Wirtschaftliche Umwandlung.

Das Märchen vom Paradiese.

[286] In den besprochenen Liedern und Traditionen, wie vorher im Deboralied, erscheinen die Stämme als festgefügte Einheiten, [286] auf deren Zusammenschluß das Gesamtvolk beruht. Indessen in Wirklichkeit hatten die Stämme ihre alte Bedeutung bereits verloren, sie waren unter dem Königsregiment zu Bezirken des Reichs geworden und zu selbständigem Handeln seit der Abschüttelung der judaeischen Herrschaft angesichts der politischen Lage nicht mehr fähig. Durch die unter Salomo erfolgte Gleichstellung mit den Kana'anaeern ist ihre Zersetzung noch weiter befördert; in der Folgezeit ist von dem alten Gegensatz nie mehr die Rede. Geblieben sind dagegen die einzelnen Stadtgemeinden mit ihren Ältesten, denen die Rechtsprechung »im Tore« zusteht; aber daneben ist das Königsgericht und das Regiment der Beamten, der »Knechte des Königs«, getreten. Daß über deren willkürliches Schalten vielfach geklagt wird, mit Recht und mit Unrecht, ist nur natürlich. Dazu kam die zweischneidige Wirkung des wachsenden Wohlstands und der Bevölkerungsvermehrung und vor allem der in der vorderasiatischen Welt seit alters bestehenden Geldwirtschaft, die rasch auch über Israel die volle Herrschaft gewann und die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zersetzte, die Kluft zwischen arm und reich, zwischen den abhängigen, mühselig ihr Brot erarbeitenden Massen und der Oberschicht ständig erweiterte. Der Heißhunger nach Geld wird die dominierende Macht im gesamten Leben. Die Rechtsordnung vermochte der Umgestaltung der Verhältnisse nicht zu folgen; vielmehr gelangt das alte, den naturalwirtschaftlichen Zuständen entstammende Schuldrecht jetzt zu seiner vollen, verheerenden Wirkung: der Gläubiger besteht unnachsichtlich auf seinem Schein, während der Schuldner, der den oft minimalen, aber durch die hohen Zinsen rasch anwachsenden Betrag seines Darlehns nicht aufbringen kann, nicht nur sein Besitztum verliert, sondern selbst mit Weib und Kind der Sklaverei verfällt und verkauft wird. Das Ideal, daß »in Juda und Israel ein Jeder in Behagen unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum sitzt«, das die spätere Legende unter Salomo verwirklicht sein läßt (Reg. I 5, 5), ist der Wirklichkeit vollständig entschwunden.

Eine gleichartige Entwicklung hat sich in den nächsten [287] Jahrhunderten, nur langsamer vorschreitend, in der griechischen Welt vollzogen. Auch darin gleichen sich beide Gebiete, daß sie von der Natur keineswegs reich ausgestattete Gebirgsländer von beschränkter Ertragsfähigkeit sind. Vom Standpunkt des Beduinen aus mochte Palaestina allerdings als ein üppiges Kulturland erscheinen, das »von Milch und Honig trieft«633; aber in Wirklichkeit steht das Gebiet von Israel wie von Juda noch weit hinter Griechenland zurück. In der Hauptsache ist es ein felsiger, zwar stark besiedelter, aber eben darum entwaldeter Bergrücken mit den Vorhöhen und dem Berglande von Galilaea im Norden. Ausgedehntes Ackerland bildet nur die von dem Frönerstamm Išsakar bebaute Ebene Jezre'el nebst der Senke von Betše'an; im Osten liegt völlig öde das glühendheiße Jordantal634, die Küstenebenen aber sind größtenteils in den Händen der Philister oder der Phoeniker. So konnte hier ein Seehandel und eine starke Auswanderung, wie in Griechenland, nicht entstehn; der Landhandel aber lag wie immer im wesentlichen in den Händen der Beduinenstämme. Landwirtschaftliche Produkte für den Export, abgesehn etwa von der Wolle der Schafe, vermochte der Boden nicht zu schaffen; man mußte zufrieden sein, wenn er die eigenen Bedürfnisse notdürftig deckte, und oft genug hören wir von Regenmangel, Heuschreckenplagen, Dürre und Hungerjahren. Da nun noch an Stelle des kräftigen Reichs nach kurzem Bestande zwei Kleinstaaten getreten waren, von denen auch der größere sich der Nachbarn nur mit Mühe erwehren konnte, ist es begreiflich, daß wirtschaftliche Not dauernd die Signatur der folgenden Jahrhunderte geblieben ist.

