Amos

[355] Die Hoffnung, durch Steigerung des Gottesdienstes die Gnade Jahwes und damit die alte Machtstellung wieder zu erlangen, hat sich nicht erfüllt. Die sozialen und rechtlichen Mißstände waren nicht gehoben, die Not der ärmeren Bevölkerung ward immer größer, von außen drohte andauernd die Gefahr der Verwüstung und Vernichtung; auch die Siege Jerobeams II. hatten zwar eine vorübergehende Ruhepause, aber nicht eine wirkliche Besserung der Lage gebracht.

Eben in den Tagen Jerobeams trat im Reichstempel von Bet-el ein Viehzüchter aus Juda auf, 'Amos aus Teqoa', um auf Grund seiner Visionen Israel und seinem König den Untergang zu verkünden; Jerobeam werde durchs Schwert (in der Schlacht) fallen, seine Heiligtümer veröden, das Volk vom Boden losgerissen und in die Ferne fortgeschleppt werden. Da das Aufruhr erregte, hat Amaṣja, der Priester von Bet-el, ihn ausgewiesen: »Seher, mach dich fort nach Juda und iß dort dein Brot und tritt dort als Prophet auf! Aber in Bet-el darfst du nicht weiter den Propheten spielen, denn dies ist ein königliches Heiligtum und ein Reichstempel.« Amos protestiert: »Ich bin kein Prophet, noch eines Propheten Sohn, sondern ein Hirt und Maulbeerzüchter; aber Jahwe hat mich von der Herde weggeholt und mir gesagt: Geh, tritt als Prophet auf gegen mein Volk [355] Israel.« Er verkündet dem Priester und seiner Familie das Strafgericht. Ob er noch an anderen Stellen aufgetreten ist, wissen wir nicht; auf eine Tätigkeit in Juda weist in seinen Worten nichts hin.

Mit Amos tritt die schöpferische Individualität in die Geschichte des geistigen und religiösen Lebens ein. Er ist darin das Gegenbild seines etwa ein Menschenalter jüngeren Zeitgenossen Hesiod. Wie dieser über das Regiment des Zeus, die Entstehung der Welt und das Menschenschicksal, so wird Amos bei seiner Herde – man darf sich seine Verhältnisse keineswegs als ärmlich vorstellen – lange gegrübelt haben über das Walten Jahwes und das Schicksal, das er über sein Volk Israel verhängt hat; denn hier, im Reich von Samaria, liegt für ihn durchaus der Schwerpunkt; Juda, wo derselbe Gott auf dem Ṣion thront, ist doch nur ein Anhang, der für die Geschicke des Gesamtvolks nicht in Betracht kommt. Die Gedanken, die sich ihm aufdrängen, sind nicht sein eigen, nicht von ihm willkürlich geschaffen, sondern die Gottheit hat sie ihm eingegeben, ihm zugeraunt; eben darauf beruht die Zwangsgewalt, mit der sie sich seiner Seele bemächtigen, und die innere Gewißheit ihrer Wahrheit. Wie dem Hesiod im Nebel der Nacht die Musen erschienen sind und ihm die Wahrheit verkündet haben, so hört Amos in Jerusalem die Stimme Jahwes und schaut die Bilder, in denen dieser seine Absichten symbolisch andeutet; und so muß er hinausziehn, um dem Volke den Auftrag zu verkünden, mit dem Jahwe ihn entsandt hat. Dadurch wird sein Auftreten trotz seines Einspruchs doch dem der berufsmäßigen Propheten (nebî'îm) gleichartig; den Apparat, mit dem diese auftreten, hat er jedoch, soweit wir sehn können, nicht verwendet.

