Kleinstaaten in Mesopotamien. Eindringen der westlichen (chetitischen) Kunst

[393] Unter diesen Verhältnissen sind auch in Mesopotamien zahlreiche halb oder ganz unabhängige Fürstentümer entstanden, teils unter aramaeischen Häuptlingen, teils unter assyrischen Statthaltern und Dynasten, die sich selbständig gemacht haben. Viele von ihnen lernen wir aus den Annalen der assyrischen Könige kennen, als seit dem Ende des 10. Jahrhunderts ihre Eroberungen wieder beginnen; von mehreren haben sich Bauten und Skulpturen erhalten, zum Teil mit assyrischen Inschriften. So hat in der Stadt Guzana auf dem Tell Chalâf im Quellgebiet des Chabûr (bei Resaina) ein Dynast Kapar, Sohn des Chanpan, sich einen Palast gebaut, bei dem er die mit Reliefs geschmückten Steinplatten aus den Bauten des 3. und 2. Jahrtausends verwendet und wahllos aneinander reiht. Weiter flußabwärts, in dem Hügel von 'Arabân, ehemals einer Stadt des Mitanireichs878, [393] liegen die Ruinen eines großen Palastes, dessen Erbauer sich Mušešninurta nennt, mit dem Titel »Priester« (sangu). Bei Tugultininurta II. im Jahre 884 und Assurnaṣirpal II. in den Jahren 883 und 878 entspricht ihm das Fürstentum Sa-Dikana879, dessen Herrscher bei Assurnaṣirpal Šulmanchaman heißt. Diesen Namen, mit dem Priestertitel, trägt auch der Großvater eines Priesters Mušešninurta auf einem Siegelzylinder besten assyrischen Stils, der sich in Tarbiṣ (j. Šerîfchân) bei Ninive gefunden hat880. Das wird also ein Nachkomme des Erbauers des Palastes von 'Arabân sein; denn daß dieser in ältere Zeit gehört, ergibt sich daraus, daß er keinen Oberherrn nennt; das wäre nach Assurnaṣirpal II. und schon nach Adadnirari II. nicht mehr möglich. Mušešninurta ist vielmehr ein selbständiger Dynast aus einem dem Namen nach offenbar assyrischen Geschlecht, dessen Stellung in derselben Weise auf dem erblichen Priestertum beruht wie die der Herrscher von Assur, die ja in älterer Zeit gleichfalls oft genug in ihren Bauinschriften lediglich den Priestertitel führen; die Nachkommen dieses Geschlechts werden dann von Assurnaṣirpal oder einem seiner Nachfolger in das Gebiet von Ninive überführt worden sein881.

Von den Skulpturen des Palastes von 'Arabân sind erhalten vier Türlaibungen von Kalkstein in Gestalt geflügelter Stiere mit Menschenkopf und ein Löwe mit aufgerissenem Rachen sowie das nahezu lebensgroße Reliefbild des Herrschers, dessen Kopf en face gebildet ist. Wie die Köpfe der Stiere und wie die babylonischen Könige und Götter trägt er einen langen, sorgfältig gepflegten Vollbart; das üppige Haupthaar liegt breit auf den Schultern. Im Stil berühren sie sich aufs engste mit [394] den Skulpturen Assurnaṣirpals II. aus dem Beginn des 9. Jahrhunderts, nur erscheinen sie noch etwas archaischer, die Muskulatur der Stierbeine ist noch überladener und plumper; auch das bestätigt, daß sie älter sind882. So bilden diese Denkmäler die Vorstufe der im engeren Sinne assyrischen Kunst: sie zeigen, wie die Bauformen der westlichen, chetitischen Kunst, die Verkleidung der Wände mit Steinplatten und die als gewaltige Tiere und Dämonen gestalteten Türlaibungen, die den Bau beschirmen und die bösen Mächte und Feinde abschrecken, jetzt auch in Mesopotamien eindringen. Eine bezeichnende Weiterentwicklung ist, daß diese Tiere, die in der Vorderansicht festaufgerichtet dastehn, jetzt auch in der Seitenansicht vier Beine (und daher insgesamt fünf) erhalten, was bei den chetitischen Gestalten noch nicht geschehen war. Aus Mesopotamien hat dann Assurnaṣirpal II. diese Kunst nach Assyrien übernommen.

Gar manche weitere gleichartige Skulpturen werden gewiß, wenn es einmal zu einer wirklichen Durchforschung des Landes kommen sollte, in den zahllosen Tells Mesopotamiens zum Vorschein kommen883. Ein Denkmal eines Kleinstaats können wir hier einreihen, ein Kalksteinrelief, das der »Statthalter von Šuach und Mari«, Šamašreš-uṣur, im 13. Jahre seiner Regierung gestiftet hat und das später als Beutestück in den Palast Nebukadnezars in Babel gekommen ist884. Es stellt den Dynasten, hinter dem sein Schutzgeist steht, in Verehrung vor dem Donnergott Adad und der Kriegsgöttin Ištar dar. Sein Herrschaftsgebiet ist das untere Euphrattal bis zur Grenze Babyloniens, die schon mehrfach [395] erwähnte Landschaft Šuach (o. S. 381) mit den Städten Anat, Suru und dem durch seine Asphaltquellen bekannten It (Herd. I 179 Ἴς, jetzt Hît); auch die alte Stadt Mari, in der Urzeit der Sitz einer eigenen Dynastie885, ist damit verbunden. In der beigefügten Inschrift redet Šamašreš-uṣur durchaus als selbständiger Fürst; er erzählt die Besiegung einer plündernden Räuberschar, die Wiederherstellung eines Kanals, die Erbauung einer dem Adad geweihten Stadt; ganz besonders erwähnt er die Palmenpflanzungen, die er überall angelegt hat, und die Einführung und Zucht von Honigbienen. Aber so selbständig er schaltet, so hat er doch nicht gewagt, den Königstitel anzunehmen, bleibt vielmehr offiziell Statthalter des Assyrerkönigs, den zu nennen er freilich keinen Anlaß sieht. Als dann das Reich wieder erstarkte und Adadnirari II. und dann im Jahre 884 Tugultininurta II. diese Landschaften durchzogen, hat Il-ibni, Statthalter von Šuach, ihnen den schuldigen Tribut gezahlt, ja er hat unter Assurnaṣirpal, was, wie dieser rühmt, zur Zeit seiner Vorgänger kein Statthalter von Šuach getan hatte, im Jahre 882, »um sein Leben zu retten«, den Tribut an Silber und Gold in Begleitung seiner Brüder und Söhne selbst nach Ninive überbracht.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 2/2, S. 393-396.
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