Kleinasien seit der Auflösung des chetitischen Reichs

[362] Mit dem Untergang des chetitischen Reichs tritt Kleinasien für den Verlauf der Weltgeschichte wieder ganz in den Hintergrund. Das westliche Kleinasien, wo jetzt die aus Thrakien eingedrungenen indogermanischen Phryger sich ausgebreitet haben, entschwindet auf Jahrhunderte völlig unseren Blicken. Auch über die östlichen Gebiete, in denen der Schwerpunkt des chetitischen Reichs gelegen hatte, erhalten wir nur ganz dürftige Kunde. Für die Landschaften am Halys und das Küstengebiet bis über Sinope hinaus und ihre Bewohner hat sich der Name Assyria und Assyrer aus der fernen Vorzeit noch bis ins 5. und 4. Jahrhundert erhalten793; der Chetitername dagegen ist hier völlig verschwunden. Statt dessen haben sich jetzt die Stämme aus den pontischen Gebirgen weithin ausgebreitet, vom Gebiet des Thermodon her die Tibarener (Tabali), weiter die Gasgaeer (Kaskaeer), die alten Gegner der Chetiter, sowie die Moscher (Muski), die wir später auf den östlichsten Teil der Gebirge, südlich von den Kolchern, beschränkt finden794. Die Moscher bildeten kein einheitliches [362] Reich, sondern eine Stam mesföderation. Früher wurde schon erwähnt, daß sie unter ihren fünf Königen um 1170 den Assyrern die ein Jahrhundert vorher von Tugultininurta I. eroberten Landschaften Alzi und Purukuzzi im südwestlichen Armenien entrissen haben; von hier aus dringen sie über den Taurus gegen die Landschaft Kudmuch am Tigris vor795. Bei Tiglatpileser I. treffen wir eine Schar von 4000 Kaskaeern und Urumaeern, die sich in Mesopotamien (Subartu) festzusetzen versuchen; er nennt sie »unbotmäßige Chetiter«, wir werden in ihnen einen Rest des ehemaligen Chetiterheeres erkennen dürfen, der sich, ähnlich den germanischen oder den türkischen Kriegerscharen beim Zerfall des römischen und des islamischen Reichs, in der Ferne ein selbständiges Reich zu gründen versucht796.

In den armenischen Gebirgen, gegen die die Könige des Großreichs ihre Macht auszudehnen versucht hatten, bildet auch weiter jeder Kanton unter seinem Häuptling ein selbständiges Gemeinwesen; bei feindlichen Angriffen schließen sie sich gelegentlich zu einer lockeren Koalition zusammen, wie Tiglatpileser I. von 23 und weiter von 60 solchen »Königen der Nairilande« redet. Auch westlich vom Euphrat, im Taurusgebiet und seinen Vorlanden in Nord und Süd, sind die zahlreichen Kleinstaaten, welche die chetitischen Großkönige ihrer Oberhoheit unterworfen oder ihrem Reiche einverleibt hatten, jetzt wieder selbständig geworden. Hier hat sich jedoch die Nachwirkung der chetitischen Kultur noch lange erhalten; sie tritt uns im [363] Bereich des Taurus und Amanos und weiter in ganz Nordsyrien in nicht wenigen über dies gesamte Gebiet zerstreuten Denkmälern und Skulpturen in chetitischem Stil entgegen. In ihnen wird auch die zur Zeit des Großreichs geschaffene Hieroglyphenschrift797 weiter verwendet, mehrfach zu einer Kursive weiterentwickelt; von der damals zur Schreibung des Chetitischen und der übrigen Sprachen benutzten Keilschrift dagegen findet sich jetzt keine Spur mehr. Ob freilich diese Hieroglyphen in der Sprache des Großreichs zu lesen sind oder eine oder mehrere ganz andersartige Sprachen wiedergeben, wird sich erst entscheiden lassen, wenn die Entzifferung wirklich einmal gelingen sollte798.

In größerer Zahl sind solche Denkmäler in der Landschaft Melitene am Euphratknie nördlich vom Taurus erhalten, durch die die Hauptstraße vom Tigrisgebiet ins innere Kleinasien und zum Halys führt. Hier hat sich der Name des alten, von den Assyrern immer weiter zurückgedrängten Charrierreichs Chanigalbat799 [364] auch in der Folgezeit noch erhalten; meist umfaßt er bei den Assyrern auch das nördliche Mesopotamien, vor allem das Gebirgsland des Kašijar (Ṭûr 'Abdîn)800. Aus der Hauptstadt Melidja (Melitene, jetzt Malatja) im Hügelland westlich vom Euphrat stammen außer Grabreliefs und Kultszenen zwei größere Reliefs, eine recht primitive Löwenjagd und eine etwas weiter fortgeschrittene Hirschjagd801. Auf beiden steht der Dynast in chetitischer Tracht, bartlos und mit aufgebundenem Haarschopf, mit gespanntem Bogen neben seinem gleichfalls bartlosen Wagenlenker; die hieroglyphischen Beischriften enthalten offenbar Namen und Titel, aber nicht in der für die Sonnenkönige des Großreichs verwendeten Schreibung. Somit sind es Denkmäler der Kleinkönige von Melidja aus der folgenden Zeit802.

Auch weiter westlich haben sich mehrfach chetitische Inschriften gefunden, so nebst zwei Löwen bei Palanga an dem oberhalb von Malatja in den Euphrat fließenden Tochmasu (Melas) und weiter aufwärts bei Gürün, ferner bei Izgin im Quellgebiet des Djîhân (Pyramos). Die westlich angrenzende Landschaft an der Gebirgskette des Antitaurus, mit dem großen Heiligtum der Ma in Komana am Saros, heißt bei den Griechen Kataonia, und Strabo berichtet, daß die Bewohner von den Älteren als ein gesondertes Volk betrachtet wurden, während sie zu seiner Zeit dieselbe Sprache sprachen wie die Kappadoker803; so wird man in ihnen vielleicht einen Rest der alten Chetiter suchen dürfen.

[365] Westlich an sie grenzen die Kiliker (Chilakku), die schon in der Ägypterzeit gelegentlich erwähnt804 und dann seit dem 9. Jahrhundert von den Assyrern oft bekämpft werden. Ihr Hauptsitz ist das wilde Gebirgsland des rauhen Kilikiens. Die zahlreichen Personennamen, die hier in den Inschriften der hellenistisch-römischen Zeit erhalten sind, scheiden sie scharf von allen anderen Volksstämmen Kleinasiens, zwischen denen sie offenbar ebenso isoliert stehn wie die verschiedenen Sprachgruppen des Kaukasus; daß auch sie vom chetitischen Kulturkreis beeinflußt sind, ergibt sich daraus, daß manche dieser Namen mit dem der Götter Tarku (Tarchu) und Sandon gebildet sind. Im 1. Jahrtausend haben sich die Kiliker weit nach Norden bis zum Halys und Argaeos ausgedehnt und dann nach dem Fall des Assyrerreichs ein ansehnliches Reich gegründet, das auch das ebene Kilikien, das alte Reich Que (s.u.), mit den Städten Tarsos und Adana sowie das Amanosgebiet umfaßt hat.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 362-366.
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