Für Amos liegt der Grund des göttlichen Zorns in einer völligen Verkennung des Wesens und der Forderungen Jahwes. Er ist durch und durch eine sittliche Macht, der Gott des Rechts; Gerechtigkeit und sittliches Verhalten ist seine Forderung. Sie aber glauben, durch ständige Steigerung des Kultus, durch Opfer und Wallfahrten seine Gnade wieder zu gewinnen, während sie [356] prassen und schwelgen, Männer und Weiber, und an den Neumonden und Sabbaten nur darauf sinnen, wie sie Maß und Gewicht verfälschen und ihren Wucher betreiben können. »Sie verkaufen den Gerechten für Geld und den Armen um eines Paares Schuhe willen, sie gehn, Vater und Sohn, zur Dirne, um meinen heiligen Namen zu entweihn, sie strecken sich aus auf gepfändeten Gewändern neben den Altären und trinken den Wein der Gebüßten im Hause ihres Gottes. Und doch habe ich die Amoriter vor ihnen vernichtet und sie aus Ägypten und durch die Wüste geführt, ihnen Propheten und Naziraeer erweckt; ihr aber laßt die Naziraeer Wein trinken und sagt den Propheten, ihr sollt nicht prophezeien.« »Geht nur nach Bet-el und frevelt, nach Gilgal und frevelt noch mehr! Bringt am Morgen eure Mahlopfer, am dritten Tage eure Zehnten; so liebt ihr es ja!« »Ich hasse eure Feste, eure Feiern will ich nicht riechen, eure Opfer sehe ich nicht an. Fort von mir mit dem Geplärre eurer Lieder, euer Harfenspiel will ich nicht hören. Vielmehr soll wie Wasser das Recht hervorquellen und Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach! Habt ihr mir geopfert und Gaben dargebracht in der Wüste vierzig Jahre lang?«

Rückkehr zu dem schlichten Leben der Urzeit, zu dem nomadischen Ideal, ist, was Jahwe fordert. Lange genug hat er gewartet und gewarnt, so noch zuletzt durch Dürre, Heuschrecken und Pest, aber ohne Erfolg. Jetzt ist seine Geduld zu Ende. Das Gericht, »der Tag Jahwes«, den ihr herbeisehnt, wird kommen, »aber er ist Finsternis und kein Licht«. Das Strafgericht steht unmittelbar bevor, unnachsichtlich und zermalmend; es anzukündigen ist Amos entsandt. »Ihr freut euch über die Eroberung von Lodebar und Qarnaim; ich aber lasse gegen euch ein Volk aufstehn, das euch bedrängen wird von der Straße nach Ḥamât bis zum Wüstenbach.« Israel soll ausgetilgt werden aus dem Lande, in dem es so furchtbar entartet ist, und fortgeschleppt werden in die Ferne »bis über Damaskus hinaus«. Und das gleiche Schicksal der Vernichtung wird alle Nachbarvölker treffen, die Juden von Jerusalem, die Edomiter, Moabiter, Ammoniter, die Philister, die Jahwe aus Kaptor, die Aramaeer, [357] die er aus Qîr in ihre Wohnsitze geführt hat und die jetzt wieder dorthin zurückmüssen.

Es ist nicht die von den Assyrern drohende Gefahr, die man oft gemeint hat, aus der diese Verbindungen erwachsen sind; denn gerade zur Zeit Jerobeams II. war die Macht Assyriens immer mehr zurückgegangen, und in Palaestina haben sie seit dem Zuge Samsiadads V. nach Philistaea im Jahre 802 und dem Salmanassars IV. gegen Damaskus im Jahre 773 nicht mehr eingegriffen. Maßgebend ist vielmehr die Empfindung, daß die gesamte Gestaltung des Völkerlebens innerlich morsch und durch und durch korrupt ist und nicht mehr bestehn darf, weil sie den Forderungen der sittlichen Weltordnung von Grund aus widerspricht787. Das ethische Postulat unterwirft sich die Religion und ihre Gottheit; die Politik und die selbständige Gestaltung des Staatslebens nach seinen eigenen Bedürfnissen werden völlig ausgeschaltet, die Ethik mit ihren ewigen, unerbittlichen Geboten wird das allein entscheidende Moment, dem sich das gesamte Leben der Völker schlechthin unterordnen soll; und damit erwächst für Amos Jahwe, der Gott des Rechts und der Sittlichkeit, zur weltbeherrschenden Gottheit, die nach ihren Geboten das Geschick aller einzelnen Völker gestaltet788.

