten demgegenüber ganz zurück, sie bilden lediglich den Hintergrund, auf dem die eigentliche Geschichte, die entscheidenden, die Gestaltung bestimmenden Ereignisse sich abspielen. So in den Erzählungen aus der »Richterzeit«, besonders bezeichnend in der vom Ursprung des Kultus von Dan, aber auch in denen von Gideon und Abimelek, vom Kampf Sauls und Jonatans gegen die Philister, von ihrem Untergang in der Schlacht am Berge Gilboa'; nicht die Schlacht an sich, sondern das Schicksal der führenden Persönlichkeiten ist es, was den Erzähler interessiert. Für die ältere Zeit liegen Überlieferungen zugrunde, die in der Hauptsache durchaus zuverlässig erscheinen, aber lebendig, zum Teil, wie in der Parabel Jotams, dramatisch ausgestaltet sind; in den Zeiten Davids und Salomos zeigt der Erzähler eine ganz intime Kenntnis der Vorgänge am Hofe und muß mit diesen Kreisen in engster Verbindung gestanden haben. Dabei fehlt jede politische oder apologetische Tendenz; mit kühler Objektivität, ja mit überlegener Ironie schaut der Erzähler auf die Vorgänge herab, die er eben darum mit unvergleichlicher Anschaulichkeit berichten kann. Gänzlich fern liegt jede religiöse Färbung, jeder Gedanke an eine übernatürliche Leitung; der Lauf der Welt und die in der Verkettung der Ereignisse sich durch eigene Schuld vollziehende Nemesis werden dargestellt in voller Sachlichkeit, wie sie dem Beschauer erscheinen.

So hat die Blütezeit des judaeischen Königtums eine wirkliche Geschichtsschreibung geschaffen. Kein anderes Kulturvolk des alten Orients hat das vermocht; auch die Griechen sind erst auf der Höhe ihrer Entwicklung im 5. Jahrhundert dazu gelangt und dann allerdings alsbald darüber hinausgeschritten. Hier dagegen handelt es sich um ein Volk, das eben erst in die Kultur eingetreten ist. Die Elemente derselben, darunter auch eine leicht erlernbare Schrift, sind ihnen, wie den Griechen auch, von der älteren Bevölkerung zugekommen; aber dadurch wird die eigene Leistung nur umso staunenswerter. Wir stehn hier, wie in aller Geschichte, vor dem unerforschlichen Rätsel der angeborenen Begabung. Mit diesen Schöpfungen [285] stellt sich die israelitische Kultur gleich zu Anfang selbständig und gleichberechtigt neben die Entwicklung, die sich ein paar Jahrhunderte später, wesentlich reicher und mannigfaltiger ausgestaltet, auf griechischem Boden vollzogen hat.

Wir haben es, wie in aller Geschichte der Überlieferung, der Verkettung zahlloser Zufälle zu verdanken, daß uns die Trümmer dieser Werke, und ebenso die oben besprochenen Lieder, erhalten sind. Zugleich zeigt sich hier in geradezu grotesker Weise die in der Weltgeschichte waltende Ironie, daß diese durch und durch profanen Texte dem Judentum und dem Christentum als heilige Schriften gelten und daher in jedem Wort umgedeutet werden müssen, um deren Grundanschauungen wenigstens notdürftig angepaßt zu werden.

Daß es sich um mehrere Werke handelt, deren Individualität wir empfinden können, so völlig die Verfasser selbst in Dunkel gehüllt bleiben, haben wir schon gesehn; das zeigt, wie lebhaft das Interesse an wirklicher Geschichtsüberlieferung gewesen ist632. Sie hat sich in der Folgezeit fortgesetzt; in der Geschichte der Usurpation Jehus (Reg. II 9f.) ist uns ein Stück erhalten, das sich den älteren ebenbürtig zur Seite stellt. Daneben stehn mancherlei populäre Erzählungen, ältere und jüngere, so die Geschichte von der Hinrichtung der Söhne Sauls und der Volkszählung Davids oder über Achabs Aramaeerkriege. Dann aber tritt daneben eine ganz andere Art der Geschichtsauffassung, die durchweg von den neuen religiösen Ideen beherrscht ist.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 281-286.
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