In dieser Zeit, im 10. Jahrhundert, ist das Märchen vom [288] Paradiese entstanden635, in dem die Lebensanschauung der israelitischen Bauernschaft in Form einer volkstümlichen Erzählung zum Ausdruck gelangt. Das Ideal wäre ein behagliches Faulenzerleben, bei dem die Natur alles von selbst darbietet. Für ein solches Schlaraffendasein in einem herrlichen Garten voll Fruchtbäume hat Jahwe den Menschen geschaffen, als er ihn aus Erde bildete und ihm den Lebensodem einblies; aber der Mensch hat sich durch die Schlange und das Weib verführen lassen, gegen das göttliche Gebot von der Frucht des Baumes zu essen, die die Fähigkeit gewährt zu erkennen, was gut und was schlecht ist. Als ihm so die Augen geöffnet sind – ganz naiv kommt das dadurch zum Ausdruck, daß das Menschenpaar erkennt, daß sie nackt sind, und die Scham erwacht – und Jahwe entdeckt, daß »der Mensch geworden ist wie unsereiner«, verjagt er ihn aus dem Garten, damit er nicht auch vom Lebensbaum esse und dadurch unsterblich und damit völlig göttergleich werde. So ist er dem Tode verfallen; sein Brot aber muß er sein Leben lang im Schweiße seines Angesichts mühselig auf dem dürren Boden erarbeiten, auf dem nach dem Fluch, den Jahwe auf ihn gelegt hat, das Saatkraut nur zwischen Dornen und Disteln aufwächst.

[289] Für den Eingang, wie Jahwe die Erde durch Nebel oder Regen befruchtet, so daß die Pflanzen aufsprießen, sind kana'anaeische Anschauungen benutzt (o. S. 184); die Erzählung selbst aber ist von den Israeliten geschaffen636. In der pessimistischen Beurteilung des Daseins hat sie auf griechischem Boden ihr Gegenbild in dem etwa zwei Jahrhunderte später geschaffenen Gedicht Hesiods von der Arbeit. Gemeinsam ist beiden auch die streng realistische Auffassung der Gottheit: sie wacht eifersüchtig über den Schranken, die sie dem Menschen gesetzt hat, und versperrt ihm den Aufstieg in ihre Sphäre. Dieses Verhalten, den Neid der Götter, wie es die Griechen des 5. Jahrhunderts genannt haben, hat der Mensch als Tatsache hinzunehmen und sich ihm zu fügen.

Die übrige Welt liegt ganz außerhalb des Gesichtskreises der Erzählung; der Mensch ist der israelitische Bauer, der Erdboden der Palaestinas; von den ganz anderen Lebensbedingungen etwa Ägyptens oder Babyloniens oder gar von denen eines Seevolks wie der Phoeniker weiß sie garnichts. Nur umso bedeutsamer für die hier erreichte Höhe des geistigen Lebens ist es, daß sie die Eigenart des Menschen, die ihn den Göttern gleichstellt, in der Fähigkeit der Erkenntnis, der Beurteilung der Dinge erblickt637. Sie ermöglicht ihm, sich in der Welt zu erhalten; aber eben darum hat ihn die Gottheit in das Elend verstoßen und den Tod über ihn verhängt. Jahwe selbst ist, wie es dem Märchen geziemt, noch ganz naiv gedacht: er lebt wie ein Mensch und ergeht sich in der Abendkühle im Garten. Allwissend ist er keineswegs, aber klug und mächtig; unter Benutzung der Naturkräfte, Wasser und Wind, hat er das Leben auf Erden erweckt, [290] die Tiere und den Menschen sowie das Weib gebildet. Wo die Erzählung es braucht, stehn andere Gottheiten neben ihm (3, 22); aber weitere Bedeutung haben sie nicht, für die Welt des Israeliten kommt lediglich Jahwe in Betracht638.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 286-291.
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