[358] Sehr bezeichnend ist, daß bei Amos im Unterschied von Hosea und seinen Nachfolgern von der Einzelgestalt des Kultus, von Gottesbildern, Stierdienst, Ba'alen mit keinem Worte die Rede ist: das alles ist für ihn völlig irrelevant, da er den gesamten Kultus als Verkennung des Wesens der Gottheit verwirft.

Amos hat, ähnlich wie dann Hesiod, seine Reden zu einem Buche zusammengefaßt, um durch die Schrift weiter zu wirken und das gesprochene Wort für alle Zukunft festzuhalten. Damit tritt zum ersten Male – wenn wir von den isoliert dastehenden chetitischen Schriften (II 1 S. 521) absehn – die Persönlichkeit des Schriftstellers, der seinen Namen nennt, in die Literatur ein. Das ist nicht aus einem literarischen Bedürfnis erwachsen, sondern durch die Aufgabe selbst erfordert, der ihre Schrift dienen soll. Zu der richtigen Erkenntnis, die sie der Welt verkündet, gehört unentbehrlich der Name der Einzelpersönlichkeit, der sie von der Gottheit offenbart worden ist.

Die Schrift des Amos gibt einen lebendigen Einblick in die Art, wie solche Schriften entstanden sind. Sie ist nicht etwa eine Aufzeichnung der Worte, wie sie bei seinem Auftreten in den einzelnen Momenten wirklich gesprochen wurden; sondern er hat die Ge danken, die er verkündet hat, literarisch verarbeitet und bewußt stilisiert; offenbar hat er sie, wie das auch sonst überall der Fall ist, einem berufsmäßigen Schreiber diktiert. Bis er sich dazu entschloß, werden Jahre vergangen sein; in 6, 2 erwähnt er die Maßregeln, die Tiglatpileser in den Jahren 740ff. in Nordsyrien durchgeführt hat789. Voran stellt er eine große Rede, in der zuerst allen Nachbarvölkern, die Israel mißhandeln, der Untergang verkündet wird, bis dann das durch seine Sünden unabwendbare Strafgericht über Israel umso wirkungsvoller [359] den Abschluß bildet. Dann folgt eine lange Reihe dichterisch stilisierter Einzelsprüche, stets ohne Bezugnahme auf die besonderen Umstände, in denen sie geäußert sein mögen, dafür aber gehoben zu Mahnworten an das gesamte Volk790. An den Schluß sind die Visionen gestellt, in denen Jahwe, nachdem er immer noch wieder Gnade geübt hat, schließlich seinen Entschluß, jetzt das Strafgericht unweigerlich zu vollziehn, symbolisch kundgibt; in diesen Abschnitt hat er auch einen kurzen Bericht über seinen Konflikt mit Amaṣja in Bet-el aufgenommen791.

Diese Gestaltung der Schrift des Amos ist maßgebend geworden für alle seine Nachfolger, wenn auch Hosea seine Schrift etwas anders angelegt hat; aber Micha, Ṣephanja, Jesaja, Jeremia beginnen in derselben Weise mit einer großen, allgemein gehaltenen Rede, die ihre Anschauungen literarisch zusammenfaßt792, und lassen dann erst ihre Einzelsprüche folgen. Darin tritt die tiefgreifende Wirkung, die Amos geübt hat, deutlich zutage.

Die Vernichtung, die Amos ankündigt, ist nach wenigen Jahren wirklich hereingebrochen. König Jerobeam II. ist allerdings nicht dem Schwerte erlegen, wie Amos erwartete, sondern nach langer Regierung im Jahre 743 friedlich gestorben und bei seinen Vätern in Samaria begraben. Aber wenige Monate darauf ist sein Sohn Zakarja von einem Usurpator ermordet[360] worden, und damit brach aufs neue eine Epoche verheerender innerer Kämpfe über das Land herein. Und kurz vorher, im Jahre 745, bemächtigte sich in Assyrien ein anderer Usurpator, Tiglatpileser III., der Herrschaft und wandelte die bisherigen Raubzüge in den systematischen Aufbau eines einheitlichen Weltreichs um, das im Laufe von zwei Jahrzehnten fast allen Kleinstaaten der syrischen Lande und darunter auch dem Reich und Volk Israel den Untergang gebracht hat.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 355-362